Arbeitsmigration aus Sicht der Zurückgebliebenen

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Ökonomenstimme. Wie sich die Arbeitsmigration jüngerer Haushaltsmitglieder auf die Situation der Älteren am Beispiel Moldawien auswirkt.

Basierend auf wissenschaftlichen Analysen hat unser Verständnis der Grundlagen und Wirkungen von internationalen Migrationsströmen und der Bedeutung von Rücküberweisungen der Migranten in ihre Heimatländer für Armutsreduktion und Entwicklung in den letzten Jahren stark zugenommen. Dennoch sind die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Migration auf vulnerable Bevölkerungsgruppen, wie Kinder und ältere Menschen in den Herkunftsländern, bisher kaum erforscht und nur unzureichend verstanden. Die Untersuchung und Quantifizierung solcher Effekte von internationaler Migration sind aber von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, beispielsweise die Konsequenzen der nationalen sowie der EU-Migrationspolitik einzuschätzen.

In einem von der EU finanzierten Forschungsprojekt beschäftigen wir uns am Beispiel Moldawiens mit den Konsequenzen der internationalen Arbeitsmigration für zurückbleibende Familienmitglieder. Wir konzentrieren uns dabei primär auf die Wohlfahrt und Gesundheit von älteren Menschen, deren Kinder die Heimat verlassen haben um im Ausland zu arbeiten. Für unsere Analysen nutzen wir selbst erhobene national repräsentative Daten aus Moldawien, das als ärmstes Land Europas auch eine der weltweit höchsten Migrationsraten aufweist.

Wie in vielen Entwicklungsländern stellt auch in Moldawien das Trilemma aus Altersarmut, Pflegebedürftigkeit und unzureichenden sozialen Sicherungssystemen Migranten und ihre Familien vor schwierige Entscheidungen. Aus ökonomischer Sicht ist die Migrationsentscheidung immer eine Abwägung von Einkommensmöglichkeiten und sozialen und psychologischen Kosten. In einer Untersuchung (Stöhr, 2013) modellieren wir diese Erwägungen theoretisch und diskutieren die entscheidende Rolle von Netzwerken, mit denen sich Geschwister, Freunde und Bekannte gegenseitig bei der Arbeitssuche im Ausland unterstützen.

Arbeitsmigration Sicht Zurueckgebliebenen
Arbeitsmigration Sicht Zurueckgebliebenen(c) Ökonomenstimme

Beschleunigung der Migration?

Migrieren Mitglieder des persönlichen Netzwerks, wird eine eigene Migration einfacher und vielversprechender. Dies kann bei großen Einkommensunterschieden erklären, warum sich Migration beschleunigt, bis schließlich große Teile der erwerbsfähigen Bevölkerung im Ausland arbeiten (ca. ein Drittel im Falle Moldawiens). Es tritt allerdings nicht zwangsläufig eine Kettenmigration ein, bei der alle Familienmitglieder nach und nach ins Ausland gehen. Vielmehr scheinen sich die einzelnen Familienmitglieder auf verschiedene Aufgaben, wie Pflege und Einkommenssicherung, zu spezialisieren. In der Abbildung sieht man, dass der Anteil allein zurückbleibender alter Menschen (rot) mit der Familiengröße stark fällt, obwohl die Migration für ihre Kinder einfacher und finanziell profitabler wird, wenn bereits Geschwister im Ausland sind.

Die Befragung der Haushalte ergab, dass die Anreize im Heimatland zu bleiben und sich um pflegebedürftige Eltern zu kümmern gegenüber dem erwarteten Nutzen der Migration überwiegt und somit traditionelle informelle Sicherungssysteme der Familien eine große Widerstandsfähigkeit besitzen. Die familiäre Fürsorge garantiert, dass die Pflege alter Menschen mit mehr als einem Kind, trotz der Migration eines Haushaltsmitgliedes, in den meisten Fällen gewährleistet ist. Allerdings sind alte Menschen mit nur einem Kind potentiell gefährdet, da in derartigen Familien keine Spezialisierung wie im Falle größerer Familien möglich ist.

Auswirkungen auf den Gesundheitszustand

In einer weiteren Studie (Böhme et al. 2013) wird der Einfluss von Migration auf körperliche und psychische Erkrankungen, die Zeitallokation und das subjektive Wohlbefinden älterer Menschen in Moldawien untersucht. Grundsätzlich kann Migration von Haushaltsmitgliedern sowohl positive als auch negative Effekte haben.

Zum einen wäre es denkbar, dass die Rücküberweisungen der Migranten das Haushaltsbudget erheblich vergrößern und so Ausgaben für Heil- und Hilfsmittel ermöglichen. Zum anderen hat die Abwesenheit von Familienmitgliedern möglicherweise starke negative Auswirkungen in Form von mangelnder Unterstützung und Pflege, reduzierter sozialer Teilhabe und erhöhter Arbeitsbelastung. Die empirische Analyse der Daten zeigt, dass die Migration erwachsener Kinder keine signifikanten Effekte auf die psychologischen und die kognitiven Fähigkeiten alter Menschen in Moldawien hat. Die Rücküberweisungen der Migranten erlauben alten Menschen in Moldawien, die wegen ihrer geringen Renten (im Schnitt nur 46 Euro im Monat) oft abhängig von Subsistenzlandwirtschaft sind, ihre Arbeitszeit auf dem Feld zu reduzieren und mehr Zeit mit Freizeitaktivitäten und Schlaf zu verbringen. Von der Reduktion an Feldarbeit profitieren vor allem Männer, die zugleich geringere Probleme mit Mobilitätsindikatoren (zum Beispiel Gehen oder Aufstehen) haben.

Positiver Effekt auf Ernährung

Zudem hat die Migration einen deutlich positiven Effekt auf die Vielfalt der Ernährung. Die Heimatüberweisungen der Migranten ermöglichen zum Beispiel einen erhöhten Konsum von Fleisch oder Fisch. Zugleich steigt der Body-Mass Index (BMI) der Senioren als Folge der Migration jüngerer Haushaltsmitglieder, was vermutliche eine direkte Konsequenz besserer Ernährung und niedrigerer physischer Aktivität ist. Ein derartiger Anstieg des Gewichts kann, je nach Ausgangsniveau, positiv oder negativ gesehen werden. Im Falle Moldawiens verschiebt sich das Gewicht in den Bereich leichten Übergewichts, was nach aktuellem Stand der Medizin bei alten Menschen als unproblematisch oder sogar positiv gesehen wird.

Neben diesen objektiven Indikatoren ist auch zu beobachten, dass sich der subjektive Gesundheitszustand von Frauen merklich verbessert. Dies ist weniger die Konsequenz einer Reduktion schwerer Krankheiten sondern ist vielmehr besseren Lebensumständen und erhöhtem Wohlbefinden geschuldet.

Beide Studien zeigen, dass die internationale Migration von Haushaltsmitgliedern keineswegs katastrophale Folgen für den Gesundheitszustand und die Pflege alter Menschen haben muss, wenn staatliche Sicherungsnetze diese Rolle nicht ausfüllen können. Die Anreize sich um ältere Familienmitglieder trotz großer Opportunitätskosten zu kümmern sind so groß, dass selbst Vervielfachungen des Einkommens nicht zu einem völligen Zusammenbruch der Familienbande führen. Außerdem erlauben die erwirtschafteten Rücküberweisungen der Migranten, dass sich der Gesundheitszustand und die Lebensqualität alter Menschen nicht verschlechtert und in einigen Dimensionen sogar erheblich verbessert.

Autor

Marcus Böhme ist seit Januar 2010 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel tätig. Nach dem Abschluss seines Studiums an der Universität Bayreuth, arbeitete er zunächst als Projektassistent für die GTZ in Ecuador. Nach der Rückkehr nach Deutschland nahm er am Advanced Studies Program des Instituts für Weltwirtschaft teil und schloss seine Promotion in Volkswirtschaft an der Universität Göttingen 2013 erfolgreich ab.

Kooperation

Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

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