Vor 50 Jahren: Die "kleine Meerjungfrau" wird geköpft

Die kleine Meerjungfrau in Kopenhagen
Die kleine Meerjungfrau in Kopenhagen (c) APA/Reuters
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Angesägt, gestürzt, besprüht: Kaum eine Statue wurde so oft beschädigt wie die "Lille Havfrue" in Kopenhagen. Am 24. April 1964 gab es den ersten Anschlag auf eines der kleinsten Wahrzeichen der Welt.

Sie gab ihre Stimme, um ihre Flosse gegen Beine einzutauschen. Sie versuchte zu tanzen, um dem Prinzen ihre Liebe zu zeigen. Und sie wurde zu Meerschaum, als er sich für eine andere entschied. So erzählte der dänische Dichter Hans Christian Andersen die Geschichte der „kleinen Meerjungfrau" - und inspirierte den Kopenhagener Bildhauer Edvard Eriksen zu einer Bronzefigur mit melancholischem Blick - der einiges Leid widerfahren sollte.

Es ist das Jahr 1909 als der dänische Komponist Fini Henriques beginnt, Andersens Märchen von der „Lille Havfrue" in Musik umzuwandeln. Im Dezember ist das Stück fertig und wird im Königlichen Theater von Kopenhagen aufgeführt. Die Hauptrolle verkörpert die Primaballerina Ellen Prince, die mit ihrer Darbietung den Bierbrauer Carl Jacobsen fasziniert. Jacobsen, damals Dänemarks größter Kunstmäzen, beauftragt daraufhin im Jänner 1910 den Bildhauer Edvard Eriksen eine kleine Meerjungfrau zu modellieren - allerdings erst, nachdem er sich das Märchenballett angesehen habe.

Füße oder Flossen?

Der Künstler nimmt den Auftrag an und entwirft eine Nixe ohne Fischschwanz, dafür mit Beinen und Füßen auf einem Stein sitzend. Jacobsen ist empört, der Künstler hält dagegen, das Mädchen - sie ist in Andersens Geschichte gerade 15 Jahre alt, als sie an Land kommt -, nach ihrer Verwandlung dargestellt zu haben. Schließlich einigen sich die beiden darauf, dass die Meerjungfrau ihre Beine behält, statt der Füße aber kleine Flossen bekommt. In der dänischen Presse machen indes Gerüchte die Runde: Tänzerin Prince selbst soll dem Künstler Modell gesessen haben. Die Ballerina streitet ab. Lediglich ihren Kopf habe Eriksen als Vorlage genommen, Aktmodell sei dessen Ehefrau Eline gewesen.

Als die 125 Zentimeter kleine Bronzestatue schließlich 1911 gegossen wird, folgt der nächste Streit zwischen Bildhauer und Bierbrauer. Zankapfel ist der Ort, an dem sie aufgestellt werden soll. Während Eriksen seine Nixe am stürmischen Meer platzieren will, pocht Jacobsen auf einen Sockel umgeben von Blumen und einem künstlich angelegten Teich. Jahrelang kommt es zu keiner Einigung, erst 1913 setzt sich der Künstler durch. Die 175 Kilogramm schwere Skulptur wird auf einen Findling an der Uferpromenade „Langelinie", am Eingang zur Hafeneinfahrt, gesetzt.

Kopflos auf der Titelseite der „New York Times"

Zur Ruhe kommt sie nicht: Neben zahlreichen Touristen, die zu ihr durchs Wasser waten, gibt es immer wieder Versuche, das Wahrzeichen zu beschädigen. 1961 wird der Nixe ein Bikini aufgemalt, 1963 wird sie mit roter Farbe übergossen - die Täter werden nie gefasst. Am 24. April 1964 wird der Meerjungfrau der Kopf abgesägt. Zwar schafft sie es damit auf die Titelseite der „New York Times", ihr Haupt bleibt aber verschwunden und muss nachgegossen werden. Einen Schuldigen aber gibt es: Der Aktionskünstler Jorgen Nash schreibt in seiner 1997 erscheinenden Autobiografie, er habe den Kopf der „Heiligen Jungfrau der dänischen Tourismusindustrie" in einen Tümpel geworfen, weil er den „Rummel" nicht mehr ertragen habe. Jährlich kommen knapp eine Million Touristen, um die Nixe zu sehen.

Japanische Touristen versuchen, die schwarzen Tücher von der ''kleinen Meerjungfrau'' zu entfernen.
Japanische Touristen versuchen, die schwarzen Tücher von der ''kleinen Meerjungfrau'' zu entfernen. (c) Reuters

In den 1970er-Jahren wird sie abermals mit Farbe übergossen. Im Juli 1984 sägen ihr zwei betrunkene Männer den rechten Arm ab, im August 1990 erhält sie einen 18 Zentimeter langen Schnitt am Hals - ein misslungener Enthauptungsversuch. 1998 wird das Meermädchen neuerlich geköpft, im September 2003 von seinem Stein gesprengt und ins Hafenbecken gestoßen. Zudem werden Löcher in Handgelenk und Knie gebohrt. Auch T-Shirts diverser Fußballklubs, Schals und sogar eine Burka muss sich die Nixe im Laufe ihrer 101-jährigen Geschichte anziehen lassen, am 8. März 2006 (dem Weltfrauentag) wird ihr sogar ein Plastikpenis aufgeklebt.

Doch ihr Ruhm beschert der Nixe nicht nur Kummer: Im März 2010 wird sie zur „Expo 2010" nach Shanghai geschickt, wo sie in einem Bassin ausgestellt und von rund 5,5 Millionen Besuchern fotografiert wird. Während ihrer Abwesenheit wird in Kopenhagen eine 4,8 x 2,9 Meter große Leinwand des chinesischen Installationskünstlers Ai Weiwei aufgestellt. Darauf zu sehen sind Live-Bilder von der Schau in Shanghai. Die Reise, von der die „kleine Meerjungfrau" im November 2010 zurückkehrt, dürfte ihr gut getan haben: Seither wurde sie nicht mehr beschädigt.

(hell)

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