Das "EU-Integrationspuzzle"

Bildagentur Waldhäusl
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Die seit dem Zweiten Weltkrieg immer tiefere europäische Integration hätte die EU eigentlich ökonomisch dynamischer machen sollen als die USA.

Warum klafft eine Lücke zwischen erwarteten und realisierten Integrationseffekten auf EU-Ebene? Die seit dem Zweiten Weltkrieg immer tiefere europäische Integration hätte die EU eigentlich ökonomisch dynamischer machen sollen als die USA. Wie kann man dieses "Integrationspuzzle" erklären?

Theoretisch müsste Europa, insbesondere die Europäische Union aufgrund ihrer stetigen integrationspolitischen Vertiefung die USA ökonomisch bereits weit hinter sich gelassen haben. Die Realität sieht leider ganz anders aus. Diesen Widerspruch kann man als "Integrationspuzzle" bezeichnen. Nicht nur wächst Europa im Durchschnitt der letzten Jahrzehnte langsamer als die USA, die globale Finanz- und Wirtschaftskrise – ausgelöst in den USA – hat Europa und hier besonders die Peripheriestaaten der Eurozone besonders hart getroffen. Aus der Krise hat sich die US-Wirtschaft wieder deutlich erholt und übertrifft bereits das Vorkrisenniveau, während die EU erst knapp das Vorkrisenniveau erreicht hat und ansonsten wegen der selbstauferlegten Schuldenabbaustrategie eher in eine Phase abnehmender Grenzerträge einschwenken dürfte. Zusätzlich werden die Sanktionen gegen Russland Europas Wirtschaft härter treffen als jene der USA.

Die heutige Europäische Union hat sich seit ihrer Gründung als EWG ökonomisch zum einen immer stärker integriert bzw. vertieft und zum anderen ständig erweitert. Die Integration schritt kontinuierlich voran von einer reinen Zollunion in den sechziger Jahren zum Kernstück der Integration, dem Binnenmarkt Anfang der neunziger Jahre mit den vier Freiheiten. Als vorläufige Krönung der Wirtschaftsintegration gilt die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und die Einführung des Euro in derzeit mehr als der Hälfte der EU-Mitgliedstaaten. Rechtlich begleitet und begründet wurden diese Integrationsschritte mit Reformen der EWG-/EG-/EU-Verträge. Nach dem 2005 der Vertrag über eine Verfassung für Europa von Franzosen und Niederländern verworfen wurde, bastelte sich die EU als Kompromiss den Lissabon-Vertrag. Allerdings ist er bereits im Jahr des Inkrafttretens durch die Turbulenzen der "Eurokrise" obsolet geworden. Parallel zur Vertiefung hat sich die EWG/EG/EU schrittweise erweitert, von der ursprünglichen Sechsergemeinschaft auf nunmehr 28 Mitgliedstaaten.

Jeder Schritt sollte mehr Wachstum bringen

Für den ersten Integrationsschritt in den sechziger Jahren, der Bildung der Zollunion, wurden theoretisch nur Handelseffekt (vor allem handelsschaffende), aber keine Wachstumseffekte vorausgesagt. Danach jedoch sagten alle ex ante-Studien – angefangen vom Cecchini-Bericht über die Segnungen des Binnenmarktes bis zu allen akademischen Analysen – für die weitere Vertiefung der EU-Integration ab den neunziger Jahren (insbesondere: Schaffung des Binnenmarktes 1993, Einführung des Euro im Rahmen der neuen WWU 1999/2002 und nicht zuletzt die große EU-Erweiterung nach Osteuropa in den Jahren 2004/2007) positive Handels-, Wohlfahrts- und Wachstumseffekte voraus.

Im Gegensatz zur Vinerschen Zollunionstheorie gab und gibt es für die folgenden komplexeren Integrationsschritte wie Binnenmarkt und WWU keine einheitliche Theorie. Daher wurden die Wachstumseffekte aus einem Sammelsurium von erwarteten Einzeleffekten modellmäßig simuliert. Von der Schaffung des Binnenmarkts und auch der WWU wurde vor allem angenommen, dass Größen- bzw. Skaleneffekte (Produktivitätseffekte) ein Haupttreiber für mehr Wachstum sein könnten. Im Falle der WWU war man eigentlich im Wesentlichen auf die Theorie optimaler Währungsräume à la Mundell angewiesen.

Bereits im Jahr 2000 schwante allerdings den Staats- und Regierungschefs, dass die Wachstumssegnungen des Binnenmarktes nicht das hielten, was man sich von ihnen versprach. Daher wurde dem Binnenmarktprogramm mit der "Lissabon-Strategie" eine Wachstums- und Beschäftigungsstrategie aufgestülpt. Mit diesem ehrgeizigen Wachstumsprogramm "plante" man, dass die EU bis 2010 zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt werden sollte. Nicht zuletzt wegen des dramatischen Wachstumseinbruchs durch die "Große Rezession" 2009 wurde dieses Ziel weit verfehlt. Eingedenk des immer noch bestehenden "Integrationspuzzles" versuchte die EU im Jahr 2010 von neuem die Lücke zwischen Integrationserwartung und Realisation durch eine Neuauflage der Wachstumsstrategie, nunmehr "Europa 2020" genannt, langsam bzw. endgültig zu schließen.

Vorwiegend bedingt durch den Aufhol- und Nachholprozess nach dem Zweiten Weltkrieg wuchsen Europas Wirtschaften rascher als jene der USA. Ab den achtziger und neunziger Jahren hat sich aber das Wachstum in Europa trotz intensiven Integrationsbestrebungen gegenüber jenem der USA verlangsamt. Laut Daten von Eurostat wuchs in den USA das reale BIP im Durchschnitt pro Jahr zwischen 1960 und 1970 um 4,2%, in der EU-15 um 4,8%. Zwischen 1970 und 1980 lag die Wachstumsrelation bei 3,2% zu 3,1%. Beim jährlichen Wachstum des realen BIP pro Kopf (dies ist im Vergleich mit den USA aussagekräftiger) hielt die EU-15 mit 4,0% (1960-70) und 2,6% (1970-80) noch den Vorsprung vor den USA (2,9% bzw. 2,1%). Ab 1980 fiel die EU-15 in beiden Wachstumsindikatoren hinter die USA zurück. Für das BIP-Pro-Kopf-Wachstum ergibt sich folgendes Bild: 1980-90, EU-15 +2,2%, USA +2,4%; 1990-2000, EU-15 +1,7%, USA +2,2%. Während und nach der "Großen Rezession" (2007-2015) reüssierten die USA mit einem Wachstum von +0,7% deutlich besser als die EU-15 (-0,1%).

Selbst von der Ostöffnung 1989 hat die alte EU-15 im Durchschnitt nicht besonders profitiert: Wachstum des realen BIP pro Kopf (reales BIP) zwischen 1989 und 2007: 1,7% (2,4%), während die USA ein Wachstum von 1,9% (3,0%) erzielten. Diese unterschiedliche Wachstumsdynamik spiegelt sich auch in der Entwicklung des "Wohlstandsabstands" zu den USA. Im Jahr 1960 lag das BIP pro Kopf (zu Kaufkraftparitäten) in den USA noch um 60% über dem Niveau von EU-15. Durch das raschere Wachstum in Europa in der Wiederaufbauphase schrumpfte der Vorsprung der USA: bis zum Jahr1970 bzw. 1980 auf 43% bzw. 35%. Durch das Ausbleiben des erhofften Wachstumsschubs als Folge der Vertiefung/Erweiterung der EU-Integration (Binnenmarkt, WWU und EU-Erweiterung) vergrößerte sich der Wohlstandsabstand der USA zur EU wieder: 1990 betrug er bereits wieder 38% und dürfte bis 2015 wieder auf 44% ansteigen.

Einzelne Mitgliedsländer haben aber durchaus besser reüssiert als der Durchschnitt der EU; d.h. für sie gilt das "Integrationspuzzle" offensichtlich nicht. Das gilt für Deutschland und besonders für Österreich. Deutschland ist in allen Zehnjahresphasen seit 1960 rascher gewachsen als die USA. Eine Ausnahme stellen die Jahre rund um die Wiedervereinigung dar. Der Wachstumsvorsprung Österreichs zur EU-15 bzw. gegenüber Deutschland in der Periode seit der Ostöffnung (1989) bis zum Vorkrisenjahr 2007 betrug, gemessen am realen BIP 0,2 Prozentpunkte pro Jahr; gemessen am realen BIP pro Kopf war der Abstand noch größer – gegenüber der EU-15 0,4 Prozentpunkte, gegenüber Deutschland sogar 1,3 Prozentpunkte.

Diese Wachstumsvorsprünge Österreichs wären ohne positive Integrationseffekte nicht erklärbar. Tatsächlich zeigt eine der wenigen ex-post-Studien, dass Österreich von jedem Integrationsschritt seit 1989 profitiert hat: durch die Ostöffnung stieg das reale BIP jährlich um 0,2%, durch den EU-Beitritt 1995 um 0,6%, durch die Teilnahme an der WWU um 0,5% und durch die große EU-Erweiterung 2004/07 um 0,2%. Insgesamt dürfte das reale BIP in Österreich durch die vertiefte EU-Integration seit 1989 um rund einen Prozentpunkt pro Jahr zusätzlich gestiegen sein (siehe Breuss, 2014).

Erklärungsversuche für das "Integrationspuzzle"

Zum Verständnis des "Integrationspuzzles" bieten sich mehrere Erklärungsmöglichkeiten an. Zum einen erreichten die USA bereits vor längerer Zeit jene Integrationstiefe (funktionierender Binnenmarkt, Währungsunion, gemeinsame Sprache), welche die EU erst langfristig anstrebt. Zum anderen machten die einzelnen Integrationsschritte (mit Ausnahme der Gründung der Zollunion) schockartige Anpassungen notwendig: im Binnenmarkt durch die Verwirklichung der vier Grundfreiheiten, das Umgehen mit einem gemeinsamen Wettbewerbsrecht, die solidarische Finanzierung des EU-Haushalts mit der Umverteilung von den reichen zu den armen Mitgliedsländern.

Die noch größere Anpassungslast verursacht die gemeinsame Währung Euro im Rahmen der asymmetrischen wirtschaftspolitischen Architektur der WWU (zentrale Geldpolitik der EZB für den Durchschnitt des Euro-Raumes, Koordination der Fiskalpolitik durch die strengen Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes). Diese Systemschwäche hat die "Eurokrise" drastisch vor Augen geführt und Reformen in der "economic governance" notwendig gemacht. Hauptsächlich zielen sie auf fiskalische Restriktionen – Schuldenabbau – ab und sind sicherlich mittelfristig nicht wachstumsförderlich.

Das "Integrationspuzzle" deckt auf, dass viele Ansätze der modernen endogenen Wachstums- und Integrationstheorie (z.B. à la Romer et al.) nicht mit den empirischen Fakten in Einklang zu bringen sind. Insbesondere gilt als widerlegt, wonach eine Verdoppelung des Integrationsraumes (EU-Erweiterungen) zu einer "Verdoppelung" der Wachstumseffekte führt. Als Paradebeispiel für die Widerlegung der "Verdoppelungs-These" kann der Fall der deutschen Wiedervereinigung gelten. Durch Erweiterung des Wirtschaftsraumes West-Deutschlands um rund 10% im Zuge der Vereinigung mit der Ex-DDR ist das Wirtschaftswachstum in Gesamtdeutschland nicht gestiegen, sondern sogar gedämpft worden (Stichwort "Kosten der Wiedervereinigung"). Jones hat zwar den Romerschen "Verdoppelungs-Effekt" theoretisch abgemildert, doch dürften die vorausgesagten Wachstumseffekte immer noch zu hoch sein. Auch ökonometrische Befunde, wonach die Wachstumseffekte mit der Dauer der Mitgliedschaft in der EU zunehmen sind mit den empirischen Fakten nicht vereinbar. Eher gilt, dass Integration anfänglich zu einem kurzfristigen Wachstumsimpuls führt, der dann allmählich abklingt. Man muss daher eher mit "abnehmenden Grenzerträgen" der Integration rechnen.

Was bleibt ist die Erkenntnis, das ex-ante-Voraussagen von Integrationseffekten auf Grund alter und neuer Ansätze der Integrationstheorie meist zu optimistisch sind. Die theoretisch – meist mittels Modellsimulationen – vorausgesagten Integrationseffekte lassen sich – aus den verschiedensten Gründen – nicht leicht in die Praxis transformieren. Viele Teile der Integrationstheorie sind daher – weil sie eindeutig falsifiziert wurden - wieder heiße Kandidaten für deren Ersatz durch erklärungstauglichere Theorien.

Kooperation

Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

Autor

Fritz Breuss, Jahrgang 1944, ist Jean Monnet Professor für wirtschaftliche Aspekte der Europäischen Integration an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und seit Oktober 2009 emeritierter Professor für Internationale Wirtschaft an der WU. Bis zur Pensionierung war er zudem am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) tätig und leitet dort gegenwärtig das Kompetenzzentrum „Forschungsschwerpunkt Internationale Wirtschaft". Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die internationale Ökonomie und die Europäische Integration.

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