Wird Europa bald vor Kälte zittern?

Für die sichere Versorgung Europas im Winter muss ausreichend Gas in die ukrainischen Speicher gepumpt werden.
Für die sichere Versorgung Europas im Winter muss ausreichend Gas in die ukrainischen Speicher gepumpt werden.(c) REUTERS
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Die Ukraine fülle die Speicher für den Gastransit nicht genug, sagt Gazprom. Das stimmt nur bedingt, zeigen eigene Recherchen. Aber erstmals in der Geschichte kauft Kiew kein russisches Gas.

Wien. Selbst ohne die derzeit gefährliche Zuspitzung zwischen Russland und der Ukraine um die Halbinsel Krim wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann beide Länder auch auf dem Gassektor wieder in Streit geraten würden. Gewöhnlich beginnen Moskau und Kiew ja Mitte des Sommers in Sachen Gaseinkauf und -transit übereinander herzufallen und das vom Gasimport abhängige Europa damit in Schrecken zu versetzen.

So auch heuer. In der Vorwoche warf Kiew den Russen vor, keinen ausreichenden Druck in den Transitpipelines aufrechtzuerhalten, um die Nachfrage in Europa zu bedienen. Umgehend warnte Gazprom-Manager Viktor Valov: Moskau sei besorgt, dass die Ukraine derzeit nicht genug Gas in die unterirdischen Speicher pumpe. Bei einem kalten Winter werde Kiew die Versorgung Westeuropas wahrscheinlich nicht gewährleisten können.

Das in den Speichern der Westukraine eingelagerte Gas ist ein wichtiger Bestandteil bei der Versorgung Europas, weil es in einem kalten Winter eine höhere Nachfrage in der Ukraine selbst und in Europa zu bedienen hilft. Jährlich zwischen 1. Mai und 15. Oktober wird daher Gas in die Speicher gepresst.

Transit und Eigenbedarf sinken

Könnte also der Fall eintreten, dass Europa im kommenden Winter vor Kälte zittert? Recherchen der „Presse“ ergeben ein Bild, das weniger zur Panik Anlass gibt und stattdessen vielmehr epochale Umwälzungen offenlegt. Und das gleich in mehrerlei Hinsicht.

Zwar bleibt die Ukraine trotz ihres Bedeutungsverlusts als Transitland bis auf Weiteres jenes Land, durch das am meisten russisches Gas nach Europa fließt – konkret etwa zwei Fünftel des russischen Gasexports in die Länder außerhalb der Ex-Sowjetunion bzw. etwa 65 Mrd. Kubikmeter pro Jahr, was dem Achtfachen des österreichischen Jahresverbrauchs entspricht. Aber die Ukraine selbst, vor wenigen Jahren noch Gazproms größter Kunde, hat ihre sukzessive Abkehr von Moskau auf die Spitze getrieben und heuer zum ersten Mal in der Geschichte kein Gas mehr für den Eigenbedarf in Russland gekauft.

Was es an – konjunkturbedingt reduziertem – Import braucht, erhält es neulich aus der EU. 2015 waren von dort zehn Mrd. Kubikmeter gekommen, während aus Russland nur noch sechs Mrd. Kubikmeter gekauft wurden. Zum Vergleich: 2005 waren noch 56 Mrd. Kubikmeter aus Russland bezogen worden.

Was nun die Sicherung des Transits russischen Gases nach Europa betrifft, müsse man zwei Faktoren berücksichtigen, so Michail Gontschar, vormals Vizechef des ukrainischen Pipelinenetzes und nun Leiter des Kiewer Forschungszentrums für Energiesicherheit, Strategy XXI, auf Anfrage: „Man muss die Summe des ukrainischen Eigenbedarfs und des Transitvolumens in Verhältnis zu dem Volumen setzen, das im Sommer in die Speicher gepresst wird.“ Da Eigenbedarf und Transit sukzessive zurückgegangen seien, werde auch weniger in die Speicher gepumpt.

Der Koeffizient

Ein Beispiel: 2005, als die Ukraine noch einen hohen Eigenbedarf von 76,4 Mrd. Kubikmetern hatte, lieferte Russland gleichzeitig noch 121,5 Mrd. Kubikmeter über den ukrainischen Transit nach Europa. Damals pumpte die Ukraine 15,3 Mrd. Kubikmeter in die Speicher, was einen Koeffizienten von 7,73 ergab. Am geringsten war der Koeffizient im Jahr 2011 – nämlich 6,8. Aber selbst damals gab es kein Versorgungsproblem. Im Vorjahr dann betrug der Koeffizient gar über neun. Kritisch werde die Situation erst ab einem Wert von 5,8, weil bei einem kalten Februar der nötige Druck zur Entnahme aus den Speichern nicht mehr gegeben sei, so Gontschar.

Und dieses Jahr? Angesichts eines prognostizierten Eigenverbrauchs von 32,1 Mrd. m3 und eines prognostizierten Transitvolumens von 68 Mrd. m3 planen die Ukrainer, acht Mrd. Kubikmeter in den Speichern bereitzuhalten, wobei sie nur einen Teil davon hineinpumpen müssen, weil noch Vorräte von 2015 dort lagern. „Das ergibt einen Koeffizienten von acht, das ist völlig im Rahmen“, so Gontschar, „und wir haben noch über zwei Monate Zeit für das Befüllen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2016)

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