Glücksspiel: "Jeder von uns kann abhängig werden"

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Poker(c) FABRY Clemens
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Harvard-Professor Howard J. Shaffer und Österreichs führender Suchtexperte Michael Musalek im Gespräch: Warum es immer Spielsüchtige geben wird und Casinos trotzdem kein gutes Geschäft mit ihnen machen.

Kirsche, Kirsche, Stern. Sekundenbruchteile später läuft das nächste Spiel. Unermüdlich wird der Automat im Kaffeehaus mit Münzen gefüttert. Beim nächsten Mal kommt der große Gewinn, denkt der Spieler. Er muss kommen. Auch wenn es dauert. Stunden, Tage, Wochen. In seinem Wahn übersieht er, dass er schon zu lange auf der Verliererseite steht.

Realitätsverweigerung ist eines der Merkmale, das die Diagnose „Spielsucht“ ausmacht. Zehntausende Österreicher sind auf der krankhaften Suche nach dem Glück, so die Schätzungen. Genaue Studien über das Phänomen gibt es nicht. In den letzten Jahren hat eine wachsende Zahl an Onlinecasinos das Problem verschärft. Das Internet öffne Betrug und Spielsucht Tür und Tor, so das Argument der Gegner des „Online-Gambling“.

US-Spielsucht-Experte Howard J. Shaffer ist anderer Meinung. Shaffer, Professor an der Harvard Medical School, hat im Rahmen einer Kooperation mit dem österreichischen Onlinewettanbieter „Bwin“ dazu eine Studie erstellt, die Ergebnisse hat er vergangene Woche im Rahmen eines Symposiums in Wien präsentiert. Auch der Österreicher Michael Musalek beschäftigt sich als Institutsvorstand und ärztlicher Leiter des Wiener Anton Proksch Instituts mit dem Thema Spielsucht. „Die Presse am Sonntag“ traf die beiden zum Interview.

Vor einigen Wochen habe ich begonnen, Online-Poker zu spielen. Mittlerweile spiele ich jeden Tag, auch wenn ich die halbe Nacht auf eine gute Hand warten muss. Bin ich schon spielsüchtig?

Michael Musalek: Die Häufigkeit allein macht noch keine Abhängigkeit aus. Etwas anderes ist es, wenn Sie auf einmal vier, fünf Stunden pro Tag spielen müssen. Wenn plötzlich nur noch zählt, ob Sie Poker spielen oder nicht, dann würde ich sagen, dass Sie süchtig sind.

Howard J. Shaffer: Abhängigkeit ist eine Frage des Kontrollverlustes. Und der kommt Schritt für Schritt.

Wie wird jemand zum krankhaften Spieler?

Shaffer: Die meisten Menschen mit Spielsucht haben andere psychische Probleme, bevor sie das Spielproblem entwickeln. Wenn sie spielen, fühlen sie sich weniger ängstlich, weniger deprimiert, weniger isoliert.

Musalek: Viele wissen gar nicht, warum sie die Kontrolle verlieren. Der Grund ist aber meist genau diese Depression.

Shaffer: Wir wissen auch, dass es ein Gen gibt, das die Gefahr der Abhängigkeit erhöht. Aber das heißt nicht, dass Menschen mit diesen genetischen Voraussetzungen süchtig werden müssen.

Musalek: Was es aber nicht gibt, ist ein „Schutzgen“. Jeder von uns kann abhängig werden.

Welche Rolle spielt dabei das Angebot? Mit dem Internet müsste die Zahl der Spielsüchtigen ja steigen.

Musalek: Es lässt sich nicht so einfach sagen: Je mehr angeboten wird, desto mehr Abhängige gibt es. Wir wissen das etwa vom Alkohol. Während des Zweiten Weltkriegs waren die Alkoholikerraten sehr niedrig. Mit Kriegsende war wieder mehr Alkohol verfügbar, die Zahl der Süchtigen stieg an. In den Siebzigerjahren erreichte die Alkoholikerrate aber ein Plateau.

Shaffer: Mit der Zeit passen sich Menschen einfach an.

Stehen dem Spielsüchtigen im Internet nicht dennoch mehr Türen offen als in der realen Welt?

Musalek: Solange wir in dieser Welt leben, wird es Glücksspiel und Wetten geben. Und damit auch Spielsucht. Die größte Gefahr sind unkontrollierte Spielautomaten in Kaffeehäusern. Für unsere Patienten war das oft ein finanzielles Problem, weil man dort Geld von überall ausgeben konnte. Geborgt von Freunden, der Familie oder der Bank. Aber auch im Netz gibt es Möglichkeiten, das System zu betrügen.

Shaffer: Ich bin nicht sicher, ob eine Form gefährlicher ist als eine andere. In den USA ist die geschätzte Rate der pathologischen Spieler heute mit 0,7Prozent auf demselben Stand wie 1975. Auf der ganzen Welt wurden ähnliche Ergebnisse erzielt. So hoch ist im Übrigen etwa der Anteil an der Gesamtbevölkerung, der unter Kaufsucht leidet oder kokainabhängig ist.

Das klingt, als wäre immer der Spieler das Problem und nicht das Casino.

Shaffer: Die Verantwortung für pathologische Spieler teilen sich viele Akteure. Die Anbieter, die Spieler und die Gesellschaft. Wir alle sind beteiligt.

Musalek: Das hängt von der Phase ab, in der sich der Spieler befindet. Zu Beginn ist die Eigenverantwortung hoch. Je abhängiger er wird, desto mehr nimmt sie ab, weil er sich nicht kontrollieren kann.

Staaten wie Österreich rechtfertigen ihr Glücksspielmonopol damit, die Spieler so besser schützen zu können. Private Anbieter argumentieren hingegen, dass Monopole die Spieler gerade im Internet nur auf den Schwarzmarkt treiben. Wäre eine Liberalisierung des Glücksspiels sinnvoller?

Musalek: Als Therapeuten schätzen wir eine überschaubare Situation. Welche Unternehmen Glücksspiel anbieten dürfen, ist eine ökonomische und politische Frage. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass wir gute Verbindungen zu den Anbietern haben und diese eine eigene Abteilung für verantwortungsvolles Spielen aufbauen. Das wäre übrigens auch in der Alkoholindustrie richtig.

Das klingt jetzt aber doch eher nach Staatsmonopol.

Shaffer: Ich bin grundsätzlich gegen Monopolisten. In den USA hält der Staat etwa das Monopol auf Lotterien. Das ist auch nicht besser, als ob es Private machen würden, denen eben strenge Regeln auferlegt werden.

Musalek: Ein Monopol ist nicht der beste Weg, weil der Vergleich zu anderen fehlt. Aus therapeutischer Sicht wären ein paar wenige Anbieter das Beste. Man darf aber nie vergessen: Man verdient nicht viel Geld mit Süchtigen.

Wie kommen Sie zu der Überzeugung?

Musalek: Wirklich pathologische Spieler verdienen dafür zumeist nicht genug und sind zum Spielen oft schon auf das Geld von anderen angewiesen. Außerdem läuft man als Unternehmen immer Gefahr, in solchen Fällen vor Gericht ziehen zu müssen, um an sein Geld zu kommen. Der beste Spieler aus einem ökonomischen Blickwinkel kommt regelmäßig, über einen langen Zeitraum und spielt um mittlere bis hohe Einsätze. Das haben die Firmen gelernt.

Wie sollen die politischen Verantwortlichen mit dem Problem am besten umgehen?

Musalek: Der Staat hat die Wahl, entweder mehr Suchtkranke oder mehr Kriminelle zu produzieren. Als klassischer Wiener bin ich für einen „gemischten Satz“. So, wie es in Österreich etwa bei Cannabis gehandhabt wird. Es ist seit vielen Jahren verboten, aber bis zu einem gewissen Grad passiert nicht viel. Also ist die Rate der Cannabiskonsumenten gestiegen, auf der anderen Seite ist die Rate der Kriminellen gesunken, weil einfach nicht so streng bestraft wurde. Das ist genau, was man erreichen kann. Man kann nicht erreichen, dass es keine Süchtigen und keine Kriminellen in der Gesellschaft gibt.

Shaffer: Ich glaube, die Politik sucht noch nach der richtigen Balance zwischen Untätigkeit und Überreaktion. Ich setze auf den Faktor Zeit. Menschen werden auch mit Glücksspiel im Internet umgehen lernen.

Herr Shaffer, Kritiker werfen Ihnen vor, Ihre Studien kämen zu einseitigen Ergebnissen, weil sie von der Industrie bezahlt werden.

Shaffer: Das ist der Grund, warum wir keine Pressekonferenzen veranstalten oder Reports herausgeben. Stattdessen wird jede Studie in wissenschaftlichen Journalen publiziert, die ihre Beiträge nach strengen Kriterien auswählen. Die Frage nach dem Einfluss der Auftraggeber ist wichtig. Man muss sie aber genauso stellen, wenn der Staat der Auftraggeber ist. Jeder hat ein Interesse. Mein Interesse kommt nicht von der Industrie. Ich persönlich bin weder für noch gegen Glücksspiel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2009)

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