Chronologie eines unerwarteten Brüsseler Gipfelmarathons

Chronologie eines unerwarteten Bruesseler
Chronologie eines unerwarteten Bruesseler(c) AP (Michael Probst)
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Europäischer Rat: Ein deutsch-französisches Zerwürfnis sorgt für eine bisher beispiellose Folge fieberhafter Verhandlungen.

Brüssel. Wenn ein Mann seine Gattin in den Geburtswehen alleinlässt, muss er einen wirklich, wirklich wichtigen Grund haben. Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte vergangenen Mittwochabend derer zwei, als er seine Carla in Paris zurückließ und nach Frankfurt jettete: die Rettung des Vaterlandes vor dem wirtschaftlichen Absturz. Und damit die Rettung der eigenen Wiederwahl in sieben Monaten.

Denn die Grande Nation ist auf den Knien: knapp zehn Prozent Arbeitslosigkeit, mickrige 1,5 Prozent Wachstum, ein schwindelerregendes Defizit von zuletzt 7,1 Prozent. Allein von April bis Juni riss Frankreich heuer ein Defizit in der Leistungsbilanz von 14,3 Milliarden Euro auf. Ein Negativrekord in der EU – und das bei einer der wichtigsten Kennzahlen, die über die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft Auskunft gibt. Sollte das Land in eine Rezession kippen, werde es seine AAA-Bonitätsnote verlieren, droht die Kreditratingagentur Standard & Poor's.

Also platzt Sarkozy als ungebetener Gast in die Abschiedsgala für Jean-Claude Trichet, den scheidenden Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), und macht der deutschen Kanzlerin Angela Merkel einen unerhörten Antrag: Wenn Deutschland der Verschiebung der Umschuldung Griechenlands auf die Zeit nach Mai zustimmt – also auf die Zeit nach der Präsidentenwahl –, zieht Frankreich seine Forderung nach einer Banklizenz für das Euro-Rettungsvehikel EFSF zurück. Dass Merkel eine Bankenlizenz für die EFSF (Europäische Finanzstabilitätsfazilität) strikt ablehnt, wissen die Franzosen. Denn dies würde bedeuten, dass die EFSF unbeschränkt Geld von der EZB erhält, um Hilfskredite an künftige Krisenländer zu vergeben. Eine Schuldenfinanzierung über die Notenpresse der Zentralbank – das ist für die Deutschen der absolute Horror.

Merkel erteilt Sarkozy eine Abfuhr – und steht damit vor einem gravierenden Problem: Über die „Hebelung“ der 440 Milliarden Euro, die der EFSF zur Verfügung stehen, gibt es zwei Tage vor dem entscheidenden Treffen der Finanzminister in Brüssel noch immer keine grundlegende Einigung. So eine grundlegende Einigung muss Merkel aber dem Bundestag in Berlin vorlegen, bevor sie auf EU-Ebene verbindliche Zusagen machen kann. Das will das Bundesverfassungsgericht so. Und die Abgeordneten pochen trotzig auf ihr neu erkanntes Recht, der Kanzlerin vor jedem EU-Gipfel den Sanktus zu geben. „Das erzeugt aus europäischer Sicht eine absurde Situation und erhebliche Unsicherheit“, warnt Thomas Klau vom European Council on Foreign Relations in Paris im Gespräch mit der „Presse“. „Man stelle sich nur eine Sekunde lang vor, dass andere Parlamente ähnliche Begehrlichkeiten entwickeln würden.“

Van Rompuy, zum Statisten degradiert

Verbissen ringen die Experten der Finanzministerien am Donnerstag um die Details einer Einigung, die in Grundzügen schon feststeht: Die Banken müssen zirka auf die Hälfte ihrer Forderungen gegen Athen verzichten, neun Prozent Kernkapitalquote erreichen, was Pi mal Daumen 100 Milliarden Euro kosten dürfte, und die EFSF bekommt einen Hebel. Aber welchen? Herman Van Rompuy, der Präsident des Europäischen Rates, lässt am Donnerstagnachmittag noch verkünden, die Chefs der Euroländer würden am Sonntag alle Fragen klären. Doch noch während er das verlautbaren lässt, verschicken Berlin und Paris eine Presseaussendung: Nix ist fix, zweiter Gipfel am Mittwoch.

Den sollen die Finanzminister vorbereiten. Sie treffen am Freitag in Brüssel ein, und weil das Justus-Lipsius-Gebäude des Rates für den Gipfel am Sonntag vorbereitet wird, müssen sie erstmals in das Lex-Gebäude nebenan ausweichen. Vor dem steht eine Statue, die mit verbundenen Augen einen Schritt ins Leere macht. Und genau so wirken die Verhandlungen der Minister, die irgendwann in der Nacht auf Sonntag ohne Kommuniqué enden. Allerlei Gerüchte schwappen aus dem Sitzungssaal. Man plane zum Beispiel, China, Indien und andere Schwellenländer zur Stabilisierung der Eurozone einzuladen, indem man ein „Special Purpose Vehicle“ unter Führung des Internationalen Währungsfonds gründet. IWF-Chefin Christine Lagarde ist vor Ort. Ein Statement ist ihr nicht zu entlocken.

Der Aufstand der 25 anderen hat Erfolg

Ob des von Paris und Berlin initiierten Gipfelmarathons sehen sich die anderen 25 mehr und mehr zu Marionetten degradiert, die nur noch in Brüssel absegnen dürfen, was die „großen zwei“ zuvor ausgeschnapst haben. Ihr Aufstand hat Erfolg: Als Bundeskanzler Werner Faymann am Sonntag knapp vor 17 Uhr in einer Pause vor die Medien tritt, kann er das Ergebnis der Debatte so zusammenfassen: „Eine Vertragsänderung kann nur im Kreise der 27 beschlossen werden.“ Und darum beginnt der Schlussakt des Brüsseler Kongresses am kommenden Mittwoch mit einem normalen Europäischen Rat der 27 – und nicht, wie Sarkozy es will, bloß mit den 17 Euroländern.

Auf einen Blick

Seit Mittwoch wird fast ständig über eine Lösung für die europäische Schuldenkrise beraten. Die Dramaturgie lässt einen politischen Kraftakt erwarten. Doch es geht auch um Rücksichtnahme etwa auf den deutschen Bundestag. Eine endgültige Entscheidung über Euroschirm, Bankenpaket und Schuldenschnitt für Athen soll erst in der Nacht auf Donnerstag fallen, nachdem die deutsche Kanzlerin den Bundestag informiert hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2011)

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