Wenn eine Elfjährige bei Gericht übersetzt

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VwGH beschäftigte sonderbare Verhandlung.

Eine – nicht der deutschen Sprache kundige – Bezieherin der Mindestsicherung wurde in einem Bescheid der Stadt Wien verpflichtet, zu Unrecht bezogene Mindestsicherung in der Höhe von 4227 Euro zurückzuzahlen. Die Frau erhob Revision gegen diesen Bescheid. Es kam zu einer mündlichen Verhandlung.

Sie lief sonderbar ab, denn die vom Gericht bestellte Dolmetscherin erschien nicht, sodass der erst elfjährigen Tochter der Frau diese Aufgabe übertragen wurde. Die Causa wurde mit der Frau und ihrer Tochter als Dolmetscherin erörtert. Schlussendlich zog die Frau ihre Beschwerde zurück und das Verwaltungsgericht stellte das Verfahren ein.

Doch das ist nicht das Ende der Geschichte, denn die Frau zog vor den Verwaltungsgerichtshof (VwGH). Sie brachte vor, sie habe aufgrund der Übersetzung ihrer Tochter geglaubt, sie müsse die Beschwerde zurückziehen, um weitere „Bestrafungen“ zu verhindern.

Für den VwGH ein klarer Fall, er hob den Einstellungsbeschluss auf. Seine Begründung: Das Zurückziehen der Beschwerde der Frau ohne Beiziehung eines Dolmetschers sei nur dann wirksam, wenn sie der deutschen Sprache hinlänglich mächtig gewesen wäre, um sich der Tragweite ihrer Entscheidung bewusst zu sein. Genau davon hätte das Verwaltungsgericht nicht ausgehen dürfen: Bei einem elfjährigen Kind, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, ist nicht anzunehmen, dass es in der Lage ist, verfahrensrechtliche Ausdrücke zu verstehen – und deren Folgen seiner Mutter auch klarzumachen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2016)

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