Finanzmarkt: Der englische Patient macht Sorgen

Britische Flagge
Britische Flagge(c) EPA (Andrew Parsons)
  • Drucken

Nach Griechenland und den anderen "Pigs"-Staaten verspielen auch die Briten das Vertrauen des Finanzmarkts. Die Gründe sind rasant steigende Schulden und Zweifel am früher erfolgreichen Wirtschaftsmodell.

Wien. Manche Dinge werden sich in Großbritannien wohl nie ändern: der Linksverkehr, die Europaskepsis und das noble Understatement der Bewohner. „Ein klein wenig unsicher“ seien sich die Ratingagenturen über die Lage der britischen Staatsfinanzen, räumte Nationalbankgouverneur Mervyn King am Dienstag ein. Aber natürlich sei die Bestnote für die Staatsanleihen nicht in Gefahr.

Da hatten die großen Ratingagenturen die Rute bereits ins Fenster gestellt: Wenn die neue Regierung nach den Wahlen im Mai nicht schleunigst ein drastisches Sparprogramm startet, ist es bald vorbei mit „Triple A“. Manche Analysten nennen Europas zweitgrößte Volkswirtschaft schon in einem Atemzug mit dem windigen Bankrotteur Griechenland.

Denn in keinem Staat des Kontinents wächst die Staatsverschuldung im Verhältnis zum Volkseinkommen so rasant wie in Großbritannien. Für heuer wird ein Defizit von zwölf Prozent erwartet. Ausgerechnet im Jänner sind die Einnahmen des Fiskus weggebrochen. In diesem Monat erzielt der Staatshaushalt traditionell Überschüsse, weil große Steuerpositionen fällig werden. Heuer begann das Jahr schon mit roten Zahlen.

Griechen sind sparsamer

Zugute kommt den Briten freilich ihre solide Ausgangslage. 2008 lag die Staatsschuldenquote noch bei 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), stieg 2009 auf 60 und klettert heuer in Richtung 80 Prozent. Das erinnert eher an Österreich als an Griechenland mit seinen 125 Prozent.

Was die Finanzmärkte aber nervös macht, sind die Aussichten. Der Privatsektor steckt laut Credit Suisse mit Schulden in Höhe von 222 Prozent des BIP viel tiefer in der Kreide als die geradezu sparsamen Griechen mit 78 Prozent – hier könnte eine Zeitbombe ticken. Erst im vierten Quartal 2009 hat sich Großbritannien, als Schlusslicht der großen Industrieländer, mit einem kümmerlichen Wachstum von 0,1 Prozent aus den Klauen der Rezession befreit.

Ein Rückfall ist nicht unwahrscheinlich. Das Gespenst des „kranken Mannes Europas“, als der England früher immer wieder galt, geht wieder um.

Zugleich hüten sich die Parteien vor der Wahl, einen radikalen Sparkurs anzukündigen – auch die konservativen Tories, die in Umfragen leicht verlieren und nicht mehr als haushohe Favoriten ins Rennen gehen. Ohne kräftiges Wachstum und Sanierung des Budgets aber könnte Großbritannien bis 2020 schlechter dastehen als Griechenland oder Italien.

Auf solche Szenarien reagieren die Märkte. Einen Prozentpunkt Risikoaufschlag mehr als die Deutschen muss der britische Staat für seine Anleihen schon zahlen. Fünf Prozent verlor das Pfund im Vergleich zum Dollar in den letzten Wochen, immerhin ein Prozent zum krisengebeutelten Euro.

Der Traum ist ausgeträumt

Das sind ungewohnte Schlagzeilen für die erfolgsverwöhnten Inselbewohner. Kein Wunder, dass dem „englischen Patienten“ auch psychologische Probleme diagnostiziert werden. Er steckt in einer Sinn- und Identitätskrise. Ein Jahrzehnt lang bewunderte alle Welt die Briten für das Wirtschaftsmodell von „New Labour“: eine liberale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, schwache Regulierungen für eine boomende Finanzindustrie, die mit ihren fetten Gewinnen in der Londoner City die Staatskassen füllte, Wissensgesellschaft statt rauchende Schlote, und das alles kombiniert mit einem gestärkten öffentlichen Sektor, der großzügig für Arbeitsplätze sorgt. Das ehrgeizige Ziel war, das Modell einer Wirtschaft ohne ungesunde Höhenflüge und tiefe Abstürze zu basteln.

Zumindest dieser Traum ist ausgeträumt. Statt Geld einzuspielen, mussten die Banken mit Staatsgeldern gerettet werden, das Wachstum ist unter- statt überproportional, und im „Public Service“ ist der Sparstift anzusetzen. Dennoch hüten sich die meisten Ökonomen und Politiker, das Erfolgsmodell von gestern heute zu verteufeln.

Vieles läuft in „UK“ anders als in klassischen Schuldnerstaaten. So gab es hier keinen durch billige Kredite angeheizten Bauboom wie in den USA oder Spanien. Gerade durch das zu geringe Angebot stiegen die Wohnungspreise und Mieten, und deshalb mussten sich die Haushalte verschulden. Und der Londoner Finanzdistrikt heizte zwar das Wachstum an, aber seine Bedeutung wird meist überschätzt (siehe Interview unten).

Zudem scheinen die Briten Optimisten zu bleiben: Der Konsum bleibt eine Stütze der Konjunktur. Von einer Flucht in den – gar nicht mehr so – sicheren Hafen des Euro wollen sie auch heute nichts wissen. Im Gegenteil, eine weitere Abwertung des Pfund könnte die Schmerzen des Patienten lindern helfen, und diese Möglichkeit möchte er sich nicht nehmen lassen. Eine bescheiden notierte, vielleicht bald schon unterbewertete Währung passt auch besser zum britischen Understatement.

Auf einen Blick

Die Staatsschulden wachsen in Großbritannien schneller als überall sonst in Europa. Zwar ist der Schuldenstand noch relativ niedrig, aber die Aussichten sind schlecht: wenig Wachstum und – wahlkampfbedingt – wenig politischer Wille zu einem Sparkurs. Die Finanzmärkte reagieren nervös: Das Rating ist in Gefahr, die Sicherheitsaufschläge steigen und das Pfund fällt zum Dollar. Das Erfolgsmodell von „New Labour“, das ein Jahrzehnt lang für starkes Wachstum gesorgt hat, steht nun zur Diskussion.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.02.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.