Mythen einer Nation – Frankreich und der Große Krieg

Die Trümmer von Haucourt am Fuße der Höhe 304 vor Verdun
Die Trümmer von Haucourt am Fuße der Höhe 304 vor Verdun"Die Große Zeit. Illustrierte Kriegsgeschichte". Zweiter Band. Berlin 1920. S. 213.
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Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg soll der angeschlagenen französischen Nation bei der Bewältigung der wirtschaftlich-politischen Zukunftsprobleme helfen.

Ein französischer Präsident ist kein Historiker. Wenn er an den Großen Krieg von 1914 bis 1918 erinnert, dann betreibt er keine Geschichtsanalyse, sondern macht Politik. Und wenn er von der „härtesten Bewährungsprobe“ für Frankreich spricht wie zuletzt François Hollande beim Auftakt zu den französischen Weltkriegsgedenkfeiern, wenn er die Opferbereitschaft einer Nation im Schulterschluss feiert, dann ist der Hinweis überdeutlich: Es geht nicht nur um Siege der Vergangenheit, sondern auch um die Schlachten, die einer wirtschaftlich schwer angeschlagenen und politisch zerrissenen Nation bevorstehen, die in Gefahr gerät, im Konkurrenzkampf der globalisierten Weltwirtschaft abgehängt zu werden. Am Heroismus der Vergangenheit soll Tatkraft für die Gegenwart und Zuversicht für die Zukunft gewonnen werden.

In Augenblicken größter Gefahr erinnert man sich in Frankreich seit Jeanne d'Arc stets an die Bedeutung des „Heiligen“ für die Nation. Daher greift auch noch die aktuelle französische Politik, wenn sie zum nationalen Konsens aufruft, zurück auf den Appell des Staatspräsidenten Raymond Poincaré von 1914, gestärkt durch die „heilige Einheit“ („Union sacrée“) dem Feind entgegenzutreten. Das war damals keine Kleinigkeit: Wenn es 1914 ein Volk in Europa gab, das politisch tief gespalten war, dann war es das französische, die Dreyfus-Affäre am Ende des 19.Jahrhunderts hatte den latenten Antagonismus zwischen dem laizistisch-republikanischen und dem konservativ-klerikalen Milieu auf die Spitze getrieben. Umso erstaunlicher, wie es durch die „Heilige Union“ gelang, den Zentrifugalismus zu überwinden und die Gräben zwischen Parteien, Klassen, Religionen für vier Jahre einzuebnen. Der französische Autor Roger Martin du Gard hat nach dem Krieg für seinen Roman „Sommer 1914“ historische Recherchen betrieben, um als Vorbild für seine Hauptfigur einen Kriegsgegner zu finden, der für seine pazifistische Gesinnung sein Leben geopfert hätte: Er fand angeblich keinen einzigen.

„Innerer Waffenstillstand“.
Durch die Besetzung seiner Industrieregionen im Nordosten war Frankreich ab 1914 mehr als alle anderen Mächte von seinen wirtschaftlichen Ressourcen abgeschnitten, es verlor die Hälfte seiner Stahlproduktion, die Hälfte seiner Kohlevorräte. Trotzdem gelang die Produktion von gewaltigen Mengen an Rüstungsgütern, Flugzeugen, Panzern, Geschützen, eine ungeheure Leistung, die ermöglicht wurde durch den „inneren Waffenstillstand“ auch aufseiten der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften. Die Konsens- und Opferbereitschaft hielt bis 1917 an, als es durch Inflation, Kohlemangel und militärische Misserfolge zu Meutereien und einer Streikwelle kam. Als es der Regierung des konservativen Georges Clemenceau gelang, den Vorrang der Politik gegenüber dem Militär durchzusetzen, brachte das die Unterstützung durch eine breite parlamentarische Mehrheit und innere Stabilität: Der Sieg im Weltkrieg rückte näher, kein Pazifist oder Sozialist wollte das jetzt noch gefährden.

Eines steht − anders als bei der problematischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg – bei den diesjährigen Centenaire-Feiern außer Frage: Frankreich führte vor 100 Jahren geschlossen einen gerechten Krieg, einen Krieg mit klaren Fronten, mit klarer Rollenverteilung zwischen Guten und Bösen, einen durch den deutschen Aggressor aufgezwungenen Krieg. Kein Gedanke an Revanchismus wegen des Verlustes von Elsass-Lothringen.

Will man ermessen, was die „Grande Guerre“ für Frankreich bedeutet, muss man das Museum von Meaux besuchen, das mitten in den Rübenäckern auf dem historischen Boden der berühmten Schlacht an der Marne von 1914 liegt und in einem Panoramablick die Rekonstruktion eines Schlachtfeldes bietet. Das „Wunder an der Marne“ wird in Frankreich bis heute gefeiert: Unter Mobilisierung aller verfügbaren Reserven war es zwischen dem 5. und 10.September 1914 in der sogenannten ersten Marne-Schlacht gelungen, den deutschen Vormarsch entlang der Marne-Linie aufzuhalten, eine unerwartete Wende, die Frankreich nach dem desaströsen ersten Kriegsmonat vor der Katastrophe rettete. Das deutsche Heer wurde zum Rückzug gezwungen, französische und britische Truppen hatten gemeinsam den deutschen Schlieffen-Plan auf ganzer Linie zum Scheitern gebracht. Französische Soldaten waren zum Teil mit requirierten Taxis an die Front gebracht worden, wofür Joseph Gallieni, der Befehlshaber von Paris, bis heute gefeiert wird. Wenige Tage nach der Schlacht begannen die Soldaten an der Front, die ersten Schützengräben auszuheben, der zermürbende jahrelange Stellungskrieg ohne nennenswerte Gebietseroberungen, aber mit wahnwitzigen Menschen- und Materialverlusten, begann. Initiiert wurde das Museum von Meaux vom Bürgermeister der Stadt, Jean-François Copé, dem Parteichef der konservativen UMP, der zuletzt auch ein Buch über die Marne-Schlacht veröffentlicht hat, das nach Ansicht von Historikern wenig zur Überwindung stur nationaler Sichtweisen beigetragen hat.

Ursprungsmythos. Frankreich wird sich nicht damit begnügen, im September des Geschehens an der Marne zu gedenken. In einem unglaublichen „élan commémoratif“ wird in den nächsten vier Jahren ein ambitioniertes Großprogramm von zentralen und regionalen Gedenkveranstaltungen geboten werden. Vertreter aller 72 kriegsteilnehmenden Staaten werden am 14. Juli 2014 zur Militärparade nach Paris eingeladen, 2016 wird dann ganz im Zeichen der Schlachten von Verdun und Somme stehen, das ehemals belgisch-französische Frontgebiet soll zum Unesco-Weltkulturerbe werden. Die Dimensionen der Gedenkfeiern sind für Österreicher und Deutsche nicht leicht nachvollziehbar, der Erste Weltkrieg hat – so der Historiker Arndt Weinrich – als „Ursprungsmythos des modernen Frankreich“ eine Bedeutung im Symbolhaushalt der Fünften Republik erlangt, „die mit der französischen Revolution von 1789 durchaus vergleichbar ist“ und eine „Sinnressource für die Gegenwart“ bietet.

Erstmals will man sich dem Tabuthema der „Fusillés pour l'exemple“ widmen, der (mindestens) 650 wegen Feigheit vor dem Feind exekutierten französischen Soldaten. Die Beschäftigung mit diesem Thema wurde jahrzehntelang als unangemessene nationale Kritik aufgefasst, Stanley Kubricks Antikriegsfilm „Wege zum Ruhm“ von 1957, der das Thema anhand einer französischen Militäreinheit von 1916 aufgreift, wurde zwanzig Jahre lang in Frankreich nicht gespielt. Die Rehabilitierung der Exekutierten steht noch aus, Pazifisten wollen daher am 5.April 2014 in Limoges einen symbolischen Prozess gegen die verantwortlichen Generäle nachholen. Es geht auch darum, ob die Namen der Füsilierten auf Denkmälern hinzugefügt werden sollen. „Undenkbar“, so die Gruppe der Anciens combattants.

Tabus und Legenden. Eine weitere Tabuverletzung wäre es, würde man mit der Legende aufräumen, dass Frankreich 1914 einen reinen Verteidigungskrieg geführt habe, wenn man begänne, sich mit Christopher Clarks kritischer Sicht auf die französische Politik der Vorkriegsjahre zu beschäftigen. Schritt für Schritt analysiert der Historiker die veränderte Tonlage in der französischen Politik hin zu einer streitlustigeren Haltung. Militärische Stärke wurde zu einer neuen Doktrin der republikanischen Politik, der Wehrdienst wurde von zwei auf drei Jahre verlängert. Doch das in Deutschland viel diskutierte Buch stößt in Frankreich auf wenig Resonanz.

Eine Mitverantwortung wird nur ungern eingeräumt, 1985 sprach der französische Historiker François Caron davon, dass Frankreich den Krieg zwar nicht gewollt, aber akzeptiert habe. Clark geht da viel weiter, wenn er nachweist, dass der französische Staatspräsident Poincaré durch die Unterstützung der russischen Balkanpolitik das Schicksal seines Landes leichtsinnig mit der Krisenregion Balkan verknüpft habe. Der Historiker nennt das „Balkanisierung des französisch-russischen Bündnisses“, und er sieht darin eine gefährliche geopolitische Zündschnur. Clark widmet dem Besuch Poincarés in St. Petersburg vom 21. bis 23. Juli 1914 ein eigenes Kapitel, hier sei die Lunte gezündet worden. Ein Balkankrieg als Eröffnung des großen Konflikts sei für Paris die günstigste Ausgangslage gewesen: Deutschland werde sich Russland zuwenden müssen. Doch Clark geht wohl zu weit, wenn er die französische Politik 1914 als zielgerichtete Imperialpolitik sieht.

Schuldkontroversen? François Hollande weicht dem Thema elegant aus: „Die Jahrhundertfeiern dienen nicht dazu, die Kämpfe von gestern wieder auszutragen, wir haben uns ausgesöhnt und wollen noch enger mit unseren deutschen Freunden zusammenrücken.“ Der hohe Stellenwert der Gedenkkooperation Frankreichs mit Deutschland ist unübersehbar, hier tritt der Kriegsverbündete Großbritannien in den Hintergrund. Es ist zu erwarten, dass in der Feier eines dauerhaft pazifizierten Europa vor der Negativfolie des Ersten Weltkriegs auch so manche Irritation und Entfremdung, die sich in der deutsch-französischen Achse im Zuge der Eurokrise aufgetan haben, eindrucksvoll übertüncht werden. Als Siegernation wird Frankreich – angesichts eines Blutzolls von 1,3 Millionen Toten – dem ehemaligen Erbfeind nicht gegenübertreten. Die Vorstellung eines Kriegs zwischen den beiden ist jedenfalls undenkbar geworden.

Frankreich im Krieg

Das Deutsche Reich erklärt Frankreich am 3.August 1914 den Krieg. Zwischen acht und neun Millionen Franzosen werden für den Kriegsdienst mobilisiert, auch aus den Überseegebieten. Mehr als 75 Prozent der Männer zwischen 20 und 55 Jahren dienen als Soldaten, mehr als 1,3 Millionen von ihnen werden getötet oder gelten als vermisst.

Die Wirtschaftskraft des Landes sinkt im Verhältnis zur Vorkriegszeit um mehr als 30 Prozent. Die reichen Regionen im Nordosten fallen während der Besatzungszeit aus. Durch Anleihen und Kriegskredite steigen die Schulden Frankreichs um mehr als das Doppelte.

220.000 Häuser, die Hälfte aller Straßen und 5600 Kilometer Schiene werden zerstört. Wert der Zerstörungen insgesamt: geschätzte 34 Milliarden Francs.

Der Waffenstillstand wird am 11.November 1918 verkündet, Frankreich ist eine der Siegermächte. Dieser Tag wird ein französischer Feiertag.

Buchtipp

Jean
Echenoz
„14“

Roman 128 S., Hanser Verlag, 14,90 €

Fünf Romanfiguren und ihre traumatischen
Kriegserlebnisse. Ein einzigartiger Roman aus Frankreich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2014)

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