Globalisierung: Die Welt ist rund - und doch kein Dorf

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Ökonom Pankaj Ghemawat stellt unsere Vorstellungen von Globalisierung auf den Kopf: Ihr Ausmaß wird massiv überschätzt, und das macht sie zum Sündenbock. Dabei würde sie viel mehr Positives bewirken als erwartet.

Über Globalisierung wird leidenschaftlich gestritten. Nur in einem Punkt sind sich Gegner und Anhänger einig: dass wir längst in einem „globalen Dorf“ leben. Jetzt kommen Sie und behaupten das Gegenteil: Das Potenzial der Globalisierung sei erst zu zehn bis 20Prozent ausgeschöpft, Grenzen und Hürden bestimmen unser Leben. Fühlen Sie sich mit dieser Meinung nicht recht einsam?

Pankaj Ghemawat: Ich sehe es positiv: Jedes Jahr erscheinen über 1000Bücher über Globalisierung. Fast alle sind auf dem Holzweg, weil sie behaupten, wir leben in einer fast völlig integrierten Welt. Die Daten hingegen beweisen ziemlich unwiderlegbar das Gegenteil. Aber die öffentliche Meinung ist völlig abgekoppelt von der Forschung. Die ganze Diskussion ist frei von Daten. Ich habe also ein Buch geschrieben, das sich auf Fakten stützt und den Lesern doch etwas ganz Neues erzählt – da bin ich doch in einer wunderbaren Lage.

Gibt es Daten, die auch Sie überraschen?

In der Cyber-Welt müsste die Globalisierung am weitesten fortgeschritten sein. Aber wie viele der Bits und Bytes, die das Internet transportiert, überschreiten nationale Grenzen? Nicht einmal ein Fünftel. Dank Facebook kann man sich mit Menschen in aller Welt in Verbindung setzen – aber 90 bis 95Prozent der „Freunde“ leben im eigenen Land. Und nur zwei Prozent aller Studenten studieren im Ausland.

Wenn die Daten eine so klare Sprache sprechen: warum sind wir uns dann alle so sicher, dass „die Welt flach ist“? Stecken da psychologische Gründe dahinter?

Schauen Sie sich „Die Welt ist flach“ von Tom Friedman an: Da finden Sie auf 450 Seiten keine Zahl, kein Chart, keinen Verweis. Tom ist nur ein Journalist, der Geschichten erzählen kann. Aber sein Globalisierungsbuch verkauft sich besser als alle anderen zusammen. Warum? Der Fabeldichter La Fontaine hat gesagt: Die Menschen glauben, was sie am meisten wünschen oder am meisten fürchten. Wenn ein französischer Arbeiter seinen Job verliert, dann „weiß“ er einfach, dass alle Arbeitsplätze nach China abwandern – egal, was die Fakten sind. Und umgekehrt ist es für einen Elitestudenten, der sich durch 100Fallstudien gekämpft hat, sehr verführerisch zu glauben, er könne mit seinem Wissen die Managementprobleme in jeder Firma der Welt ausmerzen.

Wobei die Eliten ja tatsächlich ein ziemlich globalisiertes Leben führen...

...und das projizieren sie dann irrtümlich auf den Rest der Welt. Wenn ich meine MBA-Studenten in Barcelona frage, wie hoch weltweit der Anteil der Telefonminuten ins Ausland ist, schätzen sie 50Prozent. Für sie stimmt das wohl, die meisten sind keine Spanier. Aber wie hoch ist der Anteil wirklich? Zwei Prozent! Noch etwas: Es wirkt einfach cool und schlau, wenn man ans Ende aller Grenzen glaubt. Und wir überschätzen, was Technologie bewirkt, weil wir auf den Einfluss von Kultur und Politik vergessen.

Die Doha-Runde soll mehr freien Warenhandel bringen, und damit nach Schätzungen 0,1Prozent mehr Wachstum. Eine vollständige Liberalisierung brächte einmalig einen halben Prozentpunkt – mit allen möglichen Nebenwirkungen. So viel haben einzelne Bankenrettungen in der Finanzkrise gekostet. Damit werden sie niemand für Globalisierung begeistern können...

Diese Schätzungen sind viel zu niedrig. Richtig gerechnet, kommt man auf fünf bis zehn Prozent. Das Standard-Gleichgewichtsmodell schaut sich nur an, wie viele zusätzliche Industriegüter man produzieren kann, wenn man Ressourcen zwischen Ländern umschichtet. Größenvorteile fehlen meist. Und der Wert von Waren steigt ja massiv, wenn man sie differenziert, wenn mehr Konkurrenz die Produktivität erhöht, wenn Kreativität von außen zu Innovationen führt. Außerdem fehlt zur Gänze die Landwirtschaft – und die Dienstleistungen, die zwei Drittel der globalen Wirtschaftsleistung ausmachen. Dieses Potenzial ist groß: Selbst bei den IT-Services, über die alle reden, wurden nur zehn bis 15Prozent ins Ausland ausgelagert. Und dann ist da noch das Potenzial von mehr Migration...

...was die Österreicher aber am allerwenigsten wollen.

Schauen Sie sich die demografische Entwicklung an: Entweder lässt Europa deutlich mehr Einwanderung zu, oder es wird in 20, 30Jahren in einem gewaltigen wirtschaftlichen Schlamassel stecken. Und die möglichen Zugewinne sind enorm. Rechenspiele zeigen: Bei völliger Personenfreizügigkeit würde sich die globale Wirtschaftsleistung mehr als verdoppeln! (weil die Produktivität in reichen Ländern mehrere Dutzende Male so hoch ist wie in armen). Gut, das wird es nicht spielen. Aber heute liegt der Anteil von Migranten erster Generation bei drei Prozent, niedriger als vor hundert Jahren. Wenn man das nur moderat auf fünf Prozent bis 2050 erhöht, ergibt das schon einen gewaltigen Wachstumsschub.

Sie sind eigentlich ein Management-„Guru“. Wie kamen Sie dazu, sich mit Globalisierung aus politischer Sicht zu beschäftigen?

Das war während der Lebensmittelkrise 2007/2008, als sich der Reispreis plötzlich verdreifacht hat. Da habe ich mich gefragt: All diese Segnungen des Globalisierung erscheinen logisch, solange die Märkte funktionieren. Aber was sind die sozialen Folgen, wenn es zu Marktversagen kommt? Dann habe ich gesehen: Die Menge an Reis, die international gehandelt wird, macht nur fünf Prozent der Weltproduktion aus. Und diese Produktion schwankt bei Grundnahrungsmitteln um nicht mehr als zwei Prozent pro Jahr. Der Grund für die hohen Preisschwankungen ist also, dass so viel ans Inland gebunden ist – und die Regierungen prozyklisch agieren: Wenn Nahrungsmittel knapp werden, verhängen sie ein Exportverbot. Also ist es die beste Lösung, mehr über die Grenzen zu handeln. Das senkt die Volatilität, und damit haben Spekulanten keinen Anreiz mehr, auf diesen Märkten zu spekulieren.

Frankreichs Präsident Sarkozy geht es als G20-Vorsitzender andersrum an: Er will den globalen Handel mit Nahrungsmitteln verbieten und damit die Preise stabilisieren...

Protektionismus ist genau der falsche Weg. Sarkozy mag die Spekulanten nicht, das merkt man, aber mit seiner Politik spielt er ihnen nur in die Hände.

Also weg mit den Grenzen und zugleich weg mit staatlichen Eingriffen?

Nicht immer. Auf Haiti leben 30Prozent der Menschen vom Reisanbau, und das am Existenzminimum. Dort hat man in den Neunzigerjahren von einem Tag auf den anderen die Grenzen für den viel billigeren Reis vom Weltmarkt geöffnet, ohne einen Übergangsplan mit sozialer Abfederung. Das ist ethisch nicht zu rechtfertigen. Aber es passiert, weil Freihandel mit Deregulierung gleichgesetzt wird. Die beiden Themen haben meist die gleichen Anhänger, aber es sind zwei verschiedene Handlungsdimensionen. In vielen Fällen erübrigt mehr Globalisierung vorhandene Regeln, weil sich die Probleme von selbst lösen. In anderen aber braucht es gezielte Regeln.

Hierzulande ist die Globalisierung so unbeliebt, weil die Menschen Ausbeutung fürchten: Wer Geld hat, sei der Gewinner einer Öffnung, weil Kapital mobil ist. Wer keines hat, sei der Verlierer, weil er angesichts der Billigkonkurrenz entweder seinen Job verliert oder Einkommensverluste schlucken muss. Auch ein Fall für Regulierung?

Nein, weil das einfach nicht stimmt. Nehmen Sie Amerika und Deutschland. In den USA sind die Einkommen heute viel ungleicher verteilt als vor ein paar Jahrzehnten. In Deutschland nicht. Aber die deutsche Wirtschaft ist dreimal so offen wie die amerikanische. Also kann an der Ungleichheit in den USA nicht die Globalisierung schuld sein. Aber weil ihr Ausmaß so massiv überschätzt wird, muss sie für alles als Sündenbock herhalten. Die US-Einkommensschere hat einen ganz anderen Grund: die Steuergeschenke an die Reichen unter Reagan und seinen Nachfolgern. Generell gilt: Durch die Globalisierung fällt nur ein Zwanzigstel der Jobs weg, die durch technischen Fortschritt verloren gehen (der auch wieder neue schafft). Die Arbeitsmärkte sind viel geschlossener, als man annimmt.


Bei Kapitalflüssen lassen sich die Befürchtungen nicht wegargumentieren: Dass die Globalisierung der Finanzmärkte das Ansteckungsrisiko stark erhöht hat, ist seit der Finanzkrise Mainstream unter Ökonomen.

Ja, das ist der kritischste Bereich. Aber man muss unterscheiden: Wenn Unternehmen Werke im Ausland bauen oder kaufen, fördert das sicher nicht Instabilität, weil sich die Firmen in Krisen ja nicht einfach zurückziehen. Bei Aktien steckt zwar in Krisenzeiten eine Börse die andere an. Aber längerfristig hat eine internationale Risikostreuung einen stabilisierenden Effekt, und der ist deutlich größer. Viel problematischer sind Devisenhandel, Schuldpapiere oder Bankkredite – da werden Mittel vom Ausland zurückgezogen, wenn sie am meisten gebraucht werden. Da hat auch Regulierung Sinn.

Die Doha-Verhandlungen stecken fest. Kommt die Globalisierung nicht vom Fleck?

Es müssen sich nicht alle Länder auf mehr Handel einigen, damit etwas weitergeht. Das Meiste können Regierungen zu Hause tun. Die Chinesen lehren ihren Bürgern jetzt Englisch – das baut kulturelle Barrieren ab. Oder: Warum sind die Binnenstaaten Afrikas vom Welthandel isoliert? Weil sie vor lauter Misstrauen keine Straßen ins Ausland bauen. Wo es sie gibt, wird man zwischen zwei Hauptstädten an zwölf bis 24Checkpoints angehalten – und an jedem können Beamte Bestechungsgelder verlangen. Güter innerhalb Afrikas zu transportieren braucht viel länger als der Schiffsweg von den USA nach Afrika. Da muss man ansetzen.

Was kann der Einzelne beisteuern?

Jeder muss sich stärker der Welt öffnen. Wir haben die Technologie dafür – aber nutzen wir sie? Das Misstrauen nimmt zu. Die Anteilnahme an Menschen, die fern von uns leben, nimmt ab. Hier liegt die wahre Herausforderung. Wenn wir da nichts ändern, helfen alle anderen Bemühungen nichts.

Zur Person

Pankaj Ghemawat
ist ein indischer Ökonom. Er studierte in Harvard und wurde dort 1991 der jüngste Professor in der Geschichte der Uni. Er ist auch der jüngste Management-„Guru“ in der Liste des britischen „Economist“. Heute lehrt er an der IESE Business School in Barcelona.

Auf Einladung des ICEP (Institut zur Cooperation bei Entwicklungs-Projekten) hielt Ghemawat am Donnerstag einen Vortrag in Wien.

In Zahlen

2Prozent
aller Telefonminuten gehen ins Ausland.

2Prozent
aller Studenten studieren nicht in ihrem Heimatland.

20Prozent
des Internetdatenverkehrs überschreiten Landesgrenzen.

20Prozent
aller Aktieninvestments betreffen ausländische Firmen.

35Prozent
aller Staatsanleihen sind in ausländischer Hand – ausgerechnet hier ist die Globalisierung am weitesten fortgeschritten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2011)

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