Serbien muss sterbien

Der Weg in den Untergang
Der Weg in den Untergang(c) ORF
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Österreich-ungarische Kriegsverbrechen, die 1914 an der Serbien-Front verübt wurden, sind bis heute wenig bekannt. Österreich wird die Aufarbeitung nachholen müssen, denn die Geschichte der Republik bestimmen zwei Kriegsgenerationen.

Šabac, eine serbische Grenzstadt an der Save, im August 1914. Seit Tagen läuft der Angriff österreichisch-ungarischer Truppen, scheitert aber am serbischen Widerstand. Im Chaos des Rückzugs werden 121serbische Zivilisten, Frauen, Männer, Kinder, hinter der Kirche von Šabac erschossen und in einem Massengrab verscharrt. Es ist eines von vielen Massengräbern in und um Šabac.

Einige Wochen später fährt ein Schweizer Universitätsprofessor nach Serbien, auf Einladung der serbischen Regierung. Sein Name: Rudolf Archibald Reiss. Seine Funktion: Leiter eines der ersten europäischen Forensikinstitute an der Universität Lausanne. Sein Auftrag: die Untersuchung österreichisch-ungarischer Kriegsverbrechen, begangen an der Zivilbevölkerung.

Reiss vernimmt Zeugen, sammelt Dokumente, verhört österreichisch-ungarische Kriegsgefangene, exhumiert Massengräber, darunter das in Šabac. Und er erstellt eine detailreiche Dokumentation hunderter Kriegsverbrechen, die im Jahr darauf weltweit publiziert wird. Gemeinsam mit dem, was Kriegsberichterstatter wie der Amerikaner John Reed und internationale Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz aus Serbien berichten, entsteht das Bild einer Großmachtarmee, die mit menschenverachtenden Mitteln einen Krieg gegen einen Kleinstaat führt und in der nicht wenige Kommandanten und Soldaten ihre Enttäuschung und Wut über die militärische Niederlage an der Zivilbevölkerung auslassen, mit Verbrechen wie Massenmord, Folter, Vergewaltigung, Plünderung,...


Kriegsverbrechen passen nicht ins Bild. Bis heute ist die Dokumentation von Reiss nicht ins Deutsche übersetzt und sind die Kriegsverbrechen in Serbien in Österreich kaum bekannt. Andere Verbrechen fanden Eingang in Schulbücher, etwa die Massaker in Belgien 1914 durch deutsche Truppen oder der Völkermord an den Armeniern 1915 und 1916. Die Ereignisse in Serbien passten nicht ins Bild des Habsburger-Reiches, wie es nach 1945 gezeichnet wurde – als Gegenentwurf zum deutschen Nationalsozialismus, als verklärtes Vielvölkerreich, als „verlorenes Paradies“ vor Weltkriegen und Rassismus. Franz Joseph wurde wieder „unser“ Kaiser, Wien um die Jahrhundertwende mit Klimt und Schiele blieb „unser“ Beitrag zur Weltkunst – aber ein vom Zaun gebrochener Angriffskrieg gegen Serbien, mit Kriegstreiberei und Kriegsverbrechen und der Verantwortung für einen Weltkrieg als Folge, das wurde verdrängt.

Dabei ist gerade die Balkanfront 1914 symptomatisch für die Haltung der Monarchie und ihrer Armee. An dieser Front war Österreich-Ungarn allein verantwortlich, alles lief nach einem lang vorbereiteten Kriegsplan ab – und dieser sah von Anfang an ein kompromisslos-hartes Vorgehen gegen die serbische Zivilbevölkerung vor, nicht nur in Serbien selbst, sondern auch in den serbisch besiedelten Gebieten der Monarchie.

In einer propagandistisch angeheizten „Serbien muss sterbien!“-Stimmung führte das bereits in den ersten Tagen des Krieges zu einer Reihe befohlener und individueller Kriegsverbrechen, begangen von Männern, die erst wenige Tage im Krieg waren, ohne Brutalisierung an der Front. Die Befehle gaben vor allem österreichische und ungarische Offiziere, viele aus adeligem Haus. Die einfachen Soldaten kamen aus den Volksgruppen der Monarchie, viele davon waren selbst Slawen.

So klar sich die Planung dieses Aggressionskriegs mit seinen menschenverachtenden Zügen im Großen darstellt, so komplex ist die Situation an einzelnen Abschnitten der Front, mit vielen nationalen, ideologischen und religiösen Konfliktlinien, mit einem Verschwinden der Trennlinien zwischen uniformierten Kriegsteilnehmern und unbeteiligten Zivilisten, mit schwersten Verbrechen von Männern aller Kriegsparteien an Frauen im Kriegsgebiet – und der propagandistischen Instrumentalisierung dieser Verbrechen.

Österreich-Ungarn trug wenig zu einer Aufklärung bei. Bloß das Massaker in Šabac wurde von Offizieren als mögliches Kriegsverbrechen gemeldet. Die Untersuchungen bestätigten das Massaker, aber die Suche nach Schuldigen verlief im Sand. Nach 1918 versuchte Österreich in einer „Kommission zur Erhebung militärischer Pflichtverletzungen“, Schuldige für die Verbrechen des Kriegs zu finden. Auch ihre Arbeit verlief im Sand, kein Einziger wurde für Verbrechen verurteilt.


Eine Aufarbeitung fehlt. In den letzten Jahrzehnten haben Historiker, Politiker und Journalisten die Beteiligung von Österreichern am Nationalsozialismus aufgearbeitet. Der ORF hat in vielen Sendungen zu einer neuen, verantwortungsbewussten Aneignung dieses schmerzhaften Kapitels beigetragen, nicht nur der allgemeinen Zeitgeschichte, sondern auch der Familiengeschichten. Ähnliches wird zum Ersten Weltkrieg stattfinden müssen. Nicht eine, sondern zwei Kriegsgenerationen bestimmten die Geschichte Österreichs im 20.Jahrhundert – und viele der jungen Soldaten, die an der Serbien-Front gekämpft hatten, kehrten im II. Weltkrieg als Offiziere auf den Balkan zurück oder schickten ihre Söhne in diesen Krieg.

In Šabac wurde 1941 unter General Franz Böhme, einem früheren Hauptmann der k. u. k. Armee, ein Konzentrationslager errichtet. Nicht nur ein großer Teil der serbischen Bevölkerung von Šabac wird hier umgebracht, sondern neben Juden aus Šabac auch jüdische Flüchtlinge des sogenannten Kladovo-Transports aus der Tschechoslowakei, Deutschland und Österreich.

zur person

Robert Gokl
ist Historiker, ORF-Redakteur und Gestalter der ORF-Dokumentation „Menschen&Mächte: Der Weg in den Untergang – Sarajewo und der Beginn des Ersten Weltkriegs“.

TV-Hinweis
Am 24.4.2014 um 21.05 Uhr in ORF2.
ORF

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2014)

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