Die Wirtschaft zeigt sich erstaunlich robust. Die Briten geben weiter das Geld mit beiden Händen aus. Waren alle Warnungen vor dem EU-Austritt überzogen, oder folgt der große Einbruch noch?
London. Noch immer ringen die EU-Mitgliedstaaten mit den emotionalen und politischen Folgen des Brexit-Referendums. Das wurde am Freitag beim EU-Gipfel in Bratislava deutlich, der eigentlich bereits einen Fahrplan und ein Modell für die formelle Scheidung und gemeinsame Zukunft festlegen sollte. Die EU-Partner irritiert nicht nur, dass London keine Eile mit seinem Austrittsantrag hat, sondern auch, dass sich drei Monate nach dem Referendum der Himmel über Großbritannien noch nicht eingetrübt hat. Im Gegenteil: Die jüngsten Wirtschaftsdaten weisen nach oben, und der führende Brexit-Kämpfer, Ex-Justizminister Michael Gove, höhnte erst zu Wochenbeginn: „Die selbst ernannten Experten haben sich ganz schön lächerlich gemacht.“ Das ist freilich ein vorschnelles Urteil, denn noch sind die Briten ja nicht aus der EU ausgetreten. Bis dahin werden noch zahlreiche Herausforderungen und Hürden zu überwinden sein. Hier ein Überblick.
1 Von einer Rezession keine Spur, aber Investitionen brechen ein, die Konjunktur lahmt
Hauptsorge der Briten ist die Entwicklung der Wirtschaft. Entgegen den dramatischen Warnungen der meisten Fachleute weisen die meisten Daten nach oben. Die Autoindustrie meldete soeben die höchste Produktion seit 2004. Die privaten Konsumausgaben wachsen Monat für Monat, zuletzt um 1,7 Prozent im August. Zugleich spült der gefallene Kurs des Pfunds eine Rekordzahl an Touristen ins Land. Dennoch warnen insbesondere Wirtschaftsverbände vor einer frühzeitiger Entwarnung. Die British Chambers of Commerce erklärte diese Woche: „Obwohl einzelne Unternehmen vorerst noch starke Umsätze melden, deutet das allgemeine Bild auf eine scharfe Verlangsamung des Wachstums hin.“ Vor allem die anhaltende Unsicherheit beeinflusse Entscheidungen über Investitionen und Arbeitsplätze negativ. Zwar geht der Verband, wie auch andere Marktbeobachter, nun davon aus, dass Großbritannien eine Rezession vermeiden wird, hat aber seine Wachstumsprognose für 2016 auf 1,8 Prozent zurückgenommen.
2 Die weitere Anbindung an den EU-Binnenmarkt ist noch völlig offen
Der größte Unsicherheitsfaktor bleibt die ungeklärte Anbindung an den EU-Binnenmarkt. Zwar holte sich Brexit-Minister David Davis einen öffentlichen Rüffel von Premierministerin Theresa May, nachdem er im Parlament erklärte hatte, es sei „sehr unwahrscheinlich, dass Großbritannien im Binnenmarkt bleiben“ werde. Dies sei „eine Privatmeinung, nicht Regierungspolitik“, ließ May ausrichten. 45 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU. Erst diese Woche betonte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker aber erneut, „dass nur uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt haben kann, wer sich der Freizügigkeit der Personen und Arbeitnehmer verpflichtet fühlt“. Und genau da hat die britische Regierung ihr Problem.
3 Die Zukunft der Personenfreizügigkeit wird die Quadratur des Kreises sein
Die Masseneinwanderung sei das bestimmende Motive für den Brexit gewesen und könne nicht ignoriert werden, wie May wiederholt betont. Schatzkanzler Philip Hammond sprach bereits von Ausnahmeregelungen für besondere Fachkräfte aus der EU, etwa für Banker in der Londoner City. Das Innenministerium skizzierte die alternative Einführung von zeitlich limitierten Arbeitsbewilligungen „nach dem Bedarf unserer Wirtschaft“. Doch ob die bisherigen EU-Partnern solche Modelle akzeptieren würden, ist mehr als fraglich. Die Regierung in Warschau etwa sieht sich auch als Vertreterin der Interessen von Hunderttausenden polnischen Migranten in Großbritannien.
4 Noch mangelt es in London an Ressourcen und Plänen für die Verhandlungen
Da es der britischen Regierung bisher nicht gelungen ist, die Formel „Brexit means Brexit“ mit Inhalten zu füllen, bleibt auch der Termin unklar, wann mit Anrufung von Artikel 50 des EU-Vertrags der Startschuss für die Austrittsverhandlungen fallen wird. Bereits klargestellt hat May aber, dass sie nicht die Absicht hat, dem Parlament in dieser Frage ein Mitspracherecht zu gewähren. Der Apparat für die Verhandlungen wird weiterhin erst rekrutiert. Die Kompetenzverteilung zwischen Brexit-Minister Davis, Außenhandelsminister Liam Fox und Außenminister Boris Johnson bleibt umstritten. Obwohl die EU-Partner aufs Tempo drücken und die Wirtschaftsverbände sich ein rasches Ende der Unsicherheit wünschen, wird in naher Zukunft nichts geschehen. Frühestens im Frühjahr 2017 könnten die Gespräche mit Brüssel beginnen, heißt es in London – manche sprechen aber bereits vom Sommer oder gar Herbst nächsten Jahres.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.09.2016)