1934: Tod und Verklärung im Bundeskanzleramt

Bundeskanzler Engelbert Dollfuß
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In Wien versuchen Angehörige der illegalen SS einen Putsch gegen den Bundespräsidenten und die Regierung. Der Mord an Bundeskanzler Engelbert Dollfuß war nicht eingeplant.

Wien, 25. Juli 1934, ein Mittwoch im Hochsommer. Das Morgenblatt der „Neuen Freien Presse“ meldet in einem Einspalter die Übernahme des österreichischen Verteidigungsministeriums durch den christlich-sozialen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, der seit 1. Mai autoritär regiert. Mit neuer Verfassung. Am Vortag hat er im Kriegsministerium die Spitzen der Heeresleitung um sich versammelt, hat für das „beispielhafte Verhalten“ während des Bürgerkriegs im Februar gedankt und sich als „guter Kamerad“ vorgestellt: Schließlich diente er bei den Kaiserschützen und tat dort „durch Jahre hindurch nicht mehr und nicht weniger als meine Pflicht!“

Es sollte der letzte öffentliche Auftritt des Kanzlers sein. Er ist 41 Jahre alt.

Treffpunkt Stiftskaserne

Am Morgen des 25. Juli, an dem die „Presse“-Abonnenten das Theaterprogramm für den Abend studieren, schleichen, aus verschiedenen Richtungen kommend, Zivilisten in die Bundesturnhalle der Wiener Stiftskaserne in der Siebensterngasse. Sie tragen Pakete oder kleine Köfferchen mit sich, darin befinden sich Bundesheer- und Polizeiuniformen.

Es handelt sich um die Wiener SS-Standarte 89: einfache, meist arbeitslose Burschen, kampfbereite Nazis. Die Drahtzieher sind der bayerische Industrielle Rudolf Weydenhammer (44), der Wiener Rechtsanwalt Gustav Wächter (33) und der Studienabbrecher Fridolin Glass (24). Alle drei stammen aus Offiziersfamilien.

Die SS-Mannschaft soll einerseits in Velden am Wörther See den dort urlaubenden Bundespräsidenten Wilhelm Miklas, in Wien die gesamte Bundesregierung verhaften und in der Johannesgasse den Rundfunksender besetzen. Danach würde eine autoritäre Übergangsregierung unter Führung des steirischen autoritären Christlichsozialen Anton Rintelen gebildet werden.

Ein Debakel in Kärnten

Alles war für den 24. Juli geplant, doch gegen Mittag stellte sich heraus, dass die Regierungssitzung um einen Tag verschoben wurde. Also alles retour, ohne Spuren zu hinterlassen! Chaos bei den überforderten Akteuren. Sie mussten nebstbei mit verschlüsselten Telegrammen auch noch die NS-Landesleitung in München verständigen. Viel Arbeit! Die ganze Nacht hindurch.

In Kärnten verläuft die Aktion mehr als kläglich. Die drei nach Velden abkommandierten Putschisten verhalten sich beim Autoverleiher so seltsam, dass dieser das Trio anzeigt. Zwei werden verhaftet, der dritte macht sich aus dem Staub.

In Wien sollte es am 25. Juli also gelingen. Wahrend sich die etwa 200 SS-Männer als Bundesheersoldaten des Hoch- und Deutschmeisterregiments verkleiden, fahren Weydenhammer und Wächter nochmals die Route zum Kanzleramt ab und tauchen dann in zwei nahen Kaffeehäusern unter.

Inzwischen hat die Staatspolizei aber Wind von der Aktion bekommen. Um punkt zwölf Uhr beginnt der Ministerrat und Kanzleramtsminister Emil Fey flüstert dem Kanzler etwas ins Ohr. Dollfuß unterbricht den gerade referierenden Minister Schuschnigg: „Uns sind Nachrichten zugekommen, die es nicht zweckmäßig erscheinen lassen, dass wir hier beisammen sind. Ich unterbreche die Sitzung bis vier Uhr Nachmittag.“ Staatssekretär Karwinsky (Sicherheit), Staatssekretär Zehner (Verteidigung) und Minister Fey gehen mit dem Kanzler in dessen Büro, die übrigen Herren eilen in ihre Ministerien.

Damit ist schon einmal der Plan der Nazis zunichtegemacht, das gesamte Kabinett in Gewahrsam nehmen zu können.

Abfahrt mit Verspätung

Erst gegen 12.45 Uhr setzt sich die Kolonne von acht Lastkraftwagen endlich in Bewegung – von der Siebensterngasse in die Innenstadt. Der letzte Wagen, mit zehn Maschinengewehren und elf Maschinenpistolen bestückt, bleibt hingegen zurück. Warum, weiß man nicht. An der Spitze des Zuges ein Privatauto mit den Putschisten Franz Holzweber und Otto Planetta. Doch der Anführer Glass versäumt durch einen Zufall die Abfahrt der Kolonne. Vor dem Kanzleramt fehlt nun den Hochverrätern der Kopf.

Inzwischen, es ist 12.30 Uhr, haben die Polizeibeamten das große Einfahrtstor des Kanzleramts geschlossen. Nur Soldaten und Polizisten dürfen noch eingelassen werden! Und da kommen sie auch schon in schneller Fahrt! Auf den Ladeflächen stehen die „Soldaten“ und „Polizisten“. Handelt es sich um die erbetene Verstärkung der Exekutive? Fünf Lastautos fahren rasch ins Kanzleramt ein, die Türwächter salutieren, verrammeln wieder das Tor – und werden sofort entwaffnet: „Hund, gib den Revolver her!“ Der zweite Wächter schreit, dass er Kriminalpolizist sei: „Jetzt bist ein Dreck, die Waffe her!“ Die 34 Soldaten der regulären Wache im Innenhof, ganz junge Burschen, werden spielend entwaffnet: Ihre Gewehre sind ohne Patronen, wie für die Ehrenwache eben üblich.

Jetzt stürmen etwa dreißig Personen in Deutschmeisteruniformen mit gezückten Pistolen den Stiegenaufgang empor. „Trotz einer seriösen Warnung“, schreibt der Historiker Kurt Bauer, „war es nicht gelungen, innerhalb einer guten halben Stunde das Machtzentrum des Staates gegen eine schlecht bewaffnete Nazi-Bande zu sichern.“

Dollfuß will flüchten

Dollfuß, Fey und Karwinsky flüchten zunächst in den Säulensaal, aber der alte Portier Eduard Hedvicek kennt eine geheime eiserne Wendeltreppe, die ins Staatsarchiv hinunterführt. Er fasst Dollfuß am Arm. „Herr Bundeskanzler, schnell!“ Also zurück durch den Säulensaal, durchs Kanzlerbüro, hinein ins Eckzimmer. Inspektor Steigenberger, des Kanzlers Leibwächter, hinterher. Vom Stiegenaufgang her drücken die Putschisten die Tür auf. Rund zehn Uniformierte stürmen in den Saal, brüllen durcheinander: „Halt!“ und „Hände hoch!“

Dann geht alles so rasch, dass die späteren Zeugenaussagen divergieren. Planetta behauptet, drei Männer im Gegenlicht erblickt zu haben, davon einen sehr großen (Hedvicek?), der auf ihn zueilte. Einen „kleineren Mann“ habe er nur als Schatten wahrgenommen. Da habe sich ein Schuss gelöst. Der Getroffene stürzt mit dem Gesicht voran schräg gegen das Fenster zu Boden. Planetta beugt sich über den Liegenden – und erkennt den Bundeskanzler. Der Attentäter: „Habe ich Sie getroffen?“ Dollfuß: „Ich weiß nicht.“ Planetta: „So stehen Sie auf!“ Der Bundeskanzler: „Das kann ich nicht.“ Planetta merkt, dass Blut als der Brust des Opfers fließt. Es ist ein absolut tödlicher Schuss, auch bei sofortiger ärztlicher Hilfe wäre Dollfuß nicht zu retten gewesen.

Kein kampfloser Tod

Der Kanzler dürfte sich kurz vor dem Schuss gewehrt haben und auf Planetta zugestürzt sein. Denn, auf dem Marmorboden liegend, fragt der Schwerverletzte einen als Major verkleideten Putschisten nach den anderen Ministern. Und der „Major“ antwortet, alle seien außer Gefahr, „und auch Ihnen wäre nichts passiert, wenn Sie sich nicht gewehrt hätten“. Worauf Dollfuß mit letzter Kraft flüstert: „Ich war doch Soldat . . .“

Inzwischen ist Planetta wieder im Ministerratssaal und gesteht Holzweber, dass er den Kanzler angeschossen habe, „aber ohne Absicht“, der Mann sei ihm an die Gurgel gesprungen. Wie es wirklich war, hat auch 1938 eine eigene SS-Historikerkommission nicht erhellen können.

Die Putschisten suchen nun einen „arischen Arzt“. Sie finden keinen, weder arisch noch jüdisch. Zwei Polizisten leisten Erste Hilfe, betten den Sterbenden auf ein Sofa und legen Notverbände an. Dollfuß ist bewusstlos, daneben sitzt ein Putschist hinter dem Schreibtisch und raucht. Dollfuß erwacht noch einmal, und flüstert mit Minister Fey: Man möge sich seiner Familie annehmen, auch Mussolini möge dies tun. Die Bitte um einen Priester für die Krankensalbung lässt sich nicht erfüllen, es darf niemand aus dem Haus.

Die angeblich letzten Worte des Verblutenden dürften erst im Nachhinein für die Propaganda des Ständestaats erdichtet worden sein. Lediglich der Leiter der Präsidialsektion will sie gehört haben, er gibt sie zu Protokoll. Und sie passen zu auffällig in den Kult, den das Schuschnigg-Regime mit dem Märtyrer Dollfuß entwickelt hat: „Kinder, ihr seid so lieb zu mir. Warum sind das die andern nicht? Ich hab ja nur den Frieden haben wollen. Wir haben nie angegriffen, wir mussten uns immer wehren. Der Herrgott soll ihnen vergeben.“

Um 15.45 stirbt Dollfuß: hochgradiger Blutverlust und aufsteigende Rückenmarkslähmung.

Todesurteil im Expressverfahren

Die Putschisten sind indes überwältigt, arretiert und werden in der Marokkanerkaserne festgehalten. Sie wollen freies Geleit, Überstellung an die Grenze zu Bayern. Justizminister Schuschnigg, der nun die Regierung anführt, sagt dies auch zu, besinnt sich aber dann eines Besseren und so werden Holzweber und Planetta in einem Schnellverfahren zum Tod verurteilt. Der Rest wird in heereseigenen Lastkraftwagen über die Grenze gebracht.

Auf die naheliegende Frage, warum 200 bewaffnete Aufständische sich nicht bis zum Äußersten gewehrt und zumindest Geiseln genommen haben, hat Historiker Kurt Bauer eine simple Erklärung: „So weit ging ihr Fanatismus am Ende nicht, dass sie es auf einen Kampf auf Leben und Tod angelegt hätten. Die wollten nur halbwegs unbeschadet aus der Misere herauskommen . . .“

Tote in der Ravag

In der Ravag, der österreichischen Radioverkehrsanstalt, in der Johannesgasse ist es gerade 13 Uhr, als der Nachrichtensprecher vom Pult verdrängt wird und eine Stimme hektisch ins Mikrofon schreit: „Die Bundesregierung ist zurückgetreten, der Bundesminister Rintelen hat die Regierung übernommen!“ Und, nach kurzer Pause: „Wir senden Schallplatten.“ Putschisten sind also ins Ravag-Gebäude eingedrungen. Die verwirrten Radiohörer hören zunächst den „Tiroler Jägermarsch“, was anderes ist in der Eile nicht aufzutreiben, dann vernehmen sie mehrere Schussdetonationen, dann tritt Funkstille ein: Herbeigeeilte Polizisten aus der nahen Wachstube Hegelgasse haben mit ein paar Schüssen die Senderröhren zerstört. Im Hinterhof spielen sich dramatische Kampfszenen ab, zwei Polizisten werden erschossen, dann ein Aufrührer. Erst mit herbeigeschleppten Maschinengewehren kann der SS-Trupp bekämpft werden. Schauspieler und Techniker werden zu Geiseln, im Gebäude bricht ein Brand aus, im obersten Stockwerk ist der Generaldirektor Czeja praktisch gefangen. Handgranaten werden geworfen, die Exekutive schießt aus allen Rohren. Dann kapitulieren die Putschisten, dreizehn an der Zahl. Bei ihrer Eskortierung zur Wachstube Hegelgasse werden einige von ihnen spitalsreif geprügelt.

Wer war der zweite Schütze?

Ungeklärt bleibt bis heute, wer im Kanzleramt einen zweiten Schuss auf Dollfuß abgefeuert hat. Die Schussverletzung wurde bei der oberflächlichen Autopsie des Leichnams zwar festgestellt, aber das Projektil wurde nie gefunden. Es dürfte bei der Untersuchung herausgefallen sein. Der Täter ist bis heute unbekannt.

Ebenso offen bleibt die Frage, ob und wie der eher dilettantische Aufstandsversuch vom Deutschen Reich aus gesteuert wurde. Kurt Bauer stellt in seinen Forschungen die These auf, dass Hitler den österreichischen Putsch – falsch informiert – genehmigt habe. Beweisstück ist die Tagebuchnotiz von Goebbels vom 22. Juli 1934.

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Nächsten Samstag:

Kriegserklärung an Serbien 1914

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

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