Juni 1944: Die zwei Schlachten, die Hitlers Untergang besiegelten

Handout photo of U.S. Army reinforcements marching up a hill past a German bunker after the D-Day landings near Colleville sur Mer
Handout photo of U.S. Army reinforcements marching up a hill past a German bunker after the D-Day landings near Colleville sur MerREUTERS
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Am 6. Juni wurde wieder einmal ein Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie groß inszeniert. In diesem Medienhype geht allerdings stets eine ungleich größere, für Deutschland vernichtendere Schlacht unter: Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront Ende Juni 1944.

Die Landetruppen gehen von Bord des Schiffs, noch weit draußen, waten im brusthohen Wasser durch die unruhige See. Kein Schuss fällt aus dem verbunkerten Widerstandsnest am Ufer. Niemand könnte dort nach dem Bombardement aus der Luft und von See her überlebt haben, denken sie.

In einem Loch auf einer Düne kauert der Gefreite Heinrich Severloh, ein Bauernsohn aus der Lüneburger Heide, hinter seinem MG42. Er und seine Kameraden vom Widerstandsnest62 bei Colleville leben noch: Die Bombardements haben sie verfehlt. Der 20-Jährige ist kein Soldat aus Leidenschaft. Er ist gut im Organisieren von Butter, Eiern, Most und Calvados, aber jetzt sind die GIs da vorn schon im knietiefen Wasser, Distanz 400 Meter, nun muss er schießen. Und macht den Finger krumm.

Die Einschläge spritzen im Wasser, packen die erste Reihe der Watenden und lassen sie nicht mehr los. Die Toten liegen im Wasser, die Lebenden werfen sich dahinter. Landungsboote rauschen heran, einige werden von Granaten getroffen und zerplatzen, andere schrammen in den Sand, Soldaten springen heraus, sacken in MG-Garben zusammen. Amerikas Hoffnung auf raschen Erfolg verblutet am Strand von „bloody Omaha“, Normandie, 6.Juni 1944, sieben Uhr früh. „Schwerste Verluste, Sturmeinheiten in Auflösung“ lautet der Gefechtsbericht des V.US-Korps. Sechs Kilometer ist der Strand lang. Vier Stunden später liegen dort 3000 Tote und Verletzte. Alle zwei Meter einer.


Spektakel von Sieg und Tod.
Es sind Szenen wie diese, die, fotografisch belegt und in Filmen wie „Saving Private Ryan“ verarbeitet, aus der Rückkehr der Westalliierten nach Frankreich vom 6.Juni 1944 eine der bekanntesten, für viele die spektakulärste Aktion des II.Weltkriegs machten. Das Planen des Gegenschlags nach der deutschen Eroberung Frankreichs und der Beneluxstaaten 1940 begann Anfang 1942. Im Mai 1943 fixierten Amerikaner und Briten Landungen in Nord-, später Südfrankreich Mitte 1944. Ein Hauptproblem: Man musste zuerst genug Landungsboote bauen, um schon am ersten Tag mindestens fünf Divisionen (ca. 100.000 Mann), die Minimalannahme der Planer, anlanden zu können. Der Krieg im Pazifik gegen Japan aber band große Teile der Werftkapazitäten.

Die Normandie liegt nordwestlich von Paris, zwischen Dieppe und dem Raum südlich Cherbourg. Als Landezone wurde ein etwa 85 Kilometer langer Streifen zwischen dem Fluss Orne bei Caen im Osten und dem Dorf Sainte-Mère-Église im Westen gekürt, da dort die Küste günstig, weil flach, ist – und sie weit schwächer verteidigt wurde als der Raum Calais an der Engstelle des Ärmelkanals, wo die Deutschen einen Angriff naheliegenderweise erwarteten.

Mit einer Täuschungskampagne, die die Bildung fiktiver Geisterarmeen einschloss, suggerierten die Alliierten Invasionspläne bei Calais und in Norwegen. Sie sammelten in England mehr als 2,5 Millionen Mann: Amerikaner, Kanadier, Briten, Franzosen, Belgier, Holländer, Polen. Der Oberbefehlshaber in Frankreich/Benelux, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt (1875–1953), hatte 58 Divisionen, davon zehn Panzerdivisionen (je ca. 140 bis 200 Panzer), samt Luftwaffe und Hilfstruppen wohl 700.000, ja über eine Million Mann. In Nordfrankreich/Benelux standen davon etwa 40 Divisionen inkl. sieben Panzerdivisionen, als HeeresgruppeB unter Generalfeldmarschall Erwin Rommel (1891–1944); nur drei dieser Divisionen und eine Panzerdivision in der Landezone.

In den Tagen vor der Invasion, die als Operation Overlord (Lehensherr) läuft, sprengen französische Partisanen und britische Commandos Schienen, Brücken und Telefonmasten. Als die Alliierten kommen, tun sie es mit der Macht des reichen Mannes: Mehr als 5000 Landungsschiffe und Frachter fahren auf, acht Schlachtschiffe, 27Kreuzer, über 160 Zerstörer, Dutzende U-Boote, über 1000 Minenräumer und sonstige Boote. Über 4500 Bomber und 5500 Jäger/Jagdbomber sind in der Luft. Die deutsche Luftwaffe hat am 6.Juni 320 Flieger (andere Quellen: 570) im Westen, davon nur ca. 100 flugfähige Jäger; die Flotte ist weitgehend abwesend.


Panzer sparen Blut.
Zwei US-Infanteriedivisionen (4. und 1.), gefolgt von einer dritten (29.), stürmen im Westen der Landezone an „Utah“ und „Omaha“ getauften, mehrere Kilometer langen Stränden an Land. Im Osten bilden die 50.britische und 3. kanadische Division die Strände „Gold“ und “Juno“, die 3.britische Division „Sword“. Im Sektor der Anglokanadier landen auch eine Brigade Franzosen, mehrere Bataillone Marines und drei Brigaden mit Spezialpanzern, die u.a. Minen räumen und Bunker knacken; sie helfen, dass die Invasion einfacher verläuft als bei „bloody Omaha“, wo die GIs bis zum Nachmittag gegen eine intakte Abwehr anrennen. Auch „Utah“ bleibt relativ friedlich.

Zwei US-Fallschirmdivisionen und eine der Briten springen ab und sichern die West- bzw Ostflanke. Gesamt kommen am D-Day (D steht für Decision) mehr als 150.000 Mann an, 12.000 davon fallen gleich aus, davon 4400 Tote. Deutsche Verluste: ca. 1000 Tote, einige tausend Verletzte und Gefangene.

Es läuft lang holprig: Die US-Fallschirmjäger werden im Gelände zerstreut. Deutsche Panzerdivisionen (beginnend mit der 21. bei Caen, 200 km westlich von Paris) fahren harte Angriffe, stoßen an das Meer. Die ersten Tagesziele werden verfehlt, im Juli erst fällt Caen. Aber die alliierte Luftherrschaft dezimiert die Deutschen, ein Tiefflieger schießt Rommel ins Spital. Mehrere deutsche Divisionen werden am Rand der Bretagne verheizt, das Gros des Westheers geht im Kessel von Falaise südlich Caen unter. Am 25.August fällt Paris. Der Marsch aufs Reich von Westen beginnt.

Heinrich Severloh, der MG-Schütze von Omaha Beach, hat den Krieg übrigens überlebt.

Das Cannae der Heeresgruppe Mitte.
Die regelmäßige laute und massenmediale Feier des D-Days verdeckt ein viel größeres Schlachtfeld, von dem aus Nazideutschland im selben Monat endgültig in den Orkus schlitterte: Es erstreckte sich anfangs über eine 700 km lange Front und erfasste bald ganz Weißrussland, weite Teile des Baltikums, der Westukraine und Ostpolens. Hier war das Cannae der Heeresgruppe Mitte: Eine Kesselschlacht, in der nicht nur eine Armee und Teile einer zweiten wie in Stalingrad, sondern drei deutsche Armeen zerschlagen und vier weitere angeschlagen und abgedrängt wurden.

Seit Stalingrad Anfang 1943 und der Schlacht bei Kursk (Juli 1943) hatte sich die Rote Armee im Süden, in der Ukraine, vorgearbeitet, indes die Deutschen die Ostfront im Mittel- und Nordsektor großteils hielten. Bis Mai 1944 entstand eine russische Vorwölbung südlich der Pripjetsümpfe bis Rumänien und in das damalige Südpolen vor Lemberg (siehe Karte unten). Aus diesem Balkon, dachten die Deutschen, würden die Sowjets nach Nordwesten stoßen, diese schürten die Annahme absichtlich durch Truppenkonzentrationen. Also sammelte die Wehrmacht in der Heeresgruppe Nordukraine ihre besten und schwersten Reserven in der 1. und 4. Panzerarmee – die Heeresgruppe Mitte musste dabei mithelfen und 90 Prozent ihrer Panzer und ein Drittel der Artillerie abtreten.

So hatte im Juni die Heeresgruppe Mitte von Generalfeldmarschall Ernst Busch (1885–1945) noch 38 Divisionen, davon bloß eine Panzerdivision, mit 850.000 Mann (davon 500.000 Frontsoldaten), 570 Panzern und Sturmgeschützen und 600 Flugzeugen – darunter nur 50 flugfähige Jäger. Am 22.Juni, dem Jahrestag des deutschen Angriffs auf die UdSSR 1941, schlagen hier vier russische Heeresgruppen („Fronten“) mit unheimlich überlegenen Kräften los: Die Angaben schwanken von 1,6bis 2,5 Millionen Mann, 4000 bis 6000 Panzern und Sturmgeschützen, um die 32.000 Feldgeschütze und Raketenwerfer und 5000 bis 8000 Flugzeugen.

Verlauf der
Verlauf der "Operation Bagration"Presse-Print

Die Offensive heißt Operation Bagration, nach dem Georgier Pjotr Bagration, General der Russen in den napoleonischen Kriegen. Über Witebsk und Bobruisk hämmert die Rote Armee Keile vor und ist am 3. Juli in Minsk. Die 9. und 4. deutsche Armee sind eingekesselt, dazu das Gros der 3. Panzerarmee („Panzer“ ist sie nur dem Namen nach). Die fliehenden Deutschen werden bombardiert und von Panzern überrollt. Nach dem 3.Juli erweitern die Sowjets den Angriff, gehen an den Flanken vor, an weiteren 1400 km Front. Der Sturm endet Mitte August, da stehen sie bis zu 700 km weiter westlich: vor Warschau, Riga, Ostpreußen. 28 Divisionen der Heeresgruppe Mitte sind zerstört, 400.000 bis 500.000 Deutsche tot, verletzt, vermisst, gefangen. Der Marsch aufs Reich von Osten beginnt.

Das Sterben der Generäle.
Die Monstrosität der Niederlage zeigt sich auch an der Opferliste im Generalsrang: Von 47 deutschen Divisions- und Korpsgenerälen werden 21 gefangen und zehn getötet, so der Österreicher Robert Martinek (39. Panzerkorps), er fällt an der Beresina durch Fliegerbeschuss. Die auch angesichts der kurzen Zeit größte Katastrophe der deutschen Geschichte steht dennoch im Schatten der Normandie. Unter diepresse.com/bagration wird Ende Juni darüber berichtet.

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MG-Schütze von Omaha

Heinrich Severloh (1923-2006) war in der 352. Infanteriedivision und nagelte als MG-Schütze der Bunkeranlage62 am Omaha Beach stundenlang die US-Truppen am Strand fest. Er gab mehr als 12.000 Schuss ab und glaubte, rund 2000 GIs getötet oder verletzt zu haben, was aber als übertrieben gilt (es waren eher „einige Hundert“). Tags darauf wurde er gefangen. Nach dem Krieg verband ihn mit David Silva, einem Amerikaner, den er angeschossen hatte, eine Freundschaft.
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Heinrich Severloh als Soldat
Heinrich Severloh als SoldatArchiv
David Silva (li.) und Heinrich Severloh bei einem Treffen am Omaha Beach
David Silva (li.) und Heinrich Severloh bei einem Treffen am Omaha Beachaxishistory.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2014)

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