"The Spirit Level" - Lieber gleicher statt immer reicher

Armutsschere Lieber gleicher statt
Armutsschere Lieber gleicher statt(c) Bilderbox
  • Drucken

Ein britisches Forscherduo behauptet: Mit mehr Gleichheit seien alle besser dran. Die neue "Bibel der Linken" hat freilich schnell ihre Ketzer gefunden: Böse Verrisse füllen ganze Bücher.

Jakob hat es nicht leicht im Leben. Er verdient einen kärglichen Lohn als Hilfsarbeiter. Sein Chef schnauzt ihn an, als wäre er der letzte Dreck. Ständig lebt er mit der Furcht, dass man ihn feuert. Mit der Miete ist er jetzt schon im Rückstand. Fällt der Kühlschrank aus oder ein Zahnarztbesuch an, muss er einem Kredithai Wucherzinsen zahlen. Er fühlt sich ohnmächtig, und seinen Zorn darüber lässt er an seiner Familie aus. Sein Sohn ist schlecht in der Schule. Die Tochter stopft sich mit Fast Food voll und ist fett wie eine Tonne.

Anna hat diese Sorgen als arrivierte Unternehmensberaterin nicht. Dafür hat sie andere. Der Stress setzt ihr zu. Wenn sie beim nächsten Projekt nicht brilliert, wird sie nicht befördert. Sie flüchtet zum Psychiater. Niemandem vertraut sie. Schon gar nicht ihren Nachbarn, die höhnisch auf sie herabblicken, seit sie einen neuen Jaguar haben. Zudem zieht eine Einbrecherbande durchs Villenviertel, und ausgerechnet jetzt fällt die Alarmanlage aus. Anna hat Angst. Da hilft nur noch der Griff zur Cognac-Flasche.

Die Theorie über alles. Keine Sorge: Jakob und Anna sind frei erfunden. Es sind Lesegespenster. Sie tauchen hinter Dutzenden von Punktediagrammen und Trendlinien auf, die von den britischen Forschern Richard Wilkinson und Kate Pickett zu einem Bestseller kompiliert worden sind, garniert mit flammenden Appellen zu mehr Verteilungsgerechtigkeit. Der unschuldige Titel lautet: „Die Wasserwaage“. Der Untertitel macht klar, worum es geht: „Warum gleichere Gesellschaften fast immer besser dran sind“. Oder, wie es die reißerische deutsche Übersetzung auf den wunden Punkt bringt: „Gleichheit ist Glück“. Die Wasserwaage wird, geerdet mit tonnenweisem Zahlenmaterial, an 23 der 50 reichsten Nationen und an die US-Bundesstaaten angelegt.

Und siehe da: Je ungleicher die Einkommen verteilt sind, desto mehr gesundheitliche und soziale Probleme haben die Bewohner eines Landes. Ob früher Tod, schlechte Ausbildung, Gewalt, Drogen, Fettleibigkeit, psychische Leiden oder verlorenes Vertrauen – all das, so die kühne These, kann sich eine Gesellschaft ersparen, wenn sie für gleicher verteilte Einkommen sorgt.

Jakob und Anna, das sind wir also angeblich alle. Als Vorbilder sollten die skandinavischen Staaten und Japan dienen, am schlechtesten dran sind die USA, Großbritannien und Portugal. Was Wilkinson und Pickett abliefern, ist soziologisch, ökonomisch und politisch nicht weniger als eine neue „Theory of everything“. Dabei sind die beiden nur Epidemiologen, Vertreter einer Wissenschaft, die kaum jemand kennt (sie beschäftigt sich mit Gesundheit und Krankheit auf der Ebene ganzer Nationen). Wilkinson ist ein emeritierter, abgeklärter Professor, Pickett seine junge, streitbare Adjutantin. Selten hat ein Sachbuch, aus dessen Seiten die trockene Statistik staubt, so viel Staub aufgewirbelt – wenn auch in Zeitlupe.

Die Gespenster von Jakob und Anna gehen um – vor allem das von Anna. Wie repräsentativ ist ihr Bild? Denn dass jemand wie Jakob Probleme hat, ist ja nicht unbedingt neu. Aber die neue These lautet: Jeder in der Gesellschaft profitiert von mehr Gleichheit. Oder fast jeder, wie die Autoren mittlerweile präzisieren – für das oberste ein Prozent der Superreichen könnten sie nicht sprechen. Aber für Anna sehr wohl: für die obere Mittelschicht mit ihrer Statusangst, die sie krank macht.

Was die Geschichte lehrt. Damit soll das Thema Ungleichheit ins Zentrum der Gesellschaft rücken – raus aus der linken Ecke, wo es vor sich hin dümpelt. Denn seit Menschengedenken empfinden es die einen als ungerecht, wenn die Schere zwischen Reich und Arm auseinandergeht. Die anderen halten es für viel ungerechter, wenn ihnen der Staat immer mehr Geld wegnimmt – eine klassische Pattstellung. Die neue Idee ist: Vergessen wir die Gerechtigkeit. Aus purem Eigennutz sollte jeder wollen, dass der Reichtum gleichmäßiger verteilt wird.

Durch Egoismus zu einem gesamtgesellschaftlichen Optimum finden: Das ist das Forschungsprogramm der Ökonomen in einer freien Marktwirtschaft. Für sie ist die „Wasserwaage“ die größte Provokation. Denn sie sangen stets das Lob der Ungleichheit: Sie bietet Vorbilder, spornt zur Leistung an, setzt unternehmerische Energie und Kreativität frei. Nur in einer dynamischen Volkswirtschaft voller Chancen und Risiken für den Einzelnen wird Reichtum geschaffen, der verteilt werden kann. Zu viel Gleichmacherei aber – etwa durch stark progressive Besteuerung oder massive Transfers – mache faul und antriebslos. Dahinter steckt die Erfahrung der Geschichte: Perioden starken Wachstums waren stets verbunden mit vorübergehend steigender Ungleichheit. Das zeigte der Ökonom Simon Kuznets am Beispiel der Industrialisierung der USA.

Natürlich kennt Wilkinson als gelernter Wirtschaftshistoriker diese Zusammenhänge. Wohlweislich beschränken er und Pickett ihre Analyse auf reiche Nationen (auch wenn sie gerne mal Kuba und die DDR loben und damit zeigen, wo ihr politisches Herz schlägt). Für ihre 23 Staaten ist zumindest umstritten, ob wachsende Ungleichheit noch mit neuen Wachstumsschüben Hand in Hand geht. Und selbst wenn: Steigt auf diesem Niveau das Pro-Kopf-Einkommen, verbessert sich die Gemütslage der Bevölkerung nur mehr relativ wenig. Ökonomen nennen das den abnehmenden Grenznutzen: Wer schon sehr viel hat, wird nicht wesentlich zufriedener, wenn er noch ein wenig dazubekommt. So weit, so intuitiv.

Wilkinson und Pickett aber gehen aufs Ganze: Mehr Wohlstand bringe in den westlichen Gesellschaften überhaupt keinen sozialen Nutzen mehr. Als Nachweis dient ihnen die Lebenserwartung, die im betrachteten Länder-Sample tatsächlich nicht mehr mit dem Pro-Kopf-Einkommen korreliert.

In Griechenland werden die Menschen sogar älter als in den wesentlich reicheren USA. Daraus schließen die Autoren kühn, dass eine Erhöhung des Durchschnittseinkommens auch bei allen anderen Parametern nichts bewirken kann. Warum aber sollte es etwa den Portugiesen gar nichts bringen, wenn sie wie die Norweger dreimal mehr pro Kopf verdienten? Auch Jakob wäre einige Sorgen los, hätte er mehr Geld am Konto. Wie viel sein Lieblingsfußballer oder irgendein Investmentbanker verdient, dürfte ihm weniger Kopfzerbrechen bereiten.

Für Wilkinson und Pickett aber lassen sich die Probleme der relativ Armen in einer absolut reichen Gesellschaft nur lösen, wenn man die Abstände verringert. Das kann auch heißen: Jakob bekommt gar nichts dazu, dafür verdienen der Fußballer und der Investmentbanker deutlich weniger. Dass damit alle Übel zu lösen sind, erscheint gelinde gesagt kontra-intuitiv.

Aufs Wachstum vergessen. Zumal damit die Bedeutung des Wachstums unter den Tisch fällt: Der technologische Fortschritt führt unweigerlich zu einer höheren Produktivität. Durch neue Maschinen und verbesserte Abläufe werden weniger Arbeitskräfte gebraucht. Nur Wachstum (hier und heute in der Höhe von ein bis zwei Prozent) hält den Bedarf an Humankapital konstant. Stagniert die Wirtschaft, bedeutet das mehr Arbeitslose. Jakobs Probleme nehmen aber unbestritten massiv zu, wenn er seinen Job verliert.

Bei diesen fundamentalen Einwänden ist es nicht geblieben. Wilkinson/Pickett lassen etwa kulturelle Eigenheiten als Erklärung nicht zu. Die Amerikaner dürfen nicht einfach deshalb mehr Übergewichtige haben, weil sie zu gerne Hamburger und Pommes Frites essen. Die Schweden dürfen nicht deshalb so stark zusammenhalten, weil sie bis vor Kurzem eine sehr homogene, geschlossene Gesellschaft waren. Nein, gleich oder ungleich allein entscheidet über Wohl oder Wehe.

Auch wenn die Korrelationen der Überprüfung standhalten: Es bleibt die Frage, was hier eigentlich was bewirkt. Schwangere Teenagerinnen oder schlechte Schulleistungen können die Folge von Ungleichheit sein. Aber auch umgekehrt: Wer schlecht in der Schule war, bekommt keinen Job, wer mit 16 schon ein Kind hat, sucht sich erst gar keinen. Beides erhöht die Ungleichheit in der Gesellschaft. Sie ist dann Folge, nicht Ursache sozialer Probleme.

Viel hängt zudem von der Länderauswahl ab. Sie schürte manchen Verdacht: Die Forscher hatten von den 50 reichsten Ländern jene weggelassen, die weniger als drei Millionen Einwohner haben (um Steueroasen herauszuhalten) oder von denen es keine aktuellen UN-Daten zur Ungleichheit gibt. Dadurch fehlen Hongkong, Tschechien und Slowenien – Länder, mit denen die Ergebnisse nach Ansicht mancher Kritiker ganz anders aussähen.

Was die akademischen Kollegen besonders nervt, ist der Heureka-Pathos, mit dem die Epidemiologen das Laienpublikum beglücken. Ob Ungleichheit die Lebenserwartung senkt oder die Mordrate erhöht, wurde bereits in zahllosen widersprüchlichen Studien diskutiert. Alle anderen Kausalitäten bringen Wilkon/Pickett das erste Mal aufs Tapet – mit dem Anspruch, sämtliche Rätsel in einem Aufwasch gelöst zu haben. Kein Wunder, dass die bescheideneren Kollegen aufbegehren.

Das Ergebnis wird so oder so mit manchen Mythen und Wunschdenken aufräumen – auf beiden Seiten. Denn zumindest das Dogma mancher Ökonomen, wachsende Ungleichheit sei immer und überall ein Segen für die Gesellschaft, ist ins Wanken gekommen. Das zeigt die Sache mit den Patenten.

Nordische Kombinierer. Offenbar macht Gleichheit per se weder kreativer noch träger. Sogar Peter Saunders, einer der heftigsten Kritiker der neuen Theorie, gesteht in seiner Streitschrift für den liebsten Thinktank der britischen Tories freimütig ein: „Es scheint, dass eine Menge Verteidiger der freien Marktwirtschaft ebenso unrecht haben, wenn sie argumentieren, dass eine radikale Einkommensumverteilung notwendigerweise Unternehmergeist und Innovation abwürgt.“ Zumindest in Skandinavien geht beides Hand in Hand – die nordische Kombination.

Diese Dogmendämmerung in beiden Lagern führt zu einer stillen Gegenrevolution zu Wilkinson und Pickett: zum Eingeständnis, dass sich die Frage, wie gleich oder ungleich Einkommen verteilt sein sollen, eben doch nicht wissenschaftlich lösen lässt. Sie bleibt eine politische Frage, über die in einer Demokratie die Wähler entscheiden. Die Forscher mögen erforschen, warum Schweden für Umverteilung optieren und Amerikaner sich dagegen wehren, eine Krankenversicherung für alle zu finanzieren. Und es steht ihnen frei zu folgern, als wie gesund oder krank eine Gesellschaft sich dadurch erweist.

Derweilen wird sich Jakob weiter abstrampeln, damit er Geld in der Tasche hat. Für Anna wird ein erfülltes Leben wichtiger sein als die nächste Gehaltserhöhung. Immer mehr Menschen können so denken wie Anna. Und das ist, jenseits aller Klagen über unsere dysfunktionale Gemeinschaft, doch vor allem eines: gut so.

„The Spirit Level“
(Die Wasserwaage) ist der Originaltitel des heftig umstrittenen Werks.

„Gleichheit ist Glück“ lautet die deutsche Übersetzung.

Richard Wilkinson
ist ein britischer Gesundheitsforscher und Wirtschaftshistoriker. Vor seiner Emeritierung lehrte er an der Universität von York.

Kate Pickett
ist Professorin für Epidemiologie an der Uni York.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.