Schattenbanken: Das nächste Pyramidenspiel

Schattenbanken naechste Pyramidenspiel
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In der unregulierten und undurchsichtigen Welt der Schattenbanken lauert ein bisher unbekanntes Monster: Die exotischen "Mehrfachhypotheken" versprechen schnelles Geld. Aber jetzt droht die Pyramide einzustürzen.

Wenn ein Finanzskandal platzt, werden oft voreilige Schlüsse gezogen. Im Fall des Brokerhauses MF Global, das zu Halloween den achtgrößten Bankrott in der Geschichte der USA anmelden musste, einigten sich die Medien schnell auf den Fehler. MF-Chef Jon Corzine, ein Goldman-Sachs-Alumnus mit besten Verbindungen ins Weiße Haus, hatte eine Wette auf europäische Staatsanleihen verloren – und dabei offenbar auch Kundengelder verzockt. Die unterschwellige Message dieser Interpretation: Es war ein Einzeltäter, ein schwarzes Schaf. Die meisten Beobachter fragten sich nicht einmal, woher MF Global das Geld für eine Sechs-Milliarden-Dollar-Wette hatte – eine Summe fünfmal so hoch wie der Gesamtwert des Unternehmens.

Die Antwort ist ebenso kompliziert wie besorgniserregend. MF Global war kein Einzelfall, kein „Bad Apple“, wie die Amerikaner sagen. Wie Lehman Brothers und AIG wurde auch MF Global ein Opfer des sogenannten Schattenbankensystems. Das fasst alle Aktivitäten zusammen, die zwar in ihrer Natur Bankgeschäfte (wie Kreditvergabe, sprich „Gelderzeugung“), aber so kompliziert sind und so lasch reguliert werden, dass keine Behörde der Welt auch nur den geringsten Durchblick hat. Das Schattenbankensystem besteht aus ausgelagerten Zweckgesellschaften von Banken und Investmentbanken und aus anderen Finanzmarktfirmen, die keine Banken sind, aber Bankgeschäfte übernehmen, wenn ein Schlupfloch in den Regulierungen dies zulässt.

Bis zu 60 Billionen.
Weil sie ausgelagert sind, schlagen sich die Schattenaktivitäten der Banken nicht in den Bilanzen nieder. Sie sind „Off-Balance“. Und es liegt nur in der Natur der Sache, dass auch die Banken untereinander verheimlichen, welchen Schattengeschäften sie nachgehen. Niemand kann seriös sagen, wie viel Geld in diesen unregulierten Schattengeschäften steckt – Schätzungen gehen davon aus, dass es bis zu 60 Billionen Dollar sind.

Zentrum des Schattenbankensystems ist ohne Zweifel London. Nirgends gibt es weniger Regeln für Finanzgeschäfte. Der Untergang von MF Global und Lehman Brothers nahm in London seinen Anfang. Auch die weltgrößte Versicherung AIG, die vom US-Steuerzahler gerettet wurde, stolperte über die Geschäfte seiner London-Tochter. Im Zuge der MF-Global-Pleite kommt jetzt ein Geschäftszweig vom Schatten ans Licht, der es in sich hat: die Mehrfachhypothek.

Das Prinzip einer Hypothek ist simpel: Ein Kunde erhält von der Bank einen Kredit, um ein Haus zu kaufen. Dieses Haus wird mit einer Hypothek belegt. Das heißt: Zwar gehört dem Kreditnehmer offiziell das Haus – falls er aber seine Raten nicht bezahlen kann, geht das Haus an die Bank. So weit, so harmlos. Aber was, wenn die Bank selbst auf das Haus eine weitere Hypothek aufnimmt– also das Pfand des Kreditnehmers selbst verpfändet, um Kredit zu erhalten und Geschäfte zu machen? Und was, wenn die nächste Bank dieses Pfand noch einmal verpfändet? Plötzlich „gehört“ dasselbe Haus vier verschiedenen Marktteilnehmern. Nur einer muss mit seinen Kreditrückzahlungen in Verzug kommen, und das ganze Gebilde bricht zusammen. So funktioniert das Mehrfachhypotheken-Geschäft im Schattenbankensystem.

Auf Gedeih und Verderb. Kunden (meist Hedgefonds) hinterlegen Sicherheiten (meist Wertpapiere) bei Brokern (meist Investmentbanken). Diese Investmentbanken nutzen jetzt die Sicherheiten, die eigentlich die Kunden hinterlegt haben, um sich Liquidität zu beschaffen. Sie verpfänden das Pfand weiter. Die nächste Bank macht dasselbe. Und so weiter. Nach britischem Recht gibt es keine Grenze für die Aufnahme von Mehrfachhypotheken auf ein Asset. Kunden können diese Praxis zwar vertraglich untersagen – dann steigen aber auch die Gebühren. Am Ende sind die Bankhäuser auf Gedeih und Verderb einander ausgeliefert.

Die Kunden haben keine Ahnung, was mit ihren Sicherheiten passiert ist. Das ist der Grund, warum die Kunden von MF Global ihre Gelder und hinterlegten Wertpapiere wohl nie wieder sehen werden. Und es ist eine alternative Erklärung für die Liquiditätsprobleme, die vor allem Banken in Europa derzeit plagen. Das Schattenbankensystem kollabiert. Langsam, aber stetig. Hedgefonds haben die Machenschaften der Banken mit Mehrfachhypotheken durchschaut und unterbinden sie in neuen Verträgen. Der Internationale Währungsfonds hat errechnet, dass Investmentbanken sich vor dem Lehman-Kollaps Geld besorgt haben, indem sie über London aus Sicherheiten ihrer Kunden im Wert von einer Billion Dollar vier Billionen gemacht haben.

Und bis heute sind die großen Investmenthäuser massiv in dieses Spiel involviert: JP Morgan und Morgan Stanley mit jeweils 410 Milliarden Dollar (314 Milliarden Euro), Credit Suisse mit 354 Milliarden Dollar. Die Fachzeitschrift „Business Law Currents“ hat diese Zahlen für eine ausführliche Analyse des Spiels mit den Mehrfachhypotheken errechnet. Überschrift: „MF Global und der Skandal um die Mehrfachhypotheken“. Das Ende des Brokers enthüllt diese endlos komplizierten Finanzprodukte als das, was sie sind: ein Pyramidenspiel. Wenn der Geldfluss stoppt oder die Hypotheken zu hoch aufgetürmt werden, heißt es: Game over. Die Konsequenzen eines Zusammenbruchs dieses Pyramidenspiels sind nicht abzuschätzen. „Das Systemrisiko, das die Mehrfachhypotheken erzeugen, ist atemberaubend“, schreibt „Business Law Currents“, eine Publikation von Thompson Reuters. Wenn die Erhebungen der Fachzeitschrift sich bestätigen, dann wurde durch Mehrfachhypotheken schlicht die größte Kreditblase aller Zeiten geschaffen.


Das Spiel geht zu Ende. Und weil Staatsanleihen zu den meistgehandelten und meisthinterlegten Wertpapieren gehören, hat der „Skandal“ auch direkte Konsequenzen für die Schuldenkrise der Eurozone. „Business Law Currents“: „Wenn man bedenkt, dass Mehrfachhypotheken den finanziellen Fußabdruck von europäischen Staatsanleihen um mindestens das Vierfache vervielfacht haben könnten, dann könnte der Bankrott eines Eurolandes die Apokalypse bedeuten.“

(c) Die Presse / GK

Das würde auch den Unwillen der EU-Politiker erklären, Griechenland offiziell pleitegehen zu lassen. Und auch, warum Banken bei Schuldenschnitten nicht mehr zur Kasse gebeten werden sollen: Dank der Mehrfachhypotheken und anderer alchemistischer Ideen der Schattenbanken sind Griechenlands Schulden kein „kleines“ Problem, das sich eingrenzen lässt. Ein Staatsbankrott könnte das ganz große Pyramidenspiel der globalen Banken zum Einsturz bringen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2011)

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