Wie viel Ungleichheit es geben darf

Das Kopftuch: Am Arbeitsplatz kann es zum Streitthema werden. Mehrere Fälle sind zurzeit anhängig.
Das Kopftuch: Am Arbeitsplatz kann es zum Streitthema werden. Mehrere Fälle sind zurzeit anhängig. (c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Ein Unternehmen kann sich für religiöse Neutralität entscheiden, schreibt EuGH-Generalanwältin Kokott. Und selbst Ungleichbehandlungen seien manchmal erlaubt.

Wien. Akribisch ausgearbeitet und mutig sei Juliane Kokotts Schlussantrag, sagt Anwalt Stefan Kühteubl. Unternehmen könnten daraus gute Lehren für die Gestaltung ihrer betriebsinternen Richtlinien ziehen, meint der Arbeitsrechtsspezialist. Es geht, wie gestern berichtet, um einen brisanten Streitfall vor dem EuGH (C-157/15): Dürfen Unternehmen muslimischen Mitarbeiterinnen verbieten, am Arbeitsplatz ein Kopftuch zu tragen? Generalanwältin Kokott bejaht das unter bestimmten Voraussetzungen. Ob der Gerichtshof das auch so sehen wird, ist freilich noch offen (auch wenn er in der Mehrzahl der Fälle den Schlussanträgen folgt).

In dem Rechtsstreit – er betrifft einen Fall aus Belgien – geht es um die Auslegung der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, die unter anderem religiöse Diskriminierungen verbietet, aber auch um das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit. Die Generalanwältin kommt zu dem Schluss, dass Arbeitgeber grundsätzlich das Sichtbarmachen von Religionen oder Weltanschauungen in ihrem Betrieb einschränken dürfen – wenn es für alle in gleicher Weise gilt. Unternehmen können sich, meint sie, bewusst für „zur Schau gestellte Vielfalt“ entscheiden, aber auch, in genauso legitimer Weise, „für eine Politik der strikten religiösen und weltanschaulichen Neutralität“.

Es kann Rechtfertigung geben

Genauso war es in diesem Fall: Es ging um eine Muslimin, die bei G4S Secure Solutions als Rezeptionistin beschäftigt war. Die Firma, die Bewachungs-, Sicherheits- und Rezeptionsdienstleistungen anbietet, hat eine Betriebsordnung, die Mitarbeitern verbietet, im Dienst sichtbare religiöse, politische oder philosophische Symbole zu tragen. Über drei Jahre lang hielt sich die Arbeitnehmerin daran, dann wollte sie jedoch ihr Kopftuch nicht mehr ablegen. Das kostete sie den Job. Unterstützt vom belgischen Zentrum für Chancengleichheit und Rassismusbekämpfung verklagte sie daraufhin die Firma auf Schadenersatz.

Eine unmittelbare Diskriminierung liege nicht vor, meint die Generalanwältin: Denn in der betriebsinternen Vorschrift wird nicht zwischen verschiedenen Religionen differenziert, und Atheisten wären genauso betroffen, wollten sie ihrer Überzeugung etwa durch einen Aufdruck auf dem T-Shirt Ausdruck verleihen.

Dagegen könnte eine mittelbare Ungleichbehandlung sehr wohl gegeben sein – das wäre der Fall, wenn eine Regelung neutral formuliert ist, aber nur bestimmte Gruppen trifft. Nun sind aber Ungleichbehandlungen nicht ausnahmslos verboten. Am Arbeitsplatz können sie laut der Richtlinie gerechtfertigt sein, wenn es um ein Merkmal geht, das für die konkrete Tätigkeit „eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt“. Weitere Voraussetzung: Es muss um einen rechtmäßigen Zweck gehen, und die Anforderung muss angemessen sein.

Nun ist Angemessenheit ein dehnbarer Begriff. Der Schlussantrag enthält jedoch recht konkrete Hinweise, worauf es dabei ankommt (Näheres siehe Lexikon). Etwa darauf, wie sichtbar und auffällig das religiöse Symbol im Verhältnis zur Gesamterscheinung des Arbeitnehmers ist: Etwas Kleines, Dezentes – ein Ohrring, eine Halskette, eine Anstecknadel – sei im Zweifel eher zu gestatten als eine auffällige Kopfbedeckung wie ein Hut, ein Turban oder eben auch ein Kopftuch. Für Uniformträger könnten zudem strengere Verbote gelten. Auch dürfe von einer Autoritätsperson im Zweifel mehr Zurückhaltung erwartet werden als von jemandem in einem untergeordneten Job. Und wer viel Kundenkontakt hat, muss ebenfalls strengere Vorgaben akzeptieren.

„Nicht alles verbieten“

Anhand dieser Kriterien wird es – so der EuGH sie übernimmt – für Unternehmen leichter, betriebliche Richtlinien zu formulieren, die vor Gericht halten, meint Schönherr-Partner Kühteubl. Er empfiehlt, sie so neutral wie möglich abzufassen und möglichst im Dienstvertrag zu verankern. Aber: „Man darf als Arbeitgeber auch künftig nicht glauben, dass man alles verbieten kann.“ Denn es kommt weiterhin auf den Einzelfall an – umso mehr in Österreich, wo die Persönlichkeitsrechte besonderen Schutz genießen (siehe Artikel unten).

Und noch etwas rät der Jurist Arbeitgebern: sich zuerst gut zu überlegen, was man überhaupt will. Die Kernfrage sei: „Wie möchte ich mein Unternehmen darstellen?“ Denn, wie auch Kokott in ihrem Gutachten schreibt: Man kann auch ganz bewusst Vielfalt zum Markenimage machen.

LEXIKON

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Laut dem Gutachten müssen Arbeitgeber, wenn sie religiöse Symbole verbieten wollen, Folgendes beachten:

die Größe und Auffälligkeit des religiösen Zeichens,

die Art der Tätigkeit,

den Kontext, in dem man diese ausübt,

die nationale Identität des Mitgliedstaats. Das heißt etwa, dass in einem Land wie Frankreich, wo der Laizismus im Verfassungsrang steht, stärkere Einschränkungen möglich wären.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2016)

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