Hugo Portisch: "Wir haben uns getraut"

Hugo Portisch
Hugo Portisch(c) Clemens Fabry/ Die Presse
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ORF-Ikone Hugo Portisch sagt über den russischen Präsidenten Wladimir Putin, dieser regiere autoritär und missachte die Menschenrechte. Aber: Der Westen habe auch schon »mit grimmigen Stalinisten« Verträge geschlossen.

Sie sind für die Österreicher der Mann, der die schwarzen Löcher der Geschichtsschreibung gefüllt hat. Sehen Sie sich selbst auch als Übersetzer für Zeitgeschichte?

Hugo Portisch: Nein, ich habe mich immer nur als Journalist empfunden und nichts anderes getan, als eine normale journalistische Arbeit zu leisten. Als Gerd Bacher zu Sepp Riff und mir kam und sagte: „Traut ihr euch drüber, die jüngste österreichische Geschichte fürs Fernsehen zu rekonstruieren?“, da haben wir gesagt, wir trauen uns. Und das war die Aufgabe.

Aber Sie haben für meine Generation mehr geleistet als alle Unterrichtsminister der Zweiten Republik zusammen.

Da kann ich nur sagen, zwei Unterrichtsminister – Sinowatz und Zilk – haben das aber auch mitunterstützt. Die haben gesagt: Das muss in die Schulen.

Sie haben als Chefkommentator des ORF die Welt bereist und die Auswirkungen des Kalten Krieges erklärt. Ist Ihre Triebfeder auch ein bisschen Abenteuerlust gewesen?

Meine Triebfeder war auf jeden Fall: die Welt zu sehen, die Welt zu erleben. Der Krieg ist aus, die Diktatur ist vorbei, die Welt ist offen – also raus, anschauen, selbst sehen. Und natürlich darüber zu berichten. Lange bevor ich für den ORF tätig wurde. Einer meiner größeren journalistischen Einsätze war 1956 bei der Suez-Krise. Die Frage war, ob sich ein Krieg anbahnte. Ich flog nach Kairo und hatte Glück. Ich traf einen prominenten Mann der Untergrundbewegung, der gute Verbindungen zum Militär hatte. Ich bin mit einem Major in einem Segelflugzeug über die Wüste bei den Pyramiden geflogen und habe an die hundert sowjetische Panzer gesehen, aufgereiht wie für einen Kriegseinsatz. Als ich das berichtete, war das eine Weltsensation. Und dann kam es ja auch zum Krieg zwischen Israel, England, Frankreich und Ägypten.

Gab es auch Situationen, in denen Ihnen so richtig mulmig zumute war?

Ja einige, das gehört zum Geschäft. Im Vietnam-Krieg haben die Amerikaner Journalisten an die Front geflogen. Wir sollten auf einem Flugfeld im Dschungel landen, dem Piloten ist es komisch vorgekommen, dass keine Wachposten zu sehen waren, also hat er durchgestartet. In dem Moment wurden wir von allen Seiten beschossen. Das Flugfeld war vom Vietcong eingenommen. Wir sind gerade noch davongekommen. Die Südvietnamesen haben mich gefragt, ob ich auf eine ihrer Patrouillen mitgehen will – drei Tage waren wir im Dschungel. Als Proviant trugen sie in Käfigen auf ihren Rücken lebende Heuschrecken. Diese sind im Wok geröstet worden. Ein Provinzgouverneur hat mich in seinem Haus im obersten Stock zum Schlafen untergebracht, auf dem Bett lagen eine Maschinenpistole und ein Funkgerät. Er hat gesagt: „Passen Sie auf, in der Nacht kann der Vietcong kommen. Ziehen Sie die Leiter ein, sodass die nicht gleich hinaufkriechen können, und rufen Sie mich an. Wenn Sie doch hinaufkommen, schießen Sie halt.“ Da hab ich gesagt: „Das ist doch Ihr Haus, Gouverneur!“ Sagt er: „Gerade deshalb!“ Als ich frage, wo er schläft, sagt er: „Ah, ich schlaf immer woanders.“

Das Ende des Kalten Krieges und der Fall des Eisernen Vorhangs jähren sich im Herbst zum 25. Mal. Aus Ihrer Sicht allein ein Verdienst von Michail Gorbatschow?

Nein, natürlich nicht. Es war ein Wettbewerb zwischen zwei Systemen. Ein Kalter Krieg war es natürlich auch, man war ja bis an die Zähne atomar bewaffnet. Aber gerade dieses Gleichgewicht des Schreckens verhinderte den heißen Krieg. Chruschtschow und später Breschnew haben wirklich geglaubt, eine „friedliche Koexistenz“ sei möglich. Doch dazu müsste der Besitzstand der Sowjetunion abgesichert werden. Das sollte die KSZE, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, bringen, die von Breschnew initiiert wurde und in Helsinki stattfand. Da wurden viele Forderungen gestellt, die für den Westen schwer zu schlucken waren: die Anerkennung der DDR, die Akzeptanz der Oder-Neiße-Grenze mit Polen. Das waren für den Westen große Sprünge über den eigenen Schatten. Aber die vom Westen eingeforderten Gegenleistungen brachten viel mehr als erwartet: den freien Zugang für Menschen und Ideen. Das heißt, der Sowjetblock gewährte westlichen Journalisten freie Berichterstattung, und westliche Zeitschriften und Zeitungen durften im Osten gelesen, westliche Sender gehört und gesehen werden. Breschnew glaubte vermutlich, dass er das kontrollieren könnte, aber er konnte es nicht. Leute wie der Atomphysiker und spätere Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow haben sich an die Spitze dieser Helsinki-Bewegung gestellt – auf einmal war der Ostblock ein Sieb. Überall gab es Opposition, in Polen, in der Tschechoslowakei, der DDR. Dazu kam das wirtschaftliche Versagen im Osten, während der Westen in Freiheit und Wohlstand lebte. Dieser Druck war es, dem die UdSSR nicht gewachsen war.

Waren Sie jemals in der Ukraine?

Ja, in Kiew.

Hätten EU, die Nato in der jetzigen Krise in der Ukraine anders reagieren müssen?

Eines hätte man immer wissen müssen: Russland ist nach wie vor eine Atommacht und mit seinem Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat unvermeidbarer Mitspieler in der Weltpolitik, siehe Syrien, Iran. Keine Frage, Putin herrscht autoritär und missachtet die Menschenrechte. Aber der Westen hat schon mit grimmigen Stalinisten Verträge geschlossen, um aus dem Kalten Krieg keinen heißen werden zu lassen. Eines fällt doch auf: Was ist aus dem im KSZE-Vertrag scheinbar gesicherten Besitzstand der Sowjetunion, heißt Russlands, geworden? Die DDR, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, sie alle sind heute in der EU und sie alle sind in der Nato. Jetzt geht es um die Ukraine, der Eintritt in die EU ist schon zugesichert, Mitgliedschaft in der Nato nicht ausgeschlossen. Vielleicht hätte es sich für die Spitzenpolitiker des Westens doch gelohnt, zu den Olympischen Winterspielen nach Sotschi – Putins Stolz und sein Versuch, Russland wieder in die erste Reihe zu stellen – zu reisen. Dort hätte man mit Putin über die Menschenrechte in Russland, aber auch und besonders über die Ukraine reden und vielleicht einiges erreichen können.


Ist Russland heute ein tönerner Koloss mit Atomraketen?

Nein, Russland steht nicht auf tönernen Füßen. Auf tönernen Füßen würde Russland stehen, wenn das Land vor einer Revolution stünde. Aber ich sehe Russland nicht am Rand einer solchen Situation. Putin ist stark und hat in der Bevölkerung steigende Popularität – nicht zuletzt wegen seines Vorgehens in der Ukraine.

Im Gedenkjahr 1914/2014: Ist die Situation mit den Jahren vor 1914 vergleichbar?

Ich glaube es nicht. Nach wie vor gibt es die Angst vor einem Atomkrieg, der die Welt vernichten würde, innerhalb von Stunden. Anders als 1914 bewahrt uns vor einem solchen Krieg wie dem Ersten Weltkrieg das atomare Gleichgewicht.

Sind Sie ein Newsjunkie?

Ja, das kann man so sehen. Für mich gilt IDD – Information, Dokumentation, Diskussion.

Ich frage Sie jetzt nicht, warum ORF III Ihr Lieblingssender ist.

Das können Sie mich fragen. Weil er den Auftrag von Kultur und Information erfüllt und sich sehr anstrengt, dem damit verbundenen Anspruch gerecht zu werden.

Sie leben mit Ihrer Frau einen Teil des Jahres in der Toskana. Ist das eine Lebensliebe zu diesem Landstrich?

Darüber haben wir ein ganzes Buch geschrieben, „Die Olive und wir“. Es ist eine überwältigend schöne Landschaft, die Ruhe und Kraft gibt, und eine Liebe, auch zu den Menschen, die dort leben, die uns als völlig Fremde mit ihrer Freundschaft, Sympathie und Gradlinigkeit beeindruckt haben. Die Menschen und die Hunde haben uns aufgenommen.

Sind Sie auf den Hund gekommen?

Ja, mehrfach! Der neueste, den wir jetzt haben, ist auch ein Mischling, einer der gescheitesten Hunde, die wir je hatten.

Sie haben ja sogar Wein gemacht.

Wir haben einige Jahre Wein gemacht. Wir haben einen großen Weingarten nach Lenz-Moser-Hochkultur angelegt – was überhaupt nicht klappte. Jahre später bin ich in Los Angeles, da kommt ein Mann und sagt: Ich heiße Lenz Moser. Und ich erzähl ihm, dass wir Wein nach seiner Methode angebaut haben. Sagt er: „Wo ist das?“ – „In der Toskana.“ – „Das trägt?“ – „Schlecht.“ – „Das muss schlecht tragen.“ – „Warum?“ – „Die haben seit 2000 Jahren eine eigene Weinkultur, die ist dort unübertrefflich!“

zur person

Chefredakteur
Hugo Portisch war 1958 bis 1976 Chefredakteur der Zeitung „Kurier“.

Chefkommentator
1967 wechselte er zum ORF als Chefkommentator.

zur person

Peter Schöber ist Geschäftsführer von ORF III. Er verantwortet die Programmagenden des Senders. Für seine Initiative rund um den Start von ORF III wurde er 2012 mit dem Leopold-Kunschak-Pressepreis ausgezeichnet.
ORF

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2014)

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