Als das "drollige" Japan plötzlich Großmacht wurde

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JAPAN WEATHER HEATWAVEAPA/EPA/KIMIMASA MAYAMA
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Am 1. August 1894 erklärte die Regierung in Tokio dem mächtigen China den Krieg. Nach nur wenigen Monaten verdrängte Japan die chinesischen Truppen aus dem strategisch wichtigen Korea.

Wir haben Japan immer nur als drolliges Puppenhaus betrachtet. Dass Japan jemals ein Faktor der Weltpolitik sein würde, war zu absurd, um es auch nur zu erwägen“, beschrieb der britische Reiseschriftsteller Douglas Sladen 1903 rückblickend, wie sehr Europäer und Amerikaner Japan unterschätzt hatten. Der Inselstaat hatte nur wenige Jahre davor alle überrascht: Japan hatte 1895 – nach einer Reihe kurzer, vernichtender Feldzüge – die Großmacht China zur Kapitulation gezwungen und Peking die Kontrolle über das strategisch wichtige Korea entzogen. Das in westlichen Augen „skurrile“ Japan mit seinen Holzfigürchen, exotischen Geishas und malerischen Samurais war plötzlich eine führende Militärnation. Mit dem Ersten Sino-Japanischen Krieg von August 1894 bis April 1895 wurden die Karten im Asien-Machtpoker neu gemischt: Nur zehn Jahre später, im Krieg gegen Russland, besiegte Japan als erster asiatischer Staat in der neueren Geschichte eine westliche Macht.

Begonnen hat Japans Verwandlung eigentlich schon 1854: Damals hat das Kaiserreich auf Druck des amerikanischen Commodore Matthew Perry seine 200-jährige Isolationspolitik gegenüber dem Westen beenden und seine Häfen öffnen müssen. Eine reformorientierte Elite erkannte, dass Japan den Wettstreit mit Europäern und Amerikanern nur gewinnen würde, wenn es sich dem westlichen Modell anpasste – und leitete eine rasante Modernisierung ein: Zunächst wurden die Feudalherrscher, die Shogune, entmachtet. Mit der Inthronisierung des erst 16-jährigen Tennos Mutsuhito 1868 begann die Meji-Restauration: Ein straff organisierter Zentralstaat ersetzte das Machtsystem der Samurai. Die Armee wurde nach preußischem, die Marine nach britischem Vorbild aufgebaut. Berater aus dem Westen wurden nach Japan geholt, junge Japaner zum Studium in die USA und nach Europa geschickt. In wenigen Jahren verwandelte sich Japan in eine Industrienation mit moderner Streitkraft.

Und Japan blickte immer mehr über seine Grenzen hinaus. Auf der einen Seite verfolgte es argwöhnisch die westlichen (und zunehmend auch russischen) Ambitionen im Pazifik. Vor allem aber beobachtete es China – das seit Jahrhunderten dominierende Imperium, dem auch der „kleine Bruder“ Japan zeitweise Tribute hatte zahlen müssen. Doch das chinesische Kaiserreich war mit sich selbst beschäftigt. Geschwächt von internen Aufständen und Korruption, demoralisiert von der Niederlage gegen Franzosen und Briten, hatte die in westlichen Augen rückständige Qing-Dynastie kaum die Kraft, den kolonialen Ambitionen der Europäer entgegenzuwirken.


Der „Dolch“ Korea. Japan wusste die Schwäche zu nutzen, um seine machtpolitischen Ziele zu verwirklichen. Als Erstes wollte der Kaiser China aus Korea verdrängen, dessen Regierung seit Jahrhunderten durch Tributzahlungen an Peking gebunden war. Die Halbinsel war strategisch wichtig, da sie als Sprungbrett für eine potenzielle Eroberung Japans gesehen wurde: „Korea ist ein Dolch, der auf Japans Herz gerichtet ist“, schrieb der preußische Militärberater in Japan, Jakob Meckel. Bereits 1876 erzwang Tokio Handelsverträge mit dem koreanischen Königshaus, worauf ein erbitterter Machtkampf mit China folgte: Wohl nicht ganz ohne Eigeninteresse unterstützte Tokio regimefeindliche Reformer in Korea.

Die „Gelegenheit“ zur Invasion bot sich 1894: Nach der Ermordung eines projapanischen koreanischen Revolutionärs in Shanghai im März kam es in Korea zu Massenprotesten, im Juni schickte China Truppen, um den Aufstand niederzuschlagen. Daraufhin entsendete Japan Soldaten, die bald den koreanischen König gefangen nahmen und eine projapanische Regierung etablierten. Diese erkannte China nicht an. Am 1. August, nach zahlreichen Angriffen auf chinesische Truppen, erklärte Japan China den Krieg.

„Japan wird zerbrechen“, kommentierte der britische Militärberater in China, William Lang, den „japanischen Übermut“. Er hatte unrecht: Die Japaner vertrieben rasch die chinesischen Einheiten aus dem Süden. Diese zogen sich in die nördliche Stadt Pjöngjang zurück. In der Nacht zum 15.September umzingelten die Japaner Pjöngjang und überraschten die chinesischen Einheiten. Rund 2000 chinesische Soldaten wurden getötet – Japan verlor 102 Männer. Die entscheidende Schlacht fand wenige Tage später, am 17. September, an der Mündung des an China grenzenden Flusses Yalu statt: Über den Fluss wurden chinesische Truppen in Korea mit Nachschub versorgt. Die japanische Marine, bestehend aus Kreuzern und Torpedobooten, griff die Beiyang-Flotte an, versenkte acht der zwölf chinesischen Kriegsschiffe. Und trieb die mächtigste Flotte Asiens in die Flucht.

Die chinesischen Schiffe zogen sich nach Port Arthur zurück. Nun stießen die Japaner in chinesisches Territorium vor und belagerten die Stadt an der strategisch wichtigen Halbinsel Liaodong. Tausende chinesische Zivilisten wurden massakriert. Als schließlich die Japaner auch Weihaiwei einnahmen, stand ihnen der Seeweg Richtung Peking offen. Nachdem im März die Pescadores-Inseln westlich von Formosa (Taiwan) erobert wurden, sahen sich die Chinesen zur Kapitulation gezwungen: Am 17. April 1895 unterzeichneten sie den Friedensvertrag von Shimonoseki. Darin mussten sie die Unabhängigkeit Koreas (das künftig von Tokio kontrolliert wurde) anerkennen sowie Taiwan, die Pescadores und Liaodong abtreten. Tokio erhielt zudem Handelsrechte in China und zwang Peking zu hohen Reparationszahlungen. Damit finanzierte Japan in den nächsten Jahren seine Aufrüstung.

Es war nicht so sehr technologische Überlegenheit, die Japan zum Sieg verholfen hatte: Sowohl die japanische als auch die chinesische Armee und Marine waren mit modernem europäischem Kriegsgerät ausgerüstet. Die überraschende Niederlage Chinas hatte vielmehr strukturelle Gründe. Im Gegensatz zum straff organisierten japanischen Militär hatte China keine nationalen Streitkräfte: Die Qing-Kaiser hatten aus Angst vor einer zu großen Machtkonzentration vier unabhängige regionale Armeen aufgebaut, die zum Teil miteinander konkurrierten. Während des Krieges wurden die Kämpfe fast ausschließlich von der Beiyang-Armee und der Beiyang-Flotte ausgeführt: Hilferufe wurden von anderen Einheiten einfach ignoriert.


Munition auf dem Schwarzmarkt.
Hinzu kamen Schlamperei und mangelnde Disziplin: Nicht einmal die Panzerschiffe der modernen Beiyang-Flotte wurden ausreichend gewartet. Türen zwischen wasserdichten Schotten wurden offen gelassen, Müll wurde in Geschützrohre entsorgt. Die Soldaten waren unterbezahlt, schlecht ausgerüstet, demotiviert, viele opiumsüchtig. Das Hauptproblem war aber die Korruption: Generäle entließen eigenhändig Soldaten und steckten sich deren Gehälter ein. Andere verkauften Munition auf dem Schwarzmarkt. Ein General verspielte mitten im Krieg sogar das Geschütz eines Kriegsschiffes. Auch die Kaiserfamilie schien sich wenig zu kümmern: Kaiserinwitwe Cixi soll mit Geldern der Marine ihren Sommerpalast renoviert haben.

China spricht heute noch von „einer der größten Demütigungen der Geschichte“. Mit erhobenem Zeigefinger gedenkt die KP denn auch des 120. Kriegsjubiläums: In einer Essayserie zum Konflikt etwa wird „analysiert, was wir aus der Niederlage lernen können“. Die historische Lektion hat deutlichen Gegenwartsbezug – nicht nur wegen der Spannungen mit Japan: „Grund für die Niederlage war eine korrupte Regierung, die auch noch den Ausbau der Marine sträflich vernachlässigte.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2014)

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