Wirtschaftswunder? Die Bombe tickt mitten in Israel

Wirtschaftswunder Bombe tickt mitten
Wirtschaftswunder Bombe tickt mitten(c) EPA (OLIVER WEIKEN)
  • Drucken

Auf den ersten Blick läuft ökonomisch alles bestens, noch floriert die israelische Wirtschaft. Aber weil zu viele Ultraorthodoxe und Araber nicht arbeiten, droht in zehn Jahren der Kollaps des Sozialsystems.

Matrix, das wissen Kinofreunde, heißt eine Science-Fiction-Trilogie unter Kultverdacht. Aber auch ein Besuch in der Firma „Matrix global“ weckt Visionen – über eine ferne, fremdartige Zukunft, in der sittsam uniformierte Frauen die Herrschaft über das Wirtschaftsleben übernommen haben. Die Computerfirma in dem israelischen Siedler-Städtchen Modi'in Illit beschäftigt 500 Angestellte, und es sind allesamt Frauen.

Sie programmieren und prüfen Software und tragen dazu knöchellange Röcke und bis zum Hals zugeknöpfte Blusen. Das ist weder Firmentracht noch Mode, sondern Ausdruck tiefer Religiosität: Hier arbeiten ultraorthodoxe Jüdinnen. Die meisten verdienen allein den Unterhalt für ihre Familien, während sich ihre Männer dem Studium der heiligen Schriften hingeben.

Firmen für fromme Frauen. So ist es auch mit Bracha Kolchin. Die 28-jährige Informatikerin schätzt das homogene Umfeld in einer Firma, die sich um ihre religiösen Bedürfnisse kümmert. Koschere Küchen stehen zur Verfügung und Zimmer, in denen die Mütter Milch abpumpen können. „Es ist für mich angenehmer, mein Büro nur mit Frauen zu teilen“, sagt Kolchin, die männlichen Kunden, die am Telefon mit ihr flirten wollen, den Hörer aufknallt. Obwohl sie in einem weltlichen Betrieb ein höheres Gehalt bekäme und bessere Aufstiegschancen hätte, will sie an ein Weggehen gar nicht denken: „Ich arbeite gern hier. Manchmal muss ich meine Kinder daran erinnern, dass es auch noch etwas anderes gibt auf der Welt.“

Hinter dem Idyll einer friedlichen Firma frommer Frauen steht einer der vielen Versuche der israelischen Regierung, eine tickende ökonomische Zeitbombe zu entschärfen: Die Beschäftigungsrate im gelobten Land ist mit 60 Prozent eine der niedrigsten der entwickelten Welt. Nicht etwa deshalb, weil so viele Menschen keinen Job finden (die Arbeitslosenrate ist mit 6,5 Prozent recht niedrig), sondern weil zu viele Menschen im erwerbsfähigen Alter gar keine Arbeit suchen.

Schuld daran sind zwei Minderheiten, die freilich rasant wachsen: die Araber und die ultraorthodoxen Juden. Bei den Arabern – sie machen ein Fünftel der 6,7 Mio. Staatsbürger aus – sind es die Frauen, die zu Hause bleiben. Bei den gottesfürchtigen Haredim, einem Zehntel der Bevölkerung, widmen sich die Männer lieber lebenslang dem Studium der Bibel und inbrünstigem Beten, als sich in den Arbeitsprozess zu integrieren. Der Druck auf die sozialen Sicherungssysteme steigt ständig, weil in beiden Gruppen weit mehr Kinder geboren werden als unter der säkularen jüdischen Mehrheitsbevölkerung. Auch Bracha ist vierfache Mutter – und schon wieder schwanger. Sie möchte noch viele Kinder haben, die sie zu guten Menschen machen will, die Gott dienen. Schon heute stellen Haredim und Araber knapp die Hälfte der Volksschüler. Wenn es so weitergeht, sind es in drei Jahrzehnten fast 80 Prozent. Die Minderheiten sind dann zur Mehrheit geworden.

Wissensbasiertes Wirtschaftswunder.
Doch die Bombe tickt leise. Denn auf den ersten Blick läuft ökonomisch alles bestens: Die Konzentration auf die Hightech-Industrie führte zu einem wissensbasierten Wirtschaftswunder. Seit Mai ist Israel Mitglied in der OECD, dem elitären Club der reichsten Staaten. Aber Finanzminister Yuval Steinitz ist sich der Gefahr bewusst: „Die Wirtschaft könnte noch zwei, drei oder fünf Jahre wachsen, ohne dass wir die Haredim und Araber eingliedern. Aber wenn wir jetzt nichts ändern, ist in zehn Jahren die Katastrophe da.“

Für die von Feinden umzingelten Israelis ist das eine ganz neue Erfahrung. Die Bedrohung kam bis jetzt immer von außen: die Ägypter, die Intifada, die Raketen der Hisbollah und der Hamas, die atomaren Drohgebärden aus dem Iran. Doch nun erwächst eine Gefahr für die Zukunft aus dem Land selbst: dass sich bald drei soziale Blöcke unversöhnlich gegenüberstehen – und der ohnehin nur rudimentäre Wohlfahrtsstaat unfinanzierbar wird. „Die existenzielle Bedrohung kommt von innen“, sagt Daniel Ben-David von der Uni in Tel Aviv. „Es geht nicht einmal um Araber gegen Juden. Es ist ein rein soziales Problem.“

Vielen Säkularen sind die arbeitsscheuen Haredim in ihren unverwechselbaren schwarzen Gewändern freilich schon lange ein Dorn im Auge. Sie müssen nicht drei Jahre lang zum Militär wie die anderen Juden. Ihre Kinder gehen in eigene Schulen, in denen sie die halbe Bibel auswendig lernen, aber keinen oder nur sehr kursorischen Unterricht in Mathematik und Englisch erhalten – nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine Karriere im 21. Jahrhundert. Zwar gibt es bei den staatlichen Zuschüssen leichte Abschläge für Abweichungen vom nationalen Lehrplan, aber das wird durch milde Gaben frommer Juden aus der Diaspora wieder wettgemacht.

Das Potenzial der Rabbis. Vor allem aber erhalten die Haredim großzügige Sozialhilfe, wofür ihre politischen Lobbys sorgen: die mehrheitsbeschaffenden religiösen Kleinparteien. Drei Viertel der „Gottesfürchtigen“ tragen weltlich betrachtet nichts zum Gemeinwohl bei. „Sie studieren die Bibel, aber sie können nicht alle Rabbis werden. Wir brauchen nicht zehntausende Rabbis!“, ärgert sich Mordechai Ish-Schalom, Handelsattaché der Israelischen Botschaft in Wien.

Dabei biete gerade der ultra-religiöse Sektor ein riesiges Potenzial an gut geschultem Personal: „Die Auslegung der Schriften ist eine Wissenschaft, sie schärft das logische Denkvermögen.“ Mit einem Jahr Nachschulung, meint Ish-Shalom, „könnten wir hoch produktive Software-Ingenieure aus ihnen machen“. Wenn sie nicht lieber auf das Kommen des Messias warten würden.

Premier Benjamin Netanjahu versuchte es in seiner Zeit als Finanzminister von 2003 bis 2005 mit Zwang. Mit dem Argument, dass Pflichten und Rechte im Staat gerechter verteilt sein müssten, kürzte er das Kindergeld, wovon die kinderreichen Haredim-Familien am stärksten betroffen waren. Das zeigte Wirkung – wenn auch bislang vor allem bei den Frauen.

Früher finanzierte Bracha ihre Familie mit gelegentlichen Programmieraufträgen, die sie von zu Hause aus bearbeitete. Viel braucht sie ja nicht: „Wir sind sehr bescheiden und kommen auch mit wenig Geld zurecht.“ Aber mit der Kürzung der Beihilfe musste sie sich eine fixe Stelle suchen. Die Gründung der „Matrix global“ empfand sie als Rettung in der Not. Dem Unternehmen kommt ein staatlich gefördertes Programm zugute, das speziell auf die ultraorthodoxe Bevölkerung abzielt: die Unterstützung jener Fabriken und Büros, die Haredim-Frauen die Scheu vor dem weltlich verdorbenen und von fremden Männern dominierten Arbeitsleben nehmen.

Araberinnen sitzen fest. Fünf Jahre lang werden Firmen monatlich mit Zuwendungen von je 1000 Schekel (umgerechnet 200 Euro) pro Arbeitnehmer subventioniert. Zudem werden die Kosten von Intensivkursen übernommen, um den Mangel an Erfahrung bei den zumeist sehr jungen Mitarbeiterinnen auszugleichen. Das Programm startete im Jahr 2005. Seither wurden 6000 Arbeitsplätze geschaffen. Zehntausende mehr sollen es werden, plant das Wirtschaftsministerium.

Wegen des Erfolgs wird das Konzept nun immer stärker auf die zweite Problemgruppe ausgedehnt: die arabischen Frauen. Nur 18 Prozent von ihnen arbeiten, die Hälfte davon Teilzeit. Minister Steinitz glaubt zu wissen, warum: Die niedrige Beschäftigungsrate und die damit verbundene Armut habe mit „kulturellen Hindernissen“ zu tun – mit dem Glauben der Araber, dass Frauen in den eigenen vier Wänden bleiben sollen oder zumindest in ihrer Siedlung, wo es keine Arbeit gibt.

Diese Aussage löste Ende vorigen Jahres einen Sturm der Entrüstung unter Arabern und Frauenrechtsgruppen aus. Ihr Argument: Selbst in weit rückständigeren Teilen der arabischen Welt wie Saudi-Arabien oder dem Oman arbeiten mehr Frauen als in den arabischen Siedlungen in Israel. Das Problem müsse also andere Wurzeln haben: die Unterdotierung der arabischen Schulen, den Ausschluss der Araber vom öffentlichen Dienst, das Fehlen finanzieller Unterstützung für das Gedeihen ihrer Enklaven.

Tatsächlich gibt es in den arabischen Siedlungen keine Industrie, keinen Tourismus, keine wirtschaftlichen Perspektiven. Wer arbeiten will, muss pendeln. Das scheitert oft daran, dass es keine Busse und keine Kindertagesplätze gibt – die Frauen sitzen fest.

Diese Sicht wird inzwischen auch von vielen Juden geteilt. Politiker und Wirtschaftseliten diskutierten im Juni beim „Caesarea Forum“ über den unterentwickelten arabischen Sektor, der „seit mehreren Jahrzehnten unter institutioneller Diskriminierung leidet“. Der renommierte Publizist Aluf Benn schrieb im Februar in „Haaretz“: „Die Araber wollen arbeiten, aber es ist schwer für sie, die Mauern der Isolation und Diskriminierung zu durchbrechen, die von der jüdischen Mehrheit errichtet wurden.“ In der Isolation erhalten sich freilich auch jene „kulturellen Hindernisse“, die der Finanzminister zu Recht beklagt – ein Teufelskreis.

Doch paradox genug: So wie beim heillos blockierten Friedensprozess steht hinter diesem ganzen Bedrohungsszenario eine berauschend positive Zukunftsperspektive. Wenn es die israelische Wirtschaft so weit gebracht hat, ohne dass ein Drittel der Bevölkerung dazu beitragen wollte oder durfte – dann lässt sich leicht erahnen, welches Potenzial an Talent und Motivation in dem Land und der Region darauf wartet, geweckt und befreit zu werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.