Zersetzen Märkte die Moral? Ein kritischer Kommentar

Maus knabbert an einem Euro
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Aus einem viel beachteten Experiment mit Mäusen zogen Forscher die Schlussfolgerung, dass Märkte die Moral zersetzen würden. Doch es gibt wissenschaftliche Mängel.

Im letzten Jahr haben Armin Falk und Nora Szech in „Science" die Ergebnisse eines Experiments veröffentlicht, das sehr viel Aufmerksamkeit erhalten hat und über das nicht wenige Massenmedien (Anm.: unter anderem auch die "Presse") berichtet haben. Der Grund für diese Aufmerksamkeit lag in der klaren Botschaft, die die Autoren überbrachten und die sie mit einem ungewöhnlichen Experiment begründeten: Märkte verleiten die Menschen zu unmoralischem Verhalten. Und so sah das Experiment aus:

Im Treatment 1 hatten die Versuchspersonen die Wahl, entweder 10 Euro zu bekommen oder auf das Geld zu verzichten. Wählten sie das Geld, wurde eine Labormaus dafür getötet, verzichteten sie auf das Geld, durfte die Maus weiterleben. In Treatment 2 verhandelten zwei Versuchspersonen darüber, insgesamt 20 Euro zwischen sich aufzuteilen (mittels einer offenen doppelten Auktion). Fanden sie eine Aufteilung, der beide zustimmten, wurde das Geld ausbezahlt und die Maus getötet, konnten sie sich nicht einigen, gingen sie leer aus und die Maus durfte weiterleben (Falk & Szech, 2013a, 2013b). Die Autoren bezeichnen Treatment 1 als „Individualentscheidung" und Treatment 2 als „Marktentscheidung", weil die doppelte Auktion eine typische Marktsituation abbilde. Im Ergebnis zeigte sich, dass im Treatment 1 deutlich mehr Personen eine Zahlungsbereitschaft für das Leben der Maus besaßen, die größer als 10 Euro war, als in Treatment 2. Dieses Ergebnis interpretieren die Autoren als einen Beleg dafür, dass Märkte die Menschen dazu verleiten, gegen ihre eigenen moralischen Maßstäbe zu handeln, kurz: „Markets erode morals". Wir halten diese Interpretation für falsch. Außerdem hat das Experiment nach unserer Einschätzung gravierende methodische Mängel. Unsere zentrale Kritik fassen wir in vier Punkten zusammen (ausführlich in Breyer & Weimann 2014):

1. Die typische Marktsituation wird durch das Treatment 1 abgebildet und nicht, wie Falk und Szech behaupten, durch Treatment 2.  Es ist das erste Treatment, in dem sich die Versuchspersonen in einer Situation befinden, die für Märkte typisch ist: Sie agieren als Preisnehmer. Sie haben die Wahl, das Leben einer Labormaus für 10 Euro zu kaufen, oder es zu lassen. Das ist genau die Wahl, vor die ein Nachfrager auf einem üblichen Markt gestellt ist. Dass es dabei um ein moralisch aufgeladenes Gut geht, tut nichts zur Sache. Auch wenn Konsumenten beispielsweise darüber entscheiden, ob sie fair gehandelten oder normal gehandelten Kaffee kaufen sollen, treffen sie diese Entscheidung in der Rolle eines Preisnehmers. Falk & Szech führen Treatment 1 auch als Preislistenexperiment durch, d.h. sie lassen die Versuchspersonen auf einer Liste mit aufsteigenden Preisen notieren, ab welchem Preis pi sie die Maus töten lassen. Danach wird zufällig ein Preis p ausgewählt. Liegt dieser über pi, wird die Maus getötet und pi ausgezahlt, liegt er darunter, bleibt die Maus am Leben. In dieser Variante zeigen sich die gleichen Ergebnisse, was nicht verwundert, denn unter der Regel dieser Anordnung ist es eine dominante Strategie, die wahre Zahlungsbereitschaft zu nennen, weil man sich erneut in der Rolle eines Preisnehmers befindet. Auf den zufällig gezogenen Preis hat man keinen Einfluss und deshalb hat man keinen strategischen Spielraum.

Im Unterschied dazu handelt es sich bei dem Treatment 2 gerade nicht um eine typische Marktsituation. Es ist bekannt, dass Zwei-Personen-Verhandlungen zu gänzlich anderen Ergebnissen führen als Märkte. Bei solchen Verhandlungen sind die Akteure eben nicht mehr in der Situation eines Preisnehmers, sondern können die Tatsache, dass ihre jeweilige Zahlungsbereitschaft private Information ist, strategisch ausnutzen. Genau dies führt dazu, dass solche Verhandlungen nicht immer zu effizienten Ergebnissen führen. Falk & Szech begründen ihre Einschätzung damit, dass doppelte offene Auktionen in Experimenten sehr häufig gezeigt haben, dass sie zu Gleichgewichtspreisen führen und damit Marktergebnisse erzeugen. Das ist zwar richtig, aber erstens stellt das nur auf das Allokationsergebnis ab  (also die Anzahl der getöteten Mäuse) und das liefert keinen Unterschied zu Treatment 1, und zweitens ist die doppelte Auktion, die Falk und Szech benutzen, anders als die meisten, die in der Literatur beschriebenen sind. Spieltheoretisch betrachtet, ist sie sogar recht kompliziert, denn es geht um die Bereitstellung eines öffentlichen Gutes (des Überlebens einer Maus), dessen Preis mit 20 Euro fest vorgegeben ist, während die Zahlungsbereitschaften der beiden Spieler private Information sind. Im Unterschied zu herkömmlichen Öffentliches-Gut-Spielen wird hier im Nichteinigungsfall das öffentliche Gut bereitgestellt, während sich die Spieler in Verhandlungen auf die Nichtbeschaffung und die Aufteilung der eingesparten Kosten von 20 Euro einigen können. Entscheidend für die Interpretation der Ergebnisse ist, dass es ich dabei erstens nicht um eine „normale" doppelte Auktion handelt und zweitens erst recht nicht um eine typische Marktsituation!

Akzeptiert man die Ergebnisse des Experiments, so, wie sie Falk und Szech berichten, muss damit die ökonomisch korrekte Interpretation genau anders herum lauten als die Autoren in ihrem Science Artikel ausführen: In einer typischen Marktsituation folgen die Versuchspersonen ihren wahren Präferenzen und offenbaren eine höhere Zahlungsbereitschaft für das Leben der Maus als in einer Verhandlungssituation, die nicht einer typischen Marktsituation entspricht. Märkte führen also keineswegs zu einer Erosion von Moral.

2. Mit ihrem Experiment beanspruchen Falk und Szech, eine Aussage über die Wirkung eines Allokationsmechanismus, eines institutionellen Arrangements zu machen. Die unseres Erachtens einzig sinnvolle Möglichkeit, alternative Institutionen zu vergleichen, besteht darin, die Allokationsergebnisse heranzuziehen. In diesem Fall ist das der Anteil der getöteten Mäuse in den beiden Treatments. Dieser beläuft sich auf 45,9% und 47,7% und unterscheidet sich damit nicht signifikant. Falk und Szech berechnen den hypothetischen Anteil der Mäuse, die in Treatment 1 getötet werden würden, wenn bei den dort offenbarten Präferenzen die gleiche Auktion stattgefunden hätte, wie in Treatment 2: „"The expected fraction of killed mice in a given market period should thus roughly equal 45.9 percent * 45.9 percent = 21.1 percent in the bilateral market.". Diese Rechnung ist allerdings falsch, denn bei einer doppelten Auktion reicht es, wenn eine Seite des Marktes eine Zahlungsbereitschaft unter 10 Euro hat, die andere Marktseite kann durchaus eine höhere haben, solange die Summe der Zahlungsbereitschaften nicht größer als 20 Euro wird.

Der Vergleich der beiden Treatments ist also nicht nur hinsichtlich der Interpretation der jeweiligen institutionellen Arrangements falsch, sondern wird auch in der falschen Dimension durchgeführt.

3. Die experimentelle Wirtschaftsforschung macht sich die Tatsache zunutze, dass sich unter Laborbedingungen die einzelnen Elemente einer Entscheidungssituation sehr genau kontrollieren lassen. So ist es möglich, unterschiedliche Treatments zu experimentieren, die sich jeweils hinsichtlich eines Parameters unterscheiden. Lassen sich dann statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Treatments beobachten, können diese ursächlich auf die Parameteränderung zurückgeführt werden. Dieses Verfahren funktioniert offensichtlich dann nicht mehr, wenn mehr als ein Parameter gleichzeitig geändert wird, weil dann eindeutige kausale Aussagen nicht mehr möglich sind. Falk und Szech ändern in ihrem Experiment mindestens drei wichtige Elemente des experimentellen Designs zwischen den beiden Treatments.
a) Erstens werden in den Treatments unterschiedliche Preissetzungsmechanismen benutzt. Während im Treatment 1 der Preis fix ist, wird er in Treatment 2 zwischen zwei Spielern ausgehandelt. b) Zum zweiten ändert sich die Anzahl der Personen, die über das Leben der Maus entscheiden. Dies kann einen erheblichen Einfluss haben, denn aus der experimentellen Forschung ist bekannt, dass sich Gruppen anders verhalten als Individuen (Kocher & Sutter 2005). Im vorliegenden Fall liegt es nahe, dass es zu einer „Verdünnung" der Verantwortung kommt, wenn man nicht mehr allein über das Leben einer Maus zu entscheiden hat. c) Die dritte Veränderung bezieht sich auf die Auszahlung an die Versuchspersonen. Im ersten Treatment wussten die Versuchspersonen mit Sicherheit, ob sie eine Auszahlung von 10 Euro oder von 0 erhalten, denn das hing ausschließlich von ihrer Entscheidung ab. Im zweiten Treatment wurde die Verhandlung insgesamt 10 Mal durchgeführt, und nur eine (zufällig ausgewählte) Runde wurde tatsächlich ausgezahlt. Im Treatment 1 haben wir es deshalb mit einem one-shot Experiment mit deterministischer Auszahlung zu tun und in Treatment zwei mit einem wiederholten Experiment mit stochastischer Auszahlung. Dazu kommen weitere Designunterschiede. So wurde beispielsweise bei der Auktion in Treatment 2 eine der Versuchspersonen als „Eigentümer der Maus" bezeichnet (was zu Entitlement-Effekten führen kann).
Obwohl sich zahlreiche Dinge zwischen den Treatments änderten, führen Falk & Szech die beobachteten Treatment Unterschiede (niedrigere Zahlungsbereitschaft in Treatment 2) ausschließlich auf den Allokationsmechanismus zurück, der benutzt wurde. Dieser Schluss ist in dieser Form nicht zulässig.

4. Schließlich ist die Behauptung, die Versuchspersonen hätten gegen ihre eigenen moralischen Maßstäbe verstoßen, schon deshalb falsch, weil diese überhaupt nicht abgefragt wurden - weder vor noch nach dem Experiment. Wir wissen also nicht, welcher Anteil der Probanden gegen das Töten überzähliger Labormäuse, wie es tagtäglich geschieht, moralische Bedenken hat.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die sehr weitreichenden Schlussfolgerungen, die Falk und Szech aus ihrem Experiment ziehen, keine wissenschaftlich tragfähige Grundlage besitzen. Insbesondere lässt sich die reißerische - und von den Medien gern aufgegriffene - Schlagzeile, dass Märkte die Moral zersetzen, keinesfalls aus den Ergebnissen ableiten.

Die Autoren

Friedrich Breyer ist seit 1992 Ordinarius für Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz und seit 2000 zudem Forschungsprofessor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und war 2006-09 Vorsitzender des Ausschusses für Gesundheitsökonomie im Verein für Socialpolitik.

Joachim Weimann ist seit 1994 ist Weimann Inhaber des Lehrstuhls VWL III an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Er ist Vorsitzender der Gesellschaft für experimentelle Wirtschaftsforschung, Mitglied des DFG-Fachkollegiums Wirtschaftswissenschaft und des sozialwissenschaftlichen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik. Seine Forschungsinteressen liegen in der Umweltökonomik, der Arbeitsmarktpolitik und der experimentellen Wirtschaftsforschung.

Kooperation

Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

Literatur

  • Breyer, F., Weimann J., (2014), Of Morals, Markets and Mice: A Comment on Falk and Szech. CESIFO Working Paper No. 4745.
  • Falk, A. and N. Szech (2013a), Morals and Markets, Science 340, 707-711.
  • Falk, A. and N. Szech (2013b), Supplementary Materials for "Morals and Markets".
  • Kocher, M. G., M. Sutter (2005), The Decision Maker Matters: Individual Versus Group Behavior in Experimental Beauty-Contest Games, The Economic Journal, 115, 200 - 223.

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