Zehn Denkfallen: Mythen der Zuwanderung

Zuwanderung Denkfallen
Zuwanderung Denkfallen(c) EPA (Dominic Favre)
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Die Schweizer Bevölkerung ist dank Zuwanderung gewachsen. Antworten auf dadurch entstandene Probleme fehlen. Eine ökonomische Analyse.

Die Bevölkerung in der Schweiz ist in den letzten Jahren dank der Zuwanderung stark gewachsen. 2012 erreichte diese gar den höchsten Wert seit 2008. Politische Antworten auf die damit entstandenen Schwierigkeiten fehlen bisher. Um der Politik (ökonomische) Denkanstöße zu geben, seziert dieser Beitrag die gängigen Fehleinschätzungen rund um die Einwanderungsdebatte.

Die Zuwanderung erreichte 2012 den höchsten Wert seit 2008 und hat im Januar 2013 nochmals um über 20 Prozent zugenommen. Was bedeutet das? Entgegen den überoptimistischen Prognosen unserer Regierung und den übertriebenen Ängsten vieler Kritiker verändert die Zuwanderung das Prokopfeinkommen mittelfristig kaum. Aber sie bewirkt ein Bevölkerungswachstum von jährlich rund 1 Prozent, was über mehrere Jahre aufgrund der Knappheit von Land und Infrastruktur schwerwiegende Problemen bringt. Was also tun? Da bisher keine politische Seite ein überzeugendes Konzept bietet, gibt es nur eines: vorbehaltlos über die Probleme, Lösungsvorschläge und Positionen diskutieren, etwa über folgende zehn weit verbreitete Fehleinschätzungen:

  • 1. Die Schweiz ist auf die Zuwanderer angewiesen. Das stimmt für einzelne Berufe, etwa gute Universitätsprofessoren. In vielen Bereichen sind aber die Schweizer gerade wegen des hohen Ausländeranteils knapp. So sind heute über ein Drittel der Ärzte Ausländer. Das ist aber bei einem Ausländeranteil an der Bevölkerung und damit wohl auch den Patienten von 25 Prozent nur natürlich. Die Schweizer müssen in vielen Bereichen aus ausbildungsbedingten, rechtlichen oder sprachlichen Gründen übervertreten sein, etwa bei den Anwälten, hohen Verwaltungsstellen, der Polizei oder der Kleinkinderziehung. Folglich müssen sie in all den anderen Bereichen, in denen sie keine speziellen Vorteile haben, untervertreten sein.
  • 2. Die Wirtschaft ist auf die Zuwanderung angewiesen, weil sie Lücken im Arbeitsmarkt füllt. Falsch: Tatsächlich erlaubt es die Zuwanderung, viele Lücken einfacher oder billiger zu füllen. Aber dadurch wird der Standort Schweiz attraktiver, was neue Investitionen und Firmen anzieht. Das schafft neue Arbeitsplätze, aber damit auch gleich wieder neue Lücken. Genau so schafft die Zuwanderung auch neue Nachfrage, was wiederum Lücken und damit „Bedarf“ nach neuer Zuwanderung schafft. So müssen für all die Zuwanderer Wohnungen gebaut werden. Das schafft viele Arbeitsplätze – großenteils für neue Zuwanderer.
  • 3. Die Zuwanderung nützt der Schweiz, weil sie den Unternehmen und ihren Aktionäre, also auch den Pensionskassen und damit uns allen größere Gewinne bringt. Falsch: Die Vorteile treffen nur ganz kurzfristig zu. Wegen des oben diskutierten Mechanismus sind die Arbeitnehmer bald wieder gleich knapp wie zuvor. Zudem gehören ein Grossteil der Aktien und damit der Gewinne von Schweizer Firmen ausländischen Anlegern.
  • 4. Die Zuwanderung reguliert sich von selbst. Zuwanderer kommen nur, solange neue Stellen geschaffen werden. Falsch: Die Zahl offener Stellen wird weit weniger durch den Zuwachs von Arbeitsplätzen als durch die natürliche Fluktuation durch Jobwechsel und Pensionierungen geprägt. So werden pro Jahr auch in schlechten Zeiten 400 000 Stellen frei, so dass die Zuwanderung dann kaum abnehmen wird.
  • 5. Die Zuwanderer sind höher qualifiziert als die Schweizer. Falsch: Die Zuwanderung hat sich in den letzten Jahren zunehmend von den Nord- zu den Südländern verlagert, wo eher der formale als der reale Bildungsstand höher als in der Schweiz ist. Die Zuwanderer sind auch recht jung. Verglichen mit gleichaltrigen Schweizern ist ihr Bildungsvorsprung viel kleiner. Zudem haben die wirklich hochqualifizierten Zuwanderer eine viel kürzere Verweildauer in der Schweiz als die weniger qualifizierten, wie eine Studie der Basler Ökonomen George Sheldon und Dominique Cueni zeigt. Dummerweise hat der Bund bisher nur die Qualifikation der Brutto- statt der Nettozuwanderung gemessen.
  • 6. Die Zuwanderer bringen einen fiskalischen Überschuss, weil sie mehr Steuern und Abgaben bezahlen als sie vom Staat Leistungen beziehen. Das stimmt nur unter sehr speziellen Bedingungen. Sobald die Zuwanderer Kinder haben, die hier die öffentlichen Schulen besuchen, müssen sie sehr gut verdienen oder sehr lange bleiben, bis es sich für die Schweiz lohnt. Wie eine weitere Studie von George Sheldon und Nathalie Ramel zeigt, bringt die Zuwanderung beim heutigen Rückwanderverhalten keinen fiskalischen Überschuss.
  • 7. Die Zuwanderung kann nicht für die Knappheit auf dem Bodenmarkt verantwortlich sein.Denn auch in den Segmenten mit besonders großen Preissteigerungen stellen die Zuwanderer nur einen kleinen Teil der Käufer. Falsch: Die meisten Einheimischen, die eine neue Immobilie nachfragen, bringen gleichzeitig ihre alte auf den Markt und sind so „marktneutral“. Die Zuwanderung hingegen führt fast ausschließlich zu zusätzlicher Nachfrage und so zu Preissteigerungen.
  • 8. Zur Verhinderung von Lohndruck sollen als flankierende Maßnahme Mindestlöhne eingeführt werden. Falsch: Solange die Zuwanderer im Durchschnitt so hoch qualifiziert sind, wie es unsere Regierung meint, bringen sie keinen Lohndruck für die Bezüger tiefer Einkommen, weil sie sie nicht konkurrieren. Hohe gesetzliche Mindestlöhne machen aber die Schweiz für Zuwanderer nur noch attraktiver und ziehen so zusätzliche Zuwanderer an, die dann die besonders schlecht qualifizierten einheimischen Arbeitnehmer zu verdrängen drohen.
  • 9. Zur Verhinderung negativer Auswirkungen der Zuwanderung auf den Wohnmarkt braucht es Höchstmieten und mehr sozialen Wohnungsbau. Falsch: Derartige Regulierungen haben fast ausschließlich negative Auswirkungen. Staatliche Höchstmieten heizen die Übernutzung des knappen Wohnraums nur noch an. Zum einen bewirken sie eine Ausdehnung der Nachfrage, weil sich so die einheimische Bevölkerung mehr Wohnraum leisten will und die Schweiz für Neuzuziehende noch attraktiver wird. Zugleich machen sie die Mieter immobil, weil sie beim Umzug in andere Wohnungen oft ihre ersessenen Privilegien verlieren. Zum anderen bewirken sie eine Verknappung des Wohnraumangebots, weil sie die Anreize der Investoren senken, neuen Wohnraum bereitzustellen und den alten gut zu unterhalten. Höchstmieten nützen deshalb nur den Glücklichen, die durch Zufall, guten Beziehungen oder andere Gegenleistungen eine unterpreisige Wohnung erhalten. Auch der soziale Wohnungsbau nützt den bisherigen Einwohnern nichts. Er ist eine Subventionierung einzelner Weniger durch die Allgemeinheit und führt zu einer zusätzlichen Verknappung des Bodens. Zudem macht auch er die Schweiz für unqualifizierte Zuwanderer attraktiver. Denn es ist nicht praktikabel und wohl auch nicht erwünscht, Zuwanderer bei der Zuteilung des subventionierten Wohnraums zu diskriminieren.
  • 10. Die Nachfrage der Wirtschaft nach Arbeitskräften soll nicht mit Zuwanderern, sondern dadurch gestillt werden, dass die Frauen und Alten besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. Falsch: Die verstärkte Arbeitsmarktintegration der Frauen und Alten reißt da neue Lücken, wo diese Personen bisher gewirkt haben. So muss dann die Kinderbetreuung vermehrt marktlich organisiert werden, wozu es wiederum zusätzliche Arbeitskräfte und damit Zuwanderer braucht. Zudem bringt die Mehrarbeit den Frauen und Alten Mehreinkommen, was wiederum Mehrausgaben und zusätzliche Nachfrage nach  Arbeitskräften und damit zusätzliche Zuwanderung bringt.

Vorsicht! All das Gesagte folgt nicht aus einer politisch korrekten, sondern aus einer ökonomisch richtigen Analyse. Für die bisherigen Einwohner der Schweiz ist die Zuwanderung aufgrund der Personenfreizügigkeit weit weniger vorteilhaft, als es unsere Regierung bisher behauptet hat. Aber sie ist auch viel weniger schädlich, als es zuweilen befürchtet wird. Aus gesamteuropäischer Sicht ist die Personenfreizügigkeit hingegen eine großartige Sache. So wie bei der Gründung der modernen Schweiz 1848 die Einführung der Niederlassungsfreiheit und damit der Personenfreizügigkeit innerhalb der Schweiz den Schweizer insgesamt große Vorteile gebracht hat – aber nicht unbedingt den Gemeinden mit der größten Zuwanderung – so bringt heute die Personenfreizügigkeit den Europäern insgesamt große Vorteile. Für die Schweiz stellt sich deshalb die Frage, wie die großen Wanderungsgewinne ein wenig stärker zugunsten der bisherigen Bewohner der Schweiz umverteilt werden können.

Der Autor

Reiner Eichenberger, Jahrgang 1961, ist ordentlicher Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Fribourg und Forschungsdirektor von CREMA – Center for Research in Economics, Management, and the Arts.

Seine Spezialgebiete sind Wirtschafts- und Finanzpolitik, ökonomische Analyse des politischen Prozesses und politischer Institutionen, Deregulierung der Politik sowie Verbindung Ökonomie und Psychologie. Er ist Autor verschiedener Bücher und zahlreicher Artikel.

Kooperation

Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

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