Milliardenmanipulationen bei Krankenkassen

(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu bekommen, werden in Deutschland Patienten auf dem Papier oft kränker gemacht, als sie sind. Nun hat der Chef der größten gesetzlichen Krankenkasse ausgepackt.

Berlin/Wien. Die Verunsicherung bei deutschen Patienten ist groß. Denn nun ist ein gigantisches Manipulationssystem der Krankenkassen aufgeflogen. So manipulieren Ärzte die Angaben über Patienten, damit die Krankenkassen mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds erhalten. Die Enthüllung stammt vom Chef der Techniker-Krankenkasse (TK), Jens Baas. Die Techniker-Krankenkasse ist mit Millionen Versicherten in Deutschland Marktführer. Baas erklärte im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Wir Krankenkassen schummeln ständig.“ Laut Baas machen die Krankenkassen und die Ärzte die Patienten auf dem Papier kränker, als sie es eigentlich sind. „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression. Das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall“, sagte er. Laut Baas bekommen die Ärzte von den Krankenkassen Prämien, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen.

Dies passiere vor allem bei Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und psychischen Krankheiten. In Deutschland habe sich die Zahl der Fälle von Depressionen in den vergangenen vier Jahren vervierfacht. „Und das sicher nicht nur, weil die Leute kränker werden und das Problem weniger stigmatisiert wird“, so Baas. Es werde laufend manipuliert. Das koste Milliarden, sagte der Chef der TK.

Ziel der Manipulationen ist es, dass Krankenkassen mehr Geld vom Gesundheitsfonds bekommen. Denn die Mitgliederstruktur bei den Krankenkassen ist sehr unterschiedlich. Manche Kassen haben mehr ältere und kränkere Mitglieder. Der Gesundheitsfonds soll dafür sorgen, dass die Risken zwischen den Krankenkassen ausgeglichen werden. Daher werden die Kassen mit kränkeren Patienten von den anderen unterstützt.

Die Aussagen von Baas sorgen für eine Welle der Empörung. Der Interessenverband der kommunalen Krankenhäuser fordert, dass die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnimmt. Die deutsche Ärztekammer verlangt, dass der Gesetzgeber einschreitet.

In Österreich nicht möglich

Auch in Österreich gibt es einen Risikoausgleich zwischen den Gebietskrankenkassen. Doch Manipulationen wie in Deutschland seien bei uns nicht möglich, weil bei uns das System anders funktioniere, sagt Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer im „Presse“-Gespräch. Doch der Ausgleichsfonds, mit dem defizitäre Krankenkassen unterstützt werden, sorgt auch in Österreich immer wieder für Diskussionen. So erklärte Oberösterreichs Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) im Sommer: „Das derzeitige System führt dazu, dass oberösterreichische Beitragszahler die defizitären Kassen, allen voran die Wiener Gebietskrankenkasse, subventionieren müssen. Sie zahlen damit die Rechnung für den Reformunwillen schlecht wirtschaftender Kassen.“ Denn die Unterstützungszahlungen gingen weit darüber hinaus, was unter dem Stichwort „strukturelle Nachteile“ zu rechtfertigen sei.

„Die Wiener Gebietskrankenkasse bedient sich aus dem Ausgleichsfonds der Krankenkassen, um ihre großzügigen Leistungen zu finanzieren. Tatsache ist nämlich, dass Wien eine deutlich höhere Ärztedichte und höhere Ärztehonorare als Oberösterreich hat“, sagt Pühringer. Die derzeitige Form des Solidarausgleichs zwischen den Kassen sei leistungs- und reformfeindlich, „weil die gut wirtschaftenden Kassen bestraft werden“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.