Heute vor... im August: Zustrom von Arbeitslosen nach Wien

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Ein Viertel der Wiener „brotlos“.

Neue Freie Presse am 31.8.1914

Der Umstand, dass so ziemlich in allen Teilen der Monarchie die Stilllegung oder doch Einschränkung zahlreicher Betriebe eine weitgehende Arbeitslosigkeit hervorgerufen hat, lässt vermuten, dass nach Wiederaufnahme eines stärkeren Personenverkehrs auf den Eisenbahnen bedeutende Massen von Arbeitslosen der Reichshauptstadt in der Hoffnung zustreben werden, daselbst Arbeit und auskömmlichen Lebensunterhalt zu finden. Es muss jedoch rechtzeitig und mit allem Nachdruck darauf verwiesen werden, dass sich diesen Arbeitssuchenden in Wien keine günstigen Aussichten auf Erwerb eröffnen, weil daselbst nach beiläufigen Schätzungen bereits rund ein Viertel der auf ein Arbeitseinkommen Angewiesenen brotlos ist und dass eine Ansammlung weiterer Arbeitsloser in Wien einerseits diese selbst der Not preisgeben würde, anderseits die systematisch eingeleitete, auf die ganze Monarchie sich erstreckende Arbeitsvermittlungsaktion stören würde.

England wird indische Soldaten in Europa einsetzen

Der Krieg wird zum „Weltkrieg".

Neue Freie Presse am 30.8. 1914

In der gestrigen Sitzung des Oberhauses in London wurde der Beschluss mitgeteilt, die in Frankreich stehende englische Armee auch noch durch Truppen aus Indien zu verstärken. Über den Kampfwert dieser indischen Truppen auf europäischen Gefechtsfeldern kann man wohl kein definitives Urteil abgeben. Doch kann ohne weiteres angenommen werden, dass selbst jene Abteilungen, welche an der afghanischen Grenze sozusagen ständig sich mit den dortigen Räuberbanden herumzuschlagen haben, außer einer gewissen Zähigkeit im Feuer der Truppen der europäischen Großmächte an Ausbildung stark nachstehen dürften. Der Weg von Indien nach Frankreich ist überdies ein so weiter, selbst wenn man Marseille als Ausschiffungshafen in Betracht zieht, dass es wohl mindestens drei bis vier Wochen dauern dürfte, ehe stärkere Kräfte gelandet werden können. Es ist anzunehmen, dass sich diese Kriegsarmee zu einem starken Prozentsatz aus eingeborenen Truppen zusammensetzen wird, da man wohl die ohnedies mit Rücksicht auf die große Ausdehnung und starke Bevölkerung Ostindiens nicht zu starken britischen Besatzungstruppen nicht gerne schwächen wird.

Deutsche Truppen zerstören die belgische Stadt Löwen

Die Zeitung rechtfertigt eines der schlimmsten deutschen Kriegsverbrechen.

Neue Freie Presse am 29.8.1914

Zur gleichen Stunde, zu welcher die belgische Armee einen Ausfall aus Antwerpen machte, überschüttete plötzlich die Bevölkerung von Löwen, die bisher völlig friedlich gewesen war, aus allen Fenstern, aus allen Kellern und von den Dächern herab die in den Straßen befindlichen ahnungslosen deutschen Wachen, Kolonnen und durchmarschierenden Truppen mit Gewehr- und Pistolenfeuer. Es entwickelte sich dann ein fürchterliches Handgemenge, an dem sich die gesamte Zivilbevölkerung beteiligte. Es gelang in kürzester Zeit, der rasenden Bevölkerung Herr zu werden. Das Gebot der Selbsterhaltung verlangte, dass die schwere Schuld, die die Stadt Löwen auf sich geladen hat, sofort und unnachsichtlich ihre Sühne fand und so dürfte die alte, an Kunstschätzen reiche Stadt heute nicht mehr sein. Als Kunstfreund muss man dies tief beklagen, allein hier gab es keine andere Wahl. Es unterliegt keinem Zweifel: der Überfall in Löwen war behördlich organisiert und sollte den Ausfall von Antwerpen unterstützen, denn beides ereignete sich genau zur gleichen Zeit. Es ist anzunehmen, dass die Belgier nunmehr zur Vernunft kommen und dass die letzte Lehre ihnen die Lust zur Fortsetzung des Franktireurkriegs genommen hat.

Lagert Obst und Gemüse ein!

Aufruf an die Wienerinnen, die Vorratskammern zu füllen.

Neue Freie Presse am 28.8.1914

Wienerinnen! Die diesjährige Obst- und Gemüseernte ist ungewöhnlich reich. Obst und Gemüse kommen in Massen billig auf den Markt ein. Benützet die Gelegenheit, füllet eure Vorratskammern! Obst und Gemüse werden in diesem Winter ein wichtiges Nahrungsmittel sein. Jeder sorge zunächst für sich selbst. Konserviert durch Dörren und Einkochen Gemüse und Obst (auch Fallobst), jeder nach seinen Kräften und Kenntnissen. Wer sich mit Vorrat versieht, wird den Markt entlasten. Wer mehr als seinen Bedarf deckt, wird Kranken und Hungernden helfen können. Eine große Zahl von Privaten hat schon auf ihren Garten- und Wiesenplätzen Gemüse angepflanzt. Der Ertrag wurde zum großen Teile für Spitäler und zu Ausspeisungen bestimmt. Zahlreiche Industrielle bauen auf ihren Gründen Gemüse und geben damit ihren Arbeitslosen Arbeit und sichern ihnen für später Nahrung.

Heute vor 100 Jahren: Die Menschen in Wien lernen zu sparen

Die Haushaltsbudgets werden bescheidener.

Neue Freie Presse am 27.8.1914

Das Sparen - jetzt lernt es jeder, ob er will oder nicht, ob er als Einzelner lebt oder einen vielköpfigen Haushalt führt. In der ganzen Stadt und im ganzen Land muss fast jeder sich zu einer neuen strengeren Lebensführung bequemen und seinem Gebrauch ein wesentlich bescheideneres Budget zugrunde legen. Natürlich heißt es, sich das Geld gut einteilen, weil man ja damit weiß Gott wie lang wird auskommen müssen. Also, vor allem nur ein Dienstmädchen. Die gnädige Frau muss sich eben von nun an allein anziehen, frisieren und muss selbst die verschiedenen kleinen Gänge besorgen. Auch die Teas und Jausen, überhaupt alle Einladungen hören auf. Das tägliche Menü wird vereinfacht, die Vorspeise gestrichen, das Obst, die Bonbons, wie sich überhaupt die verwöhntesten Damen sehr eifrig ins Sparen fügen. Sie rechnen jetzt wieder mit der Köchin genau das Haushaltungsbuch durch und jede Ausgabe wird auf ein Minimum reduziert. Von Kleidern, Hüten und ähnlichen Anschaffungen ist längst nicht mehr die Rede.

Feldpostbriefe in der Zeitung: „Gesundheit famos, hurra!"

Die Zeitung druckt Feldpostbriefe in Auszügen ab.

Neue Freie Presse am 26.8. 1914

„Teure, süßte Mutter! Immer dasselbe: Vorrückung, siegreich, doch harte Kämpfe für unsere braven, tapferen Truppen. Die Straßen sind elend, die Brunnen aber nicht vergiftet. Wir beim Stabe haben es gut, nur wird wenig geschlafen. Die Infanteristen kämpfen wie Löwen! Wetter exzellent, Gesundheit famos, Appetit groß! Heute ist Kaisers Geburtstag! Hurra! Ich schlafe im Freien, im Schlafsack." ... „Meine Feuertaufe habe ich hinter mir, Hurra! Und wir haben Erfolg hurra! Wir sind sehr froher Laune, alle als wirkliche Kameraden beisammen, ungewaschen, unrasiert. Na, lange dürften wir ja kaum mit diesen Hammelhirten zu tun haben, und dann kommen die anderen Kavaliere daran, einer nach dem anderen. Mein Magen muss schon ein ganzes Insektennest sein. Ich schreibe momentan umgeben von Rauch und Kanonendonner. Ich habe mir diese Sache viel furchtbarer vorgestellt. Wir machen dieselben Scherze wie im Frieden, paffen mit Gemütsruhe unsere Zigaretten und feuern dazwischen."

Heldenkampf und Untergang - das k.u.k. Schiff „Zenta"

Neue Freie Presse am 25.8.1914

„Ich nehme den Kampf mit der französischen Flotte auf", war der Wortlaut des letzten Funkspruchs, der von der „Zenta" an unsere Küstenstationen gelangte. Worte voll männlicher Entschlossenheit und aufopferndem Heldenmut. Man denke, ein kleiner Kreuzer gegen die gesamte französische Flotte! Zweitausenddreihundert Tonnen gegen etwa dreimalhunderttausend! Es ist kaum fassbar, dass solches überhaupt gewagt werden kann. Den sicheren Untergang vor Augen, zieht die „Zenta" in den Kampf. Aus vielen Hunderten von Geschützen sprüht ihr Tod und Verderben entgegen. Aber ihre wackere Bemannung kennt keine Furcht. Ruhig und besonnen werden die Geschütze bedient. Und gar mancher Treffer kündet den Franzosen, was es heißt, gegen österreichisch-ungarische Seeleute zu fechten. Unter dem Hagel der feindlichen Geschosse musste das Schiff aber zuletzt zusammenbrechen. Die jungen Menschenleben, die den Heldentod in dem ungleichen Kampf fanden, sind nicht umsonst gefallen. In fernen Zeiten noch wird der Kampf der „Zenta" in Überlieferungen weiter leben.

Neue Freie Presse am 24.8.1914

Der Zug hält, es werden Bretter vom Bahnsteig hinauf zu den Waggons gelegt, und schon steigen Soldaten mit Gewehr und Tornister langsam aus. Je mehr Soldaten nun im Freien verlegen, nach vierzig durchfahrenen Stunden wie betäubt dastehen, desto sicherer ist man, dass es sich hier zum größten Teil nur um ganz Leichtverletzte, um Marschmarode handelt. Man sieht auch nicht eine verelendete Erscheinung. Mindestens die Hälfte aller Leute steht in tadellos sauberer Marschadjustierung stramm und scheinbar ganz gesund da, und auch in den Gesichtern derer, die mit verbundenem Fuß oder einbandagiertem Arm beweisen, dass sie blessiert sind, prägt sich höchstens Ermüdung, aber weder allzu arger physischer Schmerz noch auch Gedrücktheit aus. Verhältnismäßig wenige von den etwa dreihundert Maroden und Verwundeten, die der Zug gebracht hat, sind so übel daran, dass sie auf die bereitstehenden Bahren gebettet werden müssen. Es muss aber gesagt werden - und das ist keine kriegsgeläufige Phrase, sondern buchstäbliche Wahrheit - dass alle diese Leute, die man befragt, ausnahmslos ihre Erzählungen mit denselben Worten, sei es nun im Wiener Dialekt, in tschechischer, ungarischer oder polnischer Sprache, beschließen. Mit den Worten: „Hoffentlich kann ich bald wieder ins Feld gehen."

Der Kampf um die Seelen der Neutralen

Neue Freie Presse am 23.8.1914

Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" bespricht in einem längeren Artikel den Sieg der deutschen Armee bei Metz und schließt: Wir waren von einem dichten Lügengewebe eingesponnen. Wenn die Kriege mit Druckerschwärze und Zeitungspapier ausgefochten würden, so wäre Deutschland heute mausetot. Französische Art ist es immer gewesen, sich von phantastischen Selbsttäuschungen einwiegen zu lassen, bis dann das Erwachen, der Zusammenbruch in derselben Stunde kam. Mit dem ungeheuren Lügenapparat aber, der in diesen Wochen von den Franzosen und Engländern in Bewegung gesetzt wurde, ist noch ein ganz bestimmter Zweck verfolgt worden. Es war der Kampf um die Seele der Neutralen. Es handelte sich darum, die neutralen Staaten zu einer Stellungnahme gegen Deutschland und Österreich-Ungarn zu bewegen, ehe die Tatsachen des Schlachtfeldes das entscheidende Wort sprachen.

Der Serbienfeldzug - ein Dämpfer für die k.u.k. Armee

Neue Freie Presse am 22.8.1914

Mit dem Eingreifen Russlands in den Kampf zwischen Österreich-Ungarn und Serbien waren wir genötigt, unsere ganze Kraft für den Hauptkampf im Nordosten zusammenzufassen. Damit wurde der von der Öffentlichkeit vielfach als Strafexpedition aufgefasste Krieg gegen Serbien von selbst zu einer die Hauptentscheidung kaum berührenden Nebenaktion. Nichtsdestoweniger ließen die allgemeine Lage und die Nachrichten über den Gegner eine Offensivaktion zweckmäßig erscheinen, die aber mit Rücksicht auf die vorstehend dargelegten Gesichtspunkte nur als kurzer Vorstoß auf feindliches Gebiet gedacht war, nach dessen Gelingen notwendigerweise wieder in die frühere zuwartende Haltung zurückzukehren war, um bei Gelegenheit abermals zum Schlage auszuholen. Dieser kurze Offensivstoß erfolgte denn auch in der Zeit zwischen dem 13. Und 18. August durch einen Teil der im Süden verwendeten Kräfte mit hervorragender Tapferkeit und Bravour und führte dazu, dass er fast die ganze serbische Armee auf sich zog, deren mit großer numerischer Überlegenheit geführten Angriffe unter den schwersten Opfern an dem Heldenmut unserer Truppen scheiterten. Dass auch diese zum Teil bedeutenden Verluste erlitten, ist bei dem an Zahl weit überlegenen, um seine Existenz kämpfenden Gegner nicht zu wundern.

Das Kriegspressequartier - eine Idylle

Neue Freie Presse am 21.8.1914

Im Kriegspressequartier. Ein Herrensitz in freundlichem Hügelgelände. Alles ist hier feudal: Das Schloss mit seinem massigen Mitteltrakt und den weitausladenden Flügeln; der Park davor - englisch gestutzte Rasenflächen, Palmengruppen, bunte Rabatten. Das ist der erste Standort des Kriegspressequartiers. Im Schloss kantonieren die Herren des Stabs. Für uns Berichterstatter räumte man die Schule des Städtchens aus, und wir wären alle darin wie in einer Kaserne vereinigt, wenn es dem einen oder andern nicht gelang, sich irgendwo besseres Quartier in einem Bürgerhaus zu sichern. Der Schlossherr weilte, als der Krieg ausbrach, in der Fremde und fand nicht rechtzeitig nach Haus; nun hantieren unsere Köche in der herrschaftlichen Küche, im Jagdsaal deckt man uns den Mittagstisch, im Boudoir der Gräfin schlafen zwei Adjutanten. Schade, dass nicht auch die Flügel des Schlosses bewohnbar sind. Es wäre idyllisch, wenn uns nicht die Neugierde verzehrte: was geht draußen vor? Wir wissen nichts. Das Wetter ist herrlich; gar mancher Mutter daheim wird es ein Trost sein, zu hören, dass ihr Sohn nicht in Schmutz und Regen biwakieren muss.

Privater Verein organisiert Mittagsessen für Kinder

Neue Freie Presse am 20.8.1914

Wer in diesen von Sorgen getrübten Tagen eine hellere Viertelstunde haben will, der muss sich mittags nach Ottakring hinausbemühen. Es ist ja ein ungewöhnliches Ausflugsziel, und Aufheiterung pflegt man somit in diesem Bezirk der kleinsten und ärmsten Leute nicht zu suchen, aber jetzt, wo sich alle Begriffe verschoben haben, gibt es auch dort draußen ein erfreuliches Bild, nämlich den Mittagstisch, den die Damen des Vereines „Settlement" für die Kinder armer Leute, die durch den Krieg arbeitslos geworden sind, bereiten. In der Toreinfahrt eines einstöckigen Hauses, im Hof, auf der Stiege drängen sich die kleinen Gäste. Die meisten barfuß, barhäuptig, dürftig gekleidet, aber sie machen durchaus keinen verwahrlosten Eindruck, sind artig und geduldig. Die Kleineren werden von ihren Müttern oder größeren Geschwistern hergebracht, andere sind schon Stammgäste, die den Hausbrauch kennen. Jedes Kind holt sich selbst seinen Blechteller und Löffel, und die Damen, die hier den Dienst haben, teilen vor. Die Kinder essen rasch, ganz vertieft, oft gierig, und Überbleibsel sieht man selten auf einem Teller.

Hochadel spendet Fußlappen für Soldaten

Neue Freie Presse am 19.8.1914

Fürstin Pauline Metternich-Sandor schreibt uns: „Geehrte Redaktion! Wollen Sie die Güte haben, diese wenigen Zeilen in Ihrem geschätzten Blatte aufzunehmen. Ich würde es für sehr wünschenswert erachten, wenn man den Soldaten die sogenannten Fußlappen in großer Menge spenden würde. Man kann sich nicht vorstellen, welche Freude man ihnen damit macht. Auf der Durchfahrt der Militärzüge in Hölath, der Station unseres Badeortes, wo diese immer längere Zeit anhalten, wurden von uns Teplitzer Kurgästen einige solcher Fußlappen verteilt, und da kamen wir zur Einsicht, welche Wohltat man den Leuten damit erweist. Sie rissen sich förmlich darum und riefen in ihrer stürmischen Weise „Hoch" aus mit dem Zusatze: „Das ist einmal eine gute Idee!" Ich erlaube mir nun, den arbeitsamen Frauen zu raten, solche Lappen in großer, sehr großer Anzahl anzufertigen und recht bald den Soldaten zukommen zu lassen, denen sie damit eine wahre Wohltat erweisen. Die Anfertigung ist reines Kinderspiel.

Wien feiert den Geburtstag des Kaisers

Neue Freie Presse am 18.8.1914

Tausende von bunten Fahnen in den österreichischen, ungarischen und reichsdeutschen Farben brachten heute Leben und Farbe in die Monotonie dieses regengrauen Tages. Wien hat sich geschmückt, und man wird heute schwerlich nach einem Hause ohne Fahne, einem Geschäft ohne Kaiserbild, bunte Tücher und grünem Reisig suchen. Schwarz und gelb beherrschen die Straßen. Kaum ein Passant, der nicht ein kleines, schwarz-gelbes Fähnchen im Knopfloch tragen würde, schwarz-gelbe Schleifen bei den Damen, Schulkinder mit schwarz-gelben Fähnchen. Herzliche, liebenswürdige Szenen spielen sich vor den reich dekorierten Stationen der Stadtbahn ab. Überall sind dort Körbe aufgestellt, in welche die Passanten Päckchen mit Zigaretten und Zigarren, Schokolade, ganze Salamis und Kognakflaschen hineinwerfen. Und die Soldaten, die in den Eingängen stehen, quittieren diese greifbaren Beweise der Liebe und Zuneigung mit verlegenem Salutieren.

Neue Freie Presse am 17.8.1914

Die letzten Tage, welche die Vertreter Österreich-Ungarns in Paris verlebten, haben ihnen gezeigt, dass die Stimmung, die bis zum Mobilisierungstag eine sehr ruhige gewesen ist, plötzlich umschlug. Man kennt die Verfolgungen, denen österreichische und deutsche Staatsangehörige in Paris ausgesetzt waren, man hat von der Zertrümmerung von Kaufläden, Gasthäusern und Hotels, welche Österreichern gehören oder von ihnen geführt wurden, gehört. Es war eine förmliche Explosion von Volksleidenschaften zu beobachten. Die wurden noch genährt durch falsche Nachrichten vom Kriegsschauplatz. „Lüttich leistet heldenmütigen Widerstand und die Deutschen verschwenden dort vergebens ihre Kräfte", so hieß es in den Zeitungen. Da war Lüttich schon gefallen. Die Franzosen werden es lange nicht erfahren.

Kein Senf aus Frankreich, keine Zwetschken aus Serbien

Neue Freie Presse am 16. 8.1914

Sonst bedeutet Mariä Himmelfahrt den Tiefpunkt der Saison. Heute geht es spurlos an dem Stadtbilde vorüber. Im Gegenteil. Die Straßen und die öffentlichen Lokale sind so voller Menschen, als ob wir jetzt Weihnachten schrieben, und besonders die große Menge von Kindern fällt auf. Mitte August hat in anderen Jahren, wer nur halbwegs kann, seine Kinder bereits oder noch auf dem Lande, fernab vom Dunst, vom Staub und der glühenden Hitze der Großstadt.Viele Kaufläden sind ungeachtet des Feiertags geöffnet, überall sieht man Käufer. Die Abneigung gegen früher beliebt gewesene Reklamen ausländischer, besonders französischer Produkte, hat überraschend schnell an Boden gewonnen. Der Delikatessenhändler hat die „französische" Sardine, das „Aixer Öl", den Senf aus Frankreich gestrichen, dagegen auf anderen Ankündigungstafeln Zusätze gemacht, wie sie der jetzigen Stimmung entsprechen: „Echte" Russen, Zwetschken „nicht aus Serbien." Alles trägt jetzt die Kokarden mit schwarz-gelbem Untergrund und dem schwarz-weißroten preußischen Querbalken. Die geographischen Kenntnisse der unteren Volksschichten haben sich in diesen Augusttagen erweitert, als ob wir seit Generationen ein Volk von Seefahrern wären.

Neue Freie Presse am 15.8.1914

Vorläufig werden keine weiteren Anmeldungen von freiwilligen Pflegerinnen entgegengenommen, da jetzt schon mehr Frauen und Mädchen sich in den Dienst gestellt haben, als man verwenden kann. Ein Rundgang durch die Operationssäle, in denen diese Zukunftssamariterinnen in ihren schweren Pflichten unterwiesen werden, erhärtet die Tatsache von einem Massenandrang. ... Rund um einen Operationstisch sehen wir im weiteren Umkreis etwa dreißig Frauen und Mädchen, zum großen Teil recht jung an Jahren, die in ihren funkelnagelneuen weißen Leinwandkleidern ruhig und ernst dastehen und den Handbewegungen des Arztes folgen. Der süßlich-schwere Geruch, die Hitze, die knappen Kommandoworte des Arztes, das Zählen des Patienten, bevor er im Ätherrausch versinkt - das alles wirkt atembeklemmend und enervierend. Hier und dort wird eine der jungen Damen, die jetzt ihre ersten Erfahrungen sammeln sollen, blass bis in die Lippen und sie atmet schwer und tief. Die Operation ist vorbei und geglückt. Wer Pflegetalent hat, wird in dieser einen Viertelstunde schon erheblich viel gelernt haben. Nur wer den eisernen Willen, restlose Hingabe und stählerne Nerven hat, taugt für den Beruf einer Kriegspflegerin. Die Professoren scheiden unerbittlich die Spreu vom Weizen, schicken Damen, die ihrem erfahrenen Blick als unbrauchbar erscheinen, ruhig wieder nach Hause.

Österreich offiziell im Kriegszustand mit Frankreich und England

Neue Freie Presse am 14.8.1914

Frankreich und England haben der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg erklärt. Dieser Schritt der Ententemächte trifft uns nicht unvorbereitet, er ist die natürliche Folge des Bundesverhältnisses der beiden Staaten. Die Gegnerschaft Frankreichs zu Deutschland datiert bekanntlich seit den Ereignissen der denkwürdigen Jahre 1870/71. Im Laufe der Zeit hatte die feindselige Stimmung gegenüber Deutschland in der breiten Masse des französischen Volkes unleugbar eine Abschwächung erfahren und wäre wohl schließlich ganz geschwunden, wenn es Russland nicht gelungen wäre, diesen natürlichen Prozess zu verhindern. Frankreich zieht nunmehr in den Krieg im Dienste der politischen Interessen und Ziele des Zarenreiches. Englands Stellungnahme muss man als logisch unerklärlich bezeichnen. England beruft sich zur Rechtfertigung seines Vorgehens auf den in Verletzung der Neutralitätsverträge erfolgten Einmarsch deutscher Truppen in Belgien. Das Vorgehen der beiden Staaten kann nur als das Ergebnis des komplizierten Systems der europäischen Allianzen betrachtet werden. Es kann unter diesen Umständen auch keinem Zweifel unterliegen, dass zwischen England und Frankreich bindende Abmachungen zustande gekommen sind, deren Bestehen dem englischen Volke und dem Parlament verheimlicht worden sind.

Erster Bericht aus dem k.u.k. Kriegspressequartier

Neue Freie Presse am 13.8.1914

Seit Ende Juli hatten wir darauf gewartet, wir vorbestimmten Kriegsberichterstatter: wann, wann dürfen wir endlich hinaus an die Grenze? Kriegserklärung folgt auf Kriegserklärung, Regiment um Regiment zieht an den Feind - und wir? Müssen warten. Zitternde, fiebernde Wochen der Ungeduld. Wir sagen es uns selbst hundertmal am Tage: die Mobilisierung, der Aufmarsch, müssen erst beendet, die Hauptquartiere im Feld sein, ehe wir folgen können; dennoch ist es eine unerträgliche Prüfung, das Warten. Heute, am 11. August, 3 Uhr nachmittags, blies der Trompeter des Pressequartiers endlich das Signal: Vorwärts! Man sieht erst jetzt, welch großer Apparat es ist, das k.u.k. Kriegspressequartier, dennoch ein winziger, unwesentlicher Bestandteil der ungeheuren Maschine „Armee". Die Frauen, die Mädchen winken uns nach. Heiße Tränen fließen. Die letzte Frage der Frauen war: „Wann werden wir uns wiedersehen?" Niemand kann sie beantworten.

Propagandakrieg um Kriegsgräuel in Belgien

Neue Freie Presse am 12.8.1914

Wie bekannt wurde, verbreiten die Franzosen die unerhörtesten Behauptungen über Grausamkeiten der deutschen Truppen. Demgegenüber ist festzustellen, dass nichts derartiges geschehen ist. Naturgemäß sind die deutschen Truppen gezwungen, sich gegen die belgische Zivilbevölkerung, die sich an dem Kampfe aus dem Hinterhalt beteiligte, zu verteidigen. Wie der Krieg von der belgischen Bevölkerung geführt wurde, ergibt sich aus folgenden Einzelheiten, die von Augenzeugen geschildert werden: Danach haben wir von Seiten der belgischen Bevölkerung von Männern, Frauen und halbwüchsigen Burschen an unseren Truppen alles erlebt, was wir sonst nur in Negerkämpfen erlebten. Die belgische Zivilbevölkerung schießt aus jedem Haus, aus jedem dichten Busch mit völlig blindem Hass auf alles, was deutsch ist. Wir hatten schon in den ersten Tagen Verwundete und Tote durch die Zivilbevölkerung. So wurde einem Deutschen nachts im Bett die Kehle durchschnitten. Ein anderes Haus hatte die Fahne des Roten Kreuzes aufgesteckt; man legte fünf Mann hinein und am anderen Morgen waren alle fünf erstochen.

Wer macht die Erntearbeit auf den Feldern?

Neue Freie Presse am 11.8.1914

Die rasche und ungeschmälerte Einbringung der Ernte liegt in diesem kritischen Augenblick im eminentesten Interesse der Heeresverwaltung, der städtischen Bevölkerung sowie der Landwirte selbst. Zufolge der Einberufung wehrfähiger Männer hat sich ein geradezu beängstigender Mangel an Arbeitskräften geltend gemacht. Die k.k. Landwirtschaftsgesellschaft in Wien hält es für ihre Pflicht, in dieser Notlage einzugreifen. In diesem Zeitpunkt, in welchem zufolge der zahlreichen Einberufungen landwirtschaftlich geschulte Hilfskräfte nur in ganz geringem Maße verfügbar sind, ergibt sich kein anderes Mittel, als durch Heranziehung der jetzt arbeitslos gewordenen städtischen und industriellen Bevölkerung in der Landwirtschaft einen Ersatz zu leisten. Immerhin werden sich auch unter diesem Stande Leute finden, welche auf dem Lande aufgewachsen sind und daher der landwirtschaftlichen Arbeit nicht fremd gegenüberstehen.

Wann werden die Verlustlisten publiziert?

Neue Freie Presse am 10.8.1914

Mit dem Einsetzen der kriegerischen Operationen wird natürlich im ganzen Volk der dringende Wunsch laut, stets schleunige Kenntnis von unseren Verlusten zu erhalten. Dieser Wunsch ist durchaus begreiflich, und es wird ihm in offenster, weitestgehender Weise Rechnung getragen werden. Jeder, der mit den militärischen Verhältnissen vertraut ist, wird aber auch verstehen, dass es einer gewissen Zeit bedarf, bis nach dem Gefecht die Zahl der Verluste übersehen werden kann. Es ist sogar für die am Kampfe beteiligten Regimenter unmöglich, unmittelbar nach dem Kampfe ein einigermaßen zuverlässiges Bild zu geben. Es ist Vorsorge dahin getroffen, dass die Truppen durch die Militärbehörden in der Heimat den Angehörigen so schnell als möglich Nachricht geben. Die Heeresleitung rechnet auch hier auf das Vertrauen des tapferen und zu jedem Opfer bereiten Volkes, in welchem sie die festeste Stütze findet in dem uns aufgezwungenen schweren Kampfe.

Lob des Kaisers für staatstragende Zeitungen

Neue Freie Presse am 9.8.1914

Der Kaiser hat ein Wort der Anerkennung an die Presse gerichtet. Wir nehmen es mit ehrfürchtigem Danke entgegen, und der Beifall, der von der höchsten Stelle im Reich kommt, und die freundliche Zustimmung, die uns vom Throne herab ausgesprochen wird, sind wertvolle Begleiter durch die raue Zeit mit ihren heftigen Erschütterungen, die so unmittelbar von der Presse empfunden werden und die gerade unseren Beruf mit schweren Verantwortungen belasten. In einem Meer von Geschäften und Mühen, die fast das einem Menschen zugemessene Maß überschreiten, hat der Kaiser nicht vergessen, dass die aus dem Vaterland hervorgewachsene Presse in den jetzigen Schicksalsstunden dem Reiche, dem sie mit ganzer Hingebung zugetan ist, dient und ihm, was an Kraft in ihr sein mag, widmet.

Euphorie über militärische Erfolge

Neue Freie Presse am 8.8. 1914

Eine felsenfeste Zuversicht erfüllt die gesamte Öffentlichkeit in Österreich. Die österreichisch-ungarischen Soldaten sind schon auf dem Boden von Russland und sind nach der Besetzung mehrerer Punkte in der Nähe von Krakau in Verbindung mit dem deutschen Heer getreten. Schon in den Anfängen des Krieges mit Russland und Frankreich und Serbien und Montenegro ist das großartige Ergebnis gesichert, dass sich kein Feind auf dem Gebiete der Verbündeten festgesetzt hat. Österreich-Ungarn und Deutschland sind vor den Leiden geschützt, die der Einbruch des Gegners hervorbringt, und die Schrecken und Qualen, die unvermeidlich sind, wenn der Schauplatz der Gefechte und Schlachten in der eigenen Heimat liegt, werden uns hoffentlich erspart bleiben. Das ist eine Beruhigung für unsere Grenzländer, die ihre Fürsorge mit ungeteiltem Herzen der Armee zuwenden können und die Berührung mit trunkenen Barbaren und asiatischen Horden nicht zu fürchten haben.

Das Leben in der Stadt verändert sich

Neue Freie Presse am 7.8.1914

Die ganze große Stadt befindet sich in einer Art von Kriegszustand. Jede Tätigkeit, die nicht irgendwie damit zusammenhängt, wird gleichgültig, interesselos. Wie in einer Betäubung gehen die Menschen ihren Geschäften nach, verrichten ihre tägliche Arbeit, erfüllen ihre Pflichten, aber Augen und Ohren, alle Aufmerksamkeit ist nur auf das Militärische und Kriegerische gerichtet. Jeder Fünfte, dem man begegnet, trägt Uniform, und zwar ist es immer dieselbe hechtgraue Felduniform. Das berühmte österreichisch-ungarische „Farbenkastel" ist aus taktischen Gründen verschwunden. Auch sonst ist das Straßengetriebe jetzt wie ein lebendiger Anschauungsunterricht in militärischen Dingen. Wien ist aus seiner Gemütlichkeit aufgescheucht, bewegt, erregt. Das ganze Interesse konzentriert sich auf die Bahnhöfe. Auch sie zeigen eine ungewohnte militärische Dienstmiene. Aller Reise- und Gepäcksverkehr, der sonst hier flutet, ist völlig ausgeschaltet, und der ganze Bahnhof ist zu einer Art Kaserne geworden. Der Mobilisierungsfahrplan kennt keine Stockung, keine Pause und keine Rast.

Abschiedsszenen auf Wiener Bahnhöfen

Neue Freie Presse am 6.8.1914

Seit den heutigen Nachtstunden sind die Wiener Bahnhöfe das Wanderziel Zehntausender, die ihren Angehörigen einmal Lebewohl sagen, die Hand drücken und irgendeine Aufmerksamkeit erweisen wollen. In langer Reihe sind Tische und Bänke aufgestellt, an denen die Mannschaften vor der Einwaggonierung ihre Mahlzeit nehmen. In diesen improvisierten Speisesälen herrscht eine sehr gute Stimmung und musterhafte Ordnung. In langer Kolonne marschieren die Kompagnien mit ihren Essschalen an den fahrbaren Feldküchen vorüber. Sofort nach dem Essen heißt es aufstehen, anderen Platz machen. Auf den Geleisen stehen in endloser Reihe vierzig und fünfzig Waggons hintereinander, die Züge, welche Mannschaften, Pferde, Bagage, Munition, Sattelzeug, Mehrvorräte aufnehmen. Auf den hölzernen Brücken trappeln die Pferde empor, in wenigen Minuten ist der Waggon, der sechs Pferde und die dazu gehörigen sechs Reiter und ihre Ausrüstung aufnimmt, gefüllt. Zwischen den Zügen die Angehörigen, die Freunde der Einrückenden, man verbrüdert sich rasch, doch treten in den Erzählungen überall die Einzelschicksale hinter dem großen Ganzen zurück.

Bruderkrieg zwischen England und Deutschland

Neue Freie Presse am 5.8. 1914

So hat sich denn erfüllt, was seit dem Tode der Königin Viktoria befürchtet wurde. König Georg führt Krieg gegen den Sohn der Lieblingstochter seiner Großmutter. Jetzt kämpft der Blutsverwandte gegen den Blutsverwandten, und das englische Volk stürzt sich auf das deutsche, ohne Rücksicht auf die geschichtlichen Erinnerungen. Wenn ein solcher Krieg möglich ist, dann hat die Zivilisation keine Macht über die Menschen und bricht zusammen. Niemand kann alle Wirkungen des zwischen Deutschland und England ausgebrochenen Krieges vorhersehen. Eines ist jedoch gewiss, Deutschland kann von der Möglichkeit eines solchen Ereignisses sicher nicht überrascht worden sein. Das musste in Rechnung gezogen werden und der Generalstab des Deutschen Reiches hat wohl genau abgewogen, ob ihm der Weg durch Belgien mehr wert sei als die englischen Feindseligkeiten. Der Generalstab wird vermutlich daran gedacht haben, dass die englische Neutralität unter allen Verhältnissen je nach den Wechselfällen des Krieges ein sehr unsicheres Gut hätte sein können, während der Weg durch Belgien vielleicht ernste militärische Vorteile sichert.

Da kommt dein Ruf, o Kaiser!

Neue Freie Presse am 4.8.1914

Als müd' wir abends legen
Die Sense aus harter Hand,
Da kommt dein Ruf, o Kaiser,
Zu streiten fürs Vaterland.

Ein Kuss im Dunkeln den Lieben,
Den Kindern ein Kreuz aufs Haupt.
Im Nebel liegt die Heimat,
Der sie Recht und Ehre geraubt.

Spät reift bei uns das Korn;
Wir streifen im Finstern die Aehren,
Die unsere Hand nicht soll schneiden
Und können den Tränen nicht wehren.

Doch am Morgen mit festem Herzen
Bei der Fahne im Sonnenschein
Steh'n wir, o Kaiser, o Vater!
Im Leben, im Tode dein.

Ramsau bei Molln, Oberösterreich, von Marianne Schrutka v. Rechtenstamm

Neue Freie Presse am 3.8.1914

Der Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Russland wird in der Geschichte das Datum vom 1. August 1914 haben. Nun zeigt sich im Deutschen Reiche, was wir in der Monarchie schon früher erlebt haben. Millionen eilen zur Verteidigung des Vaterlandes herbei, und eine meisterhafte Organisation, die alles vorausgesehen und alles planmäßig geordnet hat, weist jedem seinen Platz an, und frei von Hochmut, aber mit festem Entschlusse, verlassen die Männer ihren Beruf und nehmen Abschied von Eltern, Frauen und Kindern. Deutschland hat bisher keinen Doppelkrieg geführt. Jetzt ist es ihm beschieden, im Osten und im Westen zu kämpfen. Das Deutsche Reich ist entrüstet, von Russland mit Krieg überzogen zu werden, und der Zorn richtet sich gegen Petersburg noch weit mehr als gegen Paris. Über die Vorgänge in der französischen Hauptstadt und über das Verhalten des Publikums anlässlich der Mobilisierung wird nur gemeldet, dass Ruhe in Paris herrsche und dass auf den Boulevards patriotische Lieder gesungen werden. Bis zu diesem Augenblicke ist der formelle Kriegszustand nur zwischen Deutschland und Russland eingetreten. Österreich-Ungarn hat bisher den Krieg formell nur gegen Serbien erklärt.

Heute vor 100 Jahren: "Alles das ist so erhaben"

Neue Freie Presse am 2.8.1914

Kaiser Wilhelm hat die Mobilmachung der gesamten deutschen Streitkräfte angeordnet. Vielleicht wird, noch ehe diese Sommernacht verschwindet und das Morgenrot den Himmel färbt, das große Ereignis der Kriegserklärung sich vollziehen, das sich im Wirbel der Stimmungen unaufhaltsam vorbereitet hat. Fünf Großmächte in einen Krieg verwickelt, Schlachten zu Land und zur See, Kämpfe unter dem Wasser und in der Luft, Waffen von wunderbarer Vollkommenheit, und die Millionen, die an diesem schönen Augusttage, an dem die Natur eine Freude über sich selbst zu haben scheint, Felder und Wiesen, Werkstätten und Schreibstuben verlassen, um sich dem Feinde entgegenzuwerfen! Alles das ist so erhaben und ringt vergeblich nach Ausdruck, dass nur die Empfindung bleibt, ein Sophokles wäre nötig, um die sich hoch auftürmende Tragödie des menschlichen Geschlechtes in Worte zu fassen, die sagen könnten, was jetzt die Herzen bewegt.

Allgemeine Mobilmachung in Österreich-Ungarn, Russland, Deutschland

Neue Freie Presse am 1.8.1914

Die Forderung Russlands, die Feindseligkeiten mögen eingestellt werden, damit Serbien nicht niedergeworfen werde, ist abgelehnt worden. Schon vor einigen Tagen war es bekannt, dass Russland große Truppenmassen im Süden und Südwesten anhäufe. Das war eine schlechte Begleitmusik zu dem Verlangen, Österreich-Ungarn möge seine Armee zurückziehen. Daraufhin kam der deutsche Schritt, der binnen vierundzwanzig Stunden Aufklärung über die russischen Rüstungen verlangt. Deutschland muss wissen, ob der Artikel 2 des deutsch-österreichischen Bündnisses, wonach es Krieg zu führen habe, wenn Österreich-Ungarn von Russland angegriffen wird, in Anwendung kommen werde. Zu gleicher Zeit ist außerdem bekannt geworden, dass Russland seine Rüstungen noch mehr ausdehne und die allgemeine Mobilisierung angeordnet habe. Dieser Faustschlag, dessen Tragweite unabsehbar ist, konnte nicht anders beantwortet werden als durch die allgemeine Mobilisierung in Österreich-Ungarn und durch die Proklamierung des Zustandes der Kriegsgefahr in Deutschland. Noch immer wird wie auf ein Wunder gehofft, welches vom Himmel herabkommen könnte, um den Frieden zu retten. Aber zu große Felsblöcke sind ins Rollen gebracht, zu viele Milliarden an Geld und wirtschaftlichem Wert sind geopfert worden, als dass ein Zurückstauen dieser Lawine, ein Abdämmen dieses gewaltigen Stromes denkbar wäre.

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