Akademiker verlassen EU-Krisenländer

Akademiker verlassen EUKrisenlaender
Akademiker verlassen EUKrisenlaender(c) Die Presse
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Neue Emigrationswelle: Junge topqualifizierte Italiener, Griechen und Iren wandern in Massen aus ihren tief verschuldeten Heimatstaaten aus. Die meisten lassen sich im EU-Ausland nieder, kaum einer will zurück.

Wien. Matteo S. ist der Prototyp des neuen Emigranten aus einem wirtschaftlich kriselnden EU-Land: jung, motiviert, flexibel, topausgebildet. Und: In seine Heimat will er nie mehr zurück. Denn der Telekommunikationsexperte aus Rom will forschen. „Nach zig Wettbewerben wurde mir klar: Wenn du nicht die richtigen Leute kennst, hast du in Italien keine Chance.“ So packte er seine Koffer. Jetzt arbeitet er an der TU Eindhoven in den Niederlanden. „Kein Vergleich zum verkrusteten, nepotistischen italienischen Uni-System!“, schreibt er begeistert in einem Blog der „Repubblica“.

Seit Monaten ruft die römische Tageszeitung Italiener weltweit auf, ihre Geschichten online zu erzählen. Fast 25.000 haben schon geantwortet. Ziel der ungewöhnlichen Umfrage: jenen „unsichtbaren Auswanderern“, die in Scharen das seit Jahren kriselnde Belpaese verlassen, ein Gesicht zu geben. Denn genaue Zahlen über sie gibt es nicht. Aus einer neuen Studie der deutschen Bertelsmann-Stiftung geht aber hervor, dass in den letzten fünf Jahren kein anderes Land unter den 15 „alten“ EU-Staaten so viele Wissenschaftler verloren hat wie Italien (siehe Grafik). Es sind meist 25- bis 40-Jährige, die auswandern, ergibt die „Repubblica“-Umfrage. 60 Prozent von ihnen zieht es ins EU-Ausland, viele nach Großbritannien, Frankreich, Deutschland oder in die Benelux-Länder.

Mit ihren Urgroßvätern, die im letzten Jahrhundert ebenfalls im Norden ihr Glück gesucht haben, haben diese neuen Emigranten aber wenig gemeinsam: Die Mehrheit hat einen Uni-Abschluss, kaum jemand sendet Geld nach Hause, fast keiner will zurück. „Im Ausland sind das Leben und Arbeiten einfacher. Italien ist nur noch für den Urlaub attraktiv“, meint auch Informatikerin Agata Ciabattoni, die an der Wiener TU forscht.

Bürokratie und Vetternwirtschaft

Italien verliert seine besten Köpfe – und ist selbst schuld daran: Investitionen in Wissenschaft und Forschung liegen weit unter dem EU-Schnitt, Unis leiden an schwerfälliger Bürokratie, Vetternwirtschaft, es gibt kaum Aufstiegschancen. Junge Wissenschaftler verdienen knapp 1000 Euro im Monat, auch nach jahrelanger Arbeitserfahrung.

Das Land ist zum europäischen Negativbeispiel geworden: „Die italienische Situation umfasst alle Probleme, die andere Länder vermeiden sollten, wenn sie nicht ihre besten Köpfe verlieren wollen“, schrieb bereits 2001 die Wissenschaftszeitschrift „Nature“. Kein Wunder, dass Italien kaum ausländische Akademiker anzieht.

Ähnlich hoffnungslos ist es in Griechenland. Es verliert Jahr für Jahr mehr als 6000Spitzenkräfte. Hochgerechnet auf die Bevölkerungsgröße ist Griechenland damit EU-Schlusslicht. Die Krise im bankrotten EU-Staat hat die Lage verschlimmert: „Braindrain ist kein neues Phänomen. Die Krise beschleunigt aber den Exodus“, sagt Lois Labrianidis, Professor an der Mazedonischen Universität in Thessaloniki, zur „Presse“. Tatsächlich sind seit Jahresbeginn die Anfragen für Jobs im Ausland um 20 Prozent gestiegen, belegen Statistiken der öffentlichen Jobvermittlungsbehörde.

Ähnlich wie in Italien hat die neue Auswanderungswelle mit jener aus den 1960er-Jahren wenig gemeinsam. „Vor allem junge Akademiker aus der Mittelschicht verlassen das Land“, sagt der Ökonom. Die meisten würden nicht zurückkehren. Neben Bürokratie und Korruption „verjagten“ sie die unterentwickelte Wirtschaftsstruktur und der Mangel an Innovation: Für Topqualifizierte gebe es kaum Jobs. Hauptziel der meisten Exilgriechen: Großbritannien.

Die britische Insel zieht aber auch wieder altbekannte Einwanderer aus der Nachbarschaft an: die Iren. In Massen verlassen junge Menschen den heute schwer von der Krise getroffenen Ex-Tigerstaat. 70.000 Iren wollen bis Jahresende auswandern, bis 2015 könnten es 200.000 sein, zitiert „The Globe and Mail“ eine im Sommer publizierte Studie. Seit 2009 ist Irland wieder ein Auswandererland – erstmals seit 13 Jahren. Diese neue Diaspora, in der Akademiker dominieren, zieht es in dieselben Länder wie ihre weniger gebildeten Vorfahren: Großbritannien, gefolgt von den USA und Kanada.

Investition in junge Menschen

(c) Die Presse

Für Italien, Griechenland und Irland wird der Verlust ihrer besten Köpfe ökonomisch verheerende Folgen haben. Wie kommt es aber, dass Großbritannien, das ja auch unter der Krise leidet, Europas Akademiker weiterhin anzieht? „Britische und US-Unis werben offensiv um gebildete Jugendliche aus der ganzen Welt“, erklärt Labrianidis. „Sie investieren in sie. Denn sie wissen, dass sie langfristig davon profitieren werden.“ Und vor allem: „Sie vermitteln den jungen Menschen: Ihr seid es wert.“

Auf einen Blick

Exodus der besten Köpfe. Seit Jahren verlassen junge italienische und griechische Akademiker wegen mangelnder Berufschancen ihre Heimatländer. Die Finanzkrise hat diesen Exodus nun beschleunigt. Im von der Krise schwer gezeichneten Ex-Tigerstaat Irland hingegen müssen junge ausgebildete Iren erstmals seit Jahrzehnten wieder Jobs im Ausland suchen. Hauptdestination ist für die meisten das EU-Ausland.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.11.2010)

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