Eurozone: Der Missbrauch der Beitrittskriterien

A man is silhouetted against 'SUPERFLEX, Euro 2012', a 416.6 cm by 289.6 cm (164 by 114 inch) large photographic print of an Euro coin on sale by the Los Angeles based gallery 1301 PE at the Art Cologne 2015 fair in Cologne
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Um dem Euroraum beitreten zu dürfen, müssen Beitrittskandidaten bestimmte wirtschaftliche Voraussetzungen erfüllen - zumindest in der Theorie.

Um dem Euroraum beizutreten, müssen Beitrittskandidaten bestimmte wirtschaftliche und finanzielle Voraussetzungen erfüllen: die bekannten Konvergenzkriterien. Wie dieser Beitrag zeigt, wären bei fünf der acht seit 1999 dem Euroraum beigetretenen EU-Staaten die Kriterien nicht erfüllt gewesen. Seit 1999 sind acht weitere EU-Staaten der Währungsunion beigetreten: Griechenland (2001), Slowenien (2007), Malta und Zypern (2008), die Slowakei (2009), Estland (2011), Lettland (2014) und Litauen (2015). Jedes Mal haben die Europäische Kommission, die EZB und der Rat überprüft, ob der betreffende Staat die Konvergenzkriterien erfüllte.

Die Konvergenzkriterien sind in Artikel 140 AEUV und im Protokoll über die Konvergenzkriterien niedergelegt. Leider stimmen die beiden Rechtsquellen nicht überein.

Was das Inflationskriterium angeht, fordert Art. 140 AEUV "die Erreichung eines hohen Grades an Preisstabilität, ersichtlich aus einer Inflationsrate, die der Inflationsrate jener – höchstens drei – Mitgliedstaaten nahe kommt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben". Absatz 1 des Protokolls präzisiert nicht nur, dass die "während des letzten Jahres vor der Prüfung gemessene durchschnittliche Inflationsrate … um nicht mehr als 1 ½ Prozentpunkte" über der Inflationsrate dieser Referenzländer liegen darf; er fügt auch hinzu, dass der beitretende Staat "eine anhaltende Preisstabilität" aufweisen muss. Im Deutschen ist nicht eindeutig, ob sich das Wort "anhaltend" auf die Vergangenheit oder auf die Zukunft bezieht. Die englische Fassung fordert "a price performance that is sustainable". Es geht daher um die Zukunft. Die Analyse der Vergangenheit ist jedoch der Schlüssel für jede fundierte Prognose zukünftiger Entwicklungen. Es muss die berechtigte Erwartung bestehen, dass die Inflationsrate innerhalb der 1 ½ Prozent-Marge bleiben wird. Wir werden sehen, dass diese Bedingung mehrfach verletzt worden ist. Bei den höchstens drei Mitgliedstaaten, die zum Vergleich herangezogen werden sollen, handelt es sich kurioserweise nicht um die drei Euro-Staaten, sondern die drei EU-Staaten, die die niedrigsten Inflationsraten aufweisen. Bemerkenswert ist auch, dass deflationierende Länder nicht zum Vergleich herangezogen werden, selbst wenn ihre Deflationsrate geringer als die niedrigste Inflationsrate ist.

Was die staatliche Haushaltspolitik betrifft, fordert Art. 140 AEUV "eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, ersichtlich aus einer öffentlichen Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit". Im Protokoll ist die Dauerhaftigkeit kein Thema. Ob das Defizit übermäßig ist, wird gemäß Art. 140 und gemäß Protokoll durch Art. 126 Abs. 6 AEUV bestimmt. Nach Art. 126 Abs. 2 muss nicht nur die Defizitgrenze eingehalten werden, sondern auch die Schuldenquote normalerweise unter dem Referenzwert liegen oder hinreichend rückläufig sein. Art. 126 Abs. 2 verweist auf das Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit. Dort werden die Referenzwerte für das Defizit (3 Prozent des BIP) und den Schuldenstand (60 Prozent des BIP) festgelegt. Man kann die Meinung vertreten, dass das Schuldenstandskriterium in allen Fällen im Jahr vor der Prüfung erfüllt war. Wir werden jedoch zeigen, dass das Defizitkriterium in zwei Fällen nicht eingehalten wurde. Nach Art. 126 kommt es nicht nur darauf an, ob die beiden Obergrenzen überschritten sind, sondern auch ob der Rat – was ja keineswegs automatisch folgt – "nach Prüfung der Gesamtlage" entschieden hat, dass ein übermäßiges Defizit besteht.

Das Wechselkurskriterium wurde 1993 durch die Entscheidung, die Bandbreiten von ± 2,25 Prozent auf ± 15 Prozent zu erweitern, praktisch zur Bedeutungslosigkeit verdammt.

Das Zinskriterium besagt laut Protokoll, "dass im Verlauf von einem Jahr vor der Prüfung in einem Mitgliedstaat der durchschnittliche langfristige Nominalzinssatz um nicht mehr als 2 Prozentpunkte über dem entsprechenden Satz in jenen – höchstens drei – Mitgliedstaaten liegt, die auf dem Gebiet der Preisstabilität das beste Ergebnis erzielt haben". Nachhaltigkeit wird nicht verlangt. Das Zinskriterium ist leicht zu erfüllen, weil schon allein die Erwartung des Beitritts die Inflationserwartungskomponente und die Risikoprämie im Zins reduziert.

Die acht nachträglich beigetretenen Staaten haben das aufgeweichte Wechselkurskriterium und das Zinskriterium problemlos erfüllt. Es lag auch keine Ratsentscheidung nach Art. 126 Abs. 6 AEUV gegen sie vor. Sie hätte aber – wie wir zeigen werden – in zwei der Fälle getroffen werden müssen.

Im Folgenden prüfen wir, ob die acht Staaten "anhaltende Preisstabilität" und "eine auf Dauer tragbare Finanzlage" aufwiesen. Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

  • Griechenland (2001)

Das Inflationskriterium wurde nicht nachhaltig erfüllt: im Zeitraum 2001-08 lag die jahresdurchschnittliche griechische Inflationsrate (3,5 Prozent) um mehr als 1,5 Prozentpunkte über der der drei preisstabilsten EU-Staaten (1,6 Prozent). Dies war vorhersehbar, denn Griechenland hatte aufgrund seiner niedrigen Ausgangsbasis und hoher Nettokapitalimporte mit starkem Wirtschaftswachstum zu rechnen. Eine stärker wachsende Volkswirtschaft hat aus einer Reihe von Gründen in einer Währungsunion eine höhere Inflationsrate als die anderen Länder, d.h., es verzeichnet zwangsläufig eine "reale Aufwertung". Dafür gibt es mehrere Gründe. [*siehe Fußnote] Außerdem hatte die griechische Regierung, wie die EZB in ihrem Konvergenzbericht (2000, S. 16ff.) monierte, die Inflationsrate im Referenzzeitraum (April 1999 bis März 2000) nur durch einmalige Maßnahmen innerhalb der zulässigen Marge halten können. Dazu gehörte eine Senkung der indirekten Steuern und ein "informelles Übereinkommen mit Handels- und Industrieunternehmen" über eine Preissenkung bei wichtigen Warengruppen.

Das Haushaltsdefizit des Referenzjahres 1999 wurde durch "kreative Buchführung" einmalig von 3,4 auf 1,6 Prozent gedrückt (Eurostat 2004). Zum Beispiel wurden die Militärausgaben nicht hinreichend berücksichtigt. Außerdem setzte die Regierung plötzlich die schattenwirtschaftlichen Aktivitäten sehr viel höher an und vergrößerte dadurch den Nenner der Defizitquote. Schließlich wurden zukünftige Einnahmen über Goldman Sachs verbrieft und als Wertpapiere verkauft. Unter dem Eindruck der rückläufigen offiziellen Defizitzahlen hob der Rat im November 1999 seinen Beschluss auf, dass Griechenland ein übermäßiges Defizit habe. Das griechische Haushaltsdefizit war nach 1999 in jedem Jahr größer als 3 Prozent. Von 2000 bis 2007 betrug es im Durchschnitt 5,6 Prozent (OECD). Der griechische Beitritt war daher in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig.

  • Slowenien (2007)

Aufgrund seines starken Wirtschaftswachstums wertet Slowenien in erheblichem Umfang gegenüber den anderen Euro-Staaten auf. Es muss daher wesentlich höhere Inflationsraten als diese haben. Schon 2007 und 2008 lag die slowenische Inflationsrate deutlich oberhalb der zulässigen Marge. Erst die Finanzmarktkrise brachte die slowenische Inflationsrate wieder ins Band. Der Beitritt war daher zumindest problematisch.

Das slowenische Haushaltsdefizit war seit 2002 geringer als 3 Prozent und stieg nur wegen der Finanzmarktkrise ab 2009 auf sehr viel höhere Werte an (2009-13: 7,3 Prozent). Das Defizitkriterium war daher erfüllt.

  • Malta (2008)

Auch die maltesische Inflationsrate überstieg schon 2007 und 2008 die zulässige Marke, aber Maltas langfristiges Wirtschaftswachstum ist bei weitem nicht so hoch wie das slowenische.

Das maltesische Haushaltsdefizit lag im Referenzjahr 2006 nur aufgrund einmaliger Grundstücksverkäufe unter 3 Prozent. Wie die EZB in ihrem Konvergenzbericht (2007, S. 55ff.) vorrechnete, wäre das Defizit ohne die Grundstücksverkäufe 3,3 statt 2,6 Prozent gewesen. Der Beitritt war daher rechtswidrig. Der Rat hob jedoch seinen Beschluss auf, dass Malta ein übermäßiges Haushaltsdefizit habe. In den Jahren 2007 und 2011-13 wurde das Defizitkriterium anscheinend erfüllt.

  • Zypern (2008)

Die zyprische Inflationsrate ist in allen Jahren außer 2008 innerhalb der zulässigen Marge geblieben. Auch das Defizitkriterium wurde im Referenzjahr und bis zum Ausbruch der Finanzmarktkrise eingehalten.

  • Slowakei (2009)

Als ehemaliges Ostblockland weist die Slowakei ein starkes Wirtschaftswachstum auf und muss daher real aufwerten. Um trotzdem vorübergehend das Inflationskriterium zu erfüllen, wertete die slowakische Regierung ihre Währung vor dem Beitritt im Rahmen der erweiterten Bandbreite um nominal 8,9 Prozent gegenüber dem Euro auf. Die EZB äußerte daher in ihrem Konvergenzbericht (2008, S. 56f.) "erhebliche Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Inflationskonvergenz". Seit dem Beitritt zur Währungsunion lag die slowakische Inflationsrate nur 2011 und 2012 außerhalb des zulässigen Bandes. Der Beitritt war jedoch zumindest problematisch.

Das slowakische Haushaltsdefizit war ab 2003 in fast allen Jahren geringer als 3 Prozent, stieg 2009-12 vorübergehend auf höhere Werte, fiel dann aber 2013 wieder unter 3 Prozent.

  • Estland (2011)

Das Referenzjahr 2009 war seit 2003 das erste Jahr, in dem die estnische Inflationsrate innerhalb der zulässigen Marge lag. Von 2001 bis 2008 betrug die jahresdurchschnittliche estnische Inflationsrate 4,9 Prozent, die Referenzrate 1,6 Prozent. Da Estland in dieser Zeit ein Currency Board mit festem Wechselkurs gegenüber dem Euro hatte, signalisiert diese Differenz einen starken realen Aufwertungsbedarf, der auf das anhaltend starke Wirtschaftswachstum zurückzuführen ist. Die EZB blickte in ihrem Konvergenzbericht (2010, S. 44f.) "mit Sorge" auf diese Inflationsentwicklung zurück. Auch nach dem Referenzjahr, im Zeitraum 2010-14, lag die jahresdurchschnittliche estnische Inflationsrate (3,1 Prozent) um mehr als 1,5 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der drei preisstabilsten Länder (1,1 Prozent). Der Beitritt Estlands war daher rechtswidrig.

Das estnische Haushaltsdefizit war dagegen seit dem Jahr 2000 fast immer geringer als drei Prozent (OECD).

  • Lettland (2014)

Lettland hat ebenfalls ein starkes Wirtschaftswachstum und infolgedessen einen erheblichen realen Aufwertungsbedarf. Im Jahr 2005 führte es ein Currency Board mit fester Parität zum Euro ein. Von 2005 bis 2011 belief sich die jahresdurchschnittliche lettische Inflationsrate auf 6,3 Prozent, die Referenzrate auf 1,5 Prozent. Zwar lag die lettische Inflationsrate im Jahr vor der Prüfung ausnahmsweise innerhalb der zulässigen Marge, aber anhaltende Preisstabilität war und ist nicht zu erwarten. Die EZB äußerte deshalb in ihrem Konvergenzbericht (2013, S. 51) "Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Inflationskonvergenz". Der Beitritt war rechtswidrig.

Das lettische Haushaltsdefizit lag dagegen nicht nur 2012 und 2013, sondern auch in den Jahren vor der Finanzmarktkrise stets weit unter 3 Prozent.

  • Litauen (2015)

Litauen führte 1994 ein Currency Board mit fester Parität zum Euro ein. Da seine Wirtschaft stark wächst und einen ausgeprägten realen Aufwertungstrend aufweist, war seine jahresdurchschnittliche Inflationsrate von 2004 (dem Jahr des EU-Beitritts) bis 2012 4,1 Prozent – verglichen mit der Referenzrate der drei preisstabilsten EU-Staaten von 1,5 Prozent. Der Abstand wird bleiben. Die litauische Inflationsrate befand sich im Jahr vor der Prüfung nur ausnahmsweise innerhalb der zulässigen Marge. Ähnlich wie bei Estland und Lettland äußerte die EZB in ihrem Konvergenzbericht (2014, S. 90) „Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Inflationskonvergenz“. Der Beitritt war rechtswidrig.

Das litauische Haushaltsdefizit lag in den Jahren 2008-12 jeweils über 3 Prozent, davor jedoch seit seinem EU-Beitritt stets darunter.

Tabelle 1: Der Missbrauch der Konvergenzkriterien

Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 zusammengefasst. In fünf der acht Fälle (Griechenland, Malta, Estland, Lettland, Litauen) war die Aufnahme in die Währungsunion eindeutig rechtswidrig. In zwei weiteren Fällen (Slowenien, Slowakei) war sie zumindest rechtlich problematisch. Was die Slowakei angeht, hat die EZB in ihrem Konvergenzbericht ausdrücklich Bedenken angemeldet. Nur der Beitritt Zyperns ist – wenn man den Statistiken trauen darf – rechtlich nicht zu beanstanden.

Die Autoren

Linda Victoria Schmidt (*1993) ist Bachelor Studentin an der Fakultät Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim. Neben ihrem volkswirtschaftlichen Studium belegt sie zusätzlich Kurse der Betriebswirtschaftslehre.

Roland Vaubel (*1948) ist seit 1984 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim deutschen Wirtschaftsministerium.

Kooperation

Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

* Anmerkung: Stärker wachsende Volkswirtschaften weisen in einer Währungsunion höhere Inflationsraten auf, weil sich die nicht handelbaren Güter und Dienstleistungen im Wachstumsprozess gegenüber den handelbaren Gütern und Dienstleistungen verteuern, während die Preise der handelbaren Güter und Dienstleistungen arbitragebedingt überall in gleichem Umfang steigen. Die Tatsache, dass sich die Güter und Dienstleistungen der stärker wachsenden Volkswirtschaften insgesamt gegenüber den Gütern und Dienstleistungen der schwächer wachsenden Volkswirtschaften verteuern, wird als "reale Aufwertung" bezeichnet. Es gibt verschiedene Erklärungen für diesen klaren Befund. Harrod, Balassa und Samuelson haben ihn unabhängig voneinander damit erklärt, dass der Produktivitätsfortschritt im Sektor der handelbaren Güter und Dienstleistungen größer ist als im Bereich der nicht handelbaren Güter und Dienstleistungen. Da in beiden Sektoren arbitragebedingt die gleichen Löhne gezahlt werden müssen, verbilligen sich die handelbaren Güter und Dienstleistungen relativ zu den nicht handelbaren. Eine weitere Erklärung besagt, dass der Dienstleistungsanteil im Sektor der nicht handelbaren Güter und Dienstleistungen größer ist als in dem der nicht handelbaren und dass sich die (arbeitsintensiven) Dienstleistungen im Wachstumsprozess gegenüber den kapitalintensiveren Gütern verteuern, weil das Arbeitsangebot nicht so schnell wächst wie der Kapitalstock (oder sogar schrumpft). Es könnte aber auch sein – dies ist die dritte Erklärung –, dass sich die nicht handelbaren Güter und Dienstleistungen gegenüber den handelbaren Gütern und Dienstleistungen im Wachstumsprozess verknappen, weil sich die Nachfrage der Menschen mit steigendem Einkommen von den Gütern zu den Dienstleistungen verschiebt.

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