Wie aus vergleichsweise überschaubaren Fällen Grundsatzfragen mit großer Tragweite für die Volkswirtschaft werden.
Innsbruck. Im englischen Fall einer verwesten Schnecke in einer Bierflasche aus dem Jahr 1932 fragte Lord Buckmaster treffend: „If we go one step beyond that there is no reason why we should not go fifty.“ Er verwies damit auf die Folgewirkung von Urteilen, wenn deren Prinzipien (hier: Haftung auch ohne vertragliche Beziehung) auf andere Bereiche (nur bei Schnecken oder auch in anderen Fällen) ausgedehnt werden sollen.
Eine ähnliche Problematik ergab sich für den EuGH bei der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung: Soll man für eine in einem anderen Mitgliedstaat gekaufte Brille den gleichen Anspruch auf Kostenerstattung haben wie im eigenen Mitgliedstaat? Dieser erste Schritt schien vertretbar und wurde vom EuGH 1998 bejaht.
Die Frage weiterer Schritte zur Patientenmobilität stellt sich vor allem in Hinblick auf die Zuständigkeit der EU-Staaten „für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung“. Im Fall einer an Hüftarthritis leidenden Engländerin entschied der EuGH 2006, dass zu Planungszwecken zwar Wartelisten zulässig seien, jedoch ein nach medizinischen – nicht administrativen – Gründen vertretbarer Zeitraum nicht überschritten werden darf.
Schwer herzkranke Rumänin
Im jüngst entschiedenen Fall (C-268/13; „Die Presse“ hat berichtet) einer schwer herzkranken Rumänin stellte sich die Frage, ob man nach der Verordnung über die soziale Sicherheit das Recht hat, sich auf Kosten seines Versicherungsmitgliedstaates im Ausland behandeln zu lassen, wenn im heimischen Krankenhaus Medikamente und grundlegendes medizinisches Material fehlen. Eine schwierige Abwägung zwischen der Gesundheit einer – wenn auch einzigen – Bürgerin und der prekären Lage im nationalen Gesundheitssystem.
Der Generalanwalt hatte zwischen punktuellen Mängeln einerseits und „strukturellen, allgemeinen und andauernden“ andererseits unterschieden. Im ersten Fall habe man sowohl bei personellen als auch bei Mängeln an medizinischen Mitteln Anspruch auf Patientenmobilität; im zweiten nicht, selbst wenn „bestimmte gesundheitliche Leistungen tatsächlich nicht [!] erbracht werden können“. Vielleicht verständlich aus nationaler Sicht, wenn wie hier die Operation in Deutschland 17.715 Euro kostete. Vermutlich nicht verständlich (aus Patientensicht), wenn eine lebensnotwendige Gesundheitsversorgung im Endeffekt ausbleibt.
Die Gründe für die Nichterbringung einer Gesundheitsdienstleistung können vielfältig sein, die Wirtschaftskrise ist nur eine mögliche Ursache. Das Dilemma der faktischen (finanziellen) Unmöglichkeit der Leistungserbringung im Verhältnis zu unter Umständen lebensnotwendigen Behandlungen ist nur schwer aufzulösen.
Der EuGH löst dieses Dilemma auf, indem er seine Rechtsprechung zum maximalen Zeitraum bestätigt, zugleich aber nicht nur auf ein einzelnes Krankenhaus abstellt, sondern die „Ebene sämtlicher Krankenhauseinrichtungen des Wohnsitzmitgliedstaats“ betont. Statt auf punktuelle oder strukturelle Mängel stellt er nach wie vor auf einen objektiv bemessenen Zeitraum ab. Gleichzeitig betont er aber die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, im Rahmen aller heimischen Krankenhäuser ausgleichend zu wirken.
Die Rechtsprechung, die mit einer Brille begann, kann also weitreichende Fragestellungen auslösen. Auch wenn der EuGH eine ausgewogene Entscheidung getroffen hat, bleibt deren Umsetzung im Einzelfall komplex. Das rumänische Gericht wird klären müssen, ob die von Frau Petru behaupteten Missstände tatsächlich vorlagen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2014)