Attentat auf Kanzler Seipel: "Ich glaube, man hat auf mich geschossen"

Attentat auf Kanzler Seipel:
Attentat auf Kanzler Seipel: "Ich glaube, man hat auf mich geschossen"(c) ONB Bildarchiv Austria
  • Drucken

Vor 90 Jahren wurde der österreichische Bundeskanzler Ignaz Seipel am Wiener Südbahnhof angeschossen. Der Täter kam mit einem milden Urteil davon.

„Was ist denn eigentlich geschehen? Ich glaube, man hat auf mich geschossen." Augenzeugen zufolge soll Ignaz Seipel die Kugeln, die ihn am Wiener Südbahnhof trafen, zunächst gar nicht richtig mitbekommen haben. Das Attentat auf den österreichischen Bundeskanzler jährt sich am Sonntag zum 90. Mal.

Die Stimmung gegen den Obmann der Christlichsozialen Partei ist 1924 aufgeheizt. Die Reformen, mit denen er den maroden Staatshaushalt sanieren wollte, treiben die Arbeitslosenquote weiter in die Höhe. Auch aus der eigenen Partei gibt es Kritik an dem Prälaten.

Der Pottensteiner Spinnereiarbeiter Karl Jaworek gibt Seipel persönlich die Schuld an seiner Armut. Der 29-Jährige verfasst Ende März einen Brief an seine Frau, in dem er seinen Selbstmord ankündigt: „Wenn es gelingt, geht noch einer mit mir, der Seipel". Am 1. Juni erfährt er, mit welchem Zug der Bundeskanzler an diesem Tag von einem Termin im burgenländischen Neudörfl nach Wien zurückfahren wird. Jaworek steigt in Wiener Neustadt zu. Am Bahnsteig des Südbahnhofs geht er auf Seipel zu, den er laut seiner späteren Aussage nur am „geistlichen Gewande" erkennt. Mit einem Trommelrevolver schießt der Attentäter aus nächster Nähe auf den Kanzler. Seipel wird durch einen Lungensteckschuss und einen Streifschuss getroffen. Jaworek richtet die Waffe gegen sich selbst und trifft ebenfalls die Lunge. Er wird noch auf dem Bahnsteig festgenommen.

"Mir scheint, jetzt geht es nicht mehr weiter"

Seipel scheint zunächst unversehrt. „Als der Kriminalbeamteninspektor an den Bundeskanzler die Frage richtete, ob er verletzt sei, verneinte dies Dr. Seipel und fragte: 'Was ist denn eigentlich geschehen? Ich glaube, man hat auf mich geschossen.' Er sah noch, wie die empörte Menge über den Attentäter herfiel und sagte, man solle den Mann nicht schlagen", zitiert die „Neue Freie Presse" tags darauf einen Begleiter des Kanzlers. Erst auf dem Weg zum Ausgang habe Seipel plötzlich Unwohlsein bekundet: "Mir scheint, jetzt geht es nicht mehr weiter".

Der Bundeskanzler wird ins Krankenhaus gebracht, die Ärzte geben bald Entwarnung. Auch der Attentäter überlebt und sagt im Verhör, er habe aus wirtschaftlicher Not gehandelt. Viele Österreicher vermuten jedoch eine sozialdemokratische Verschwörung gegen Seipel. Die „Neue Freie Presse" mutmaßt, „ob nicht die Mode des sowjetischen Radikalismus hier mitspielt, ob nicht irgendein geheimer Emissär, einer von denen, die auch in Deutschland wühlen und hetzen, als Urheber in Betracht kommt." Doch die Ermittlungen ergeben keine Hinweise auf Komplizen oder Hintermänner.

Sechs Monate nach dem Attentat wird Jaworek vor Gericht gestellt. Das Urteil fällt mild aus: Fünf Jahre schwerer Kerker.

Seipel ist zu diesem Zeitpunkt bereits zurückgetreten. Von 1926 bis 1929 führt er die Republik allerdings erneut als Bundeskanzler. 1932 stirbt er an Tuberkulose. Jaworek wird während des NS-Regimes (nach eigenen Angaben aus politischen Gründen) im KZ Dachau inhaftiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebt er ein ärmliches und zurückgezogenes Leben. Der ORF besucht ihn 1973 in seinem „Elendsquartier bei Innsbruck", wie es in dem Beitrag heißt. Im Interview zeigt der damals bald 80-Jährige Reue für den Mordversuch: "Gut machen tät ich's wollen, wie wenn's gar ned gschehn wär".

>> „Neue Freie Presse" vom 2. Juni 1924

>> ORF-Interview mit Jaworek

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.