Der Türkei läuft die Konjunktur davon

(c) AP (OSMAN ORSAL)
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Während die EU-Staaten gegen die Schuldenkrise kämpfen, droht der Wirtschaft am Bosporus eine Überhitzung. Nach der Wahl dürfte die Regierung auf die Bremse steigen.

Ankara/N-ost. Seit Monaten ist der Typ in dem komischen Strandkostüm schon am Meer. Von Plakaten in der Metro verrät er den Menschen, die zur Arbeit fahren, wie sie es auch dazu kommen: „Mit einem Kredit der Denizbank ist das Leben am Meer schön.“ Diesen erhält man – der Herr verrät es ebenfalls –, indem man sein Handy zückt, „Kredim“ (Mein Kredit) schreibt und die Ausweisnummer und die SMS abschickt.

So einfach ist das mit einem Kredit in der Türkei auch für jene, die nicht Kunden der Bank sind. Keine Papiere, kein Einkommensnachweis, Sicherheiten, Kreditversicherung, Bürgen etc. Vor Kurzem hat der „Strandboy“ den Kreditrahmen auf ca. 6000 Euro angehoben. Das wäre nicht so schlimm, wäre die Türkei nicht ein Land mit einem Mindestlohn von knapp über 300 Euro netto. Außerdem sind Türken, die sich auf diese Weise einen Kredit besorgen, ohnehin schon über ihre Kreditkarten verschuldet. Denn in der Türkei ist es inzwischen üblich, von der Hose bis zum Fernsehapparat viele Dinge in Raten mit Kreditkarte zu zahlen, womit der Kredit quasi vom Verkäufer kommt. Das verleitet dazu, noch öfter zur Kreditkarte oder zum Handy zu greifen, um die Ausgaben zu decken.

Diese Art der Geldvermehrung in den Taschen der Konsumenten ist eines der Geheimnisse hinter dem enormen Wachstum der türkischen Wirtschaft und den Gewinnen der Unternehmen, insbesondere der Banken.

Kaum ein Land hat in den vergangenen zehn Jahren einen so rasanten Aufstieg geschafft wie die Türkei – ungeachtet des Einbruchs während der Wirtschaftskrise. Nach einem Rückgang von 7,4 Prozent im Jahr 2009 ist die türkische Wirtschaft im Vorjahr um 8,2 Prozent gewachsen und hat damit das Vorkrisenniveau erreicht.

Im Ranking der Volkswirtschaften hat sich die Türkei von Platz 25 auf 16 vorgearbeitet. Sie ist damit in den exklusiven Klub der G-20-Staaten aufgestiegen. „Die Türkei gehört zu den am dynamischsten wachsenden Volkswirtschaften“, sagt Gregor Holek, Experte für Schwellenländer bei Raiffeisen Capital Management. Mit Staatsschulden von weniger als 40 Prozent des BIP und einem Haushaltsdefizit von unter drei Prozent steht die Türkei besser da als die meisten EU-Staaten. Premierminister Tayyip Erdogan, der in der Wirtschaftspolitik einen marktorientierten Reformkurs steuert, ist der Sieg bei den Parlamentswahlen am Sonntag sicher.

Konsumfreudige Bevölkerung

Getragen wird der Boom am Bosporus vor allem durch einen starken Binnenmarkt mit einer jungen, konsumfreudigen Bevölkerung. Aber auch die Exportwirtschaft brummt. In den vergangenen fünf Jahren hat das Land seine Ausfuhrerlöse nahezu verdoppelt. Entfielen noch in den 1990er-Jahren mehr als 90 Prozent der türkischen Ausfuhren auf Agrarprodukte und Textilien, so spielen inzwischen Industriegüter wie Autos, Maschinen und elektrotechnische Geräte eine immer größere Rolle. So steht Europas größte Waschmaschinenfabrik in Tuzla bei Istanbul.

Wichtigster Handelspartner sind die EU-Länder, zu denen die Türkei dank der 1996 geschlossenen Zollunion freien Zugang hat. Bedeutung gewinnen die Absatzmärkte in der arabischen Welt, in Mittelasien und im Fernen Osten. Vor diesem Hintergrund hat ein EU-Beitritt in türkischen Wirtschaftskreisen auch nicht mehr jenes Gewicht wie vor einigen Jahren. „Europa braucht uns mehr, als wir Europa brauchen“, heißt es.

Während in Europa die Schuldenkrise alles überschattet und sich die Länder mehr oder weniger rasch aus der Krise stemmen, zeigt die Türkei Anzeichen einer Überhitzung. Alarmsignale sind vor allem das Leistungsbilanzdefizit, das in diesem Jahr acht Prozent des BIPs erreichen dürfte, und die Inflation, die im Mai auf 7,2 Prozent schoss, nach 4,3 Prozent im Vormonat. Die Verbraucherkredite sind im Jahresvergleich um 43 Prozent hochgeschnellt.

Die Ratingagentur Moody's denkt darum schon öffentlich über eine Senkung des Ratings der Türkei nach. Experten erwarten deshalb, dass Regierung und Zentralbank nach der Wahl versuchen werden, das Wirtschaftswachstum zu dämpfen. Seite 4

Auf einen Blick

Die türkische Wirtschaft ist im Vorjahr um 8,2 Prozent gewachsen und liegt damit wieder auf Vorkrisenniveau. Getragen wird der Boom von der hohen Binnennachfrage – die Türkei hat eine junge, konsumfreudige Bevölkerung. Jetzt droht bereits eine Überhitzung, wie sich an den stark gestiegenen Konsumentenkrediten zeigt. Experten gehen deshalb davon aus, dass die Regierung nach der Wahl am Sonntag auf die Bremse steigt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2011)

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