DDR-Massenflucht: Ein Picknick hebt die Welt aus den Angeln

HUNGARY IRON CURTAIN ANNIVERSARY
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Der Durchbruch des Eisernen Vorhangs leitet den Anfang vom Ende der DDR ein. Zeitzeugen schildern das Paneuropäische Picknick und ihre – enttäuschten – Hoffnungen.

Vor dem Denkmal zum Durchbruch klicken die Kameras einer Touristengruppe. Achtlos brettern die Vehikel der Grenzpendler auf der Pressburger Straße unweit des ungarischen Dorfes Sopronköhida an dem Nachbau des Signalleitsystems des Eisernen Vorhangs vorbei. Die Demarkationslinie zwischen dem sozialistischen Osten und kapitalistischen Westen sei jahrzehntelang eine „kafkaeske Welt“ gewesen, erzählt der Chemie-Ingenieur László Nagy: „Wir wussten, dass es den Eisernen Vorhang gibt, aber durften uns ihm nicht nähern – und sahen ihn nie.“

Die symbolische Überwindung der Spaltung Europas hat der Ex-Dissident als Mitorganisator des Paneuropäischen Picknicks vor 25 Jahren zelebrieren wollen. Aber dann kam Nagy für den eigentlichen Durchbruch an der ungarisch-österreichischen Grenze doch zu spät. Kurz vor 15 Uhr drückten am 19. August 1989 Dutzende DDR-Flüchtlinge ein Holztor ein – und machten für hunderte von Schicksalsgenossen den Weg nach Westen frei. „Viele priesen die Planung der Massenflucht hernach als genial, aber das ist Unsinn“, erzählt der 58-jährige Zeitzeuge: „Wir Organisatoren wurden damals am meisten überrascht.“

„Alles unter Kontrolle.“
Doch die Veranstalter des Polit-Happenings waren keineswegs die Einzigen, die von den Flüchtlingen überrumpelt wurden. Alles unter Kontrolle, er müsse sich über das etwaige Erscheinen von DDR-Flüchtlingen keine Sorgen machen, hatten dem diensthabenden Grenzkommandanten Árpád Bella seine Vorgesetzten versichert. Doch plötzlich sah sich der damals 42-Jährige ohne Vorwarnung mit Ostdeutschen konfrontiert, die Richtung Westen drängten. Versuche, die Vorgesetzten zu erreichen, schlugen fehl: „Da war mir klar, dass etwas nicht stimmt.“

Die festgefügte Nachkriegswelt geriet im Sommer von Europas Schicksalsjahr 1989 aus den Fugen. In der vom Wettrüsten mürbe gestrittenen Sowjetunion predigte Parteichef Michail Gorbatschow den Umbau („Perestroika“) des sozialistischen Staatssystems. Und auch in den Satellitenstaaten taten sich stets mehr Reformrisse auf. SED-Chef Erich Honecker oder Rumäniens Staatschef Nicolae Ceauşescu reagierten mit verstärkter Repression. Ungarn aber mutierte zu einem der Schrittmacher der Änderung – und Öffnung.

Bereits 1988 hatte Staatsminister Imre Pozsgay die Sicherungsanlagen an der Westgrenze als „moralisch und politisch veraltet“ erklärt. Budapest wollte nicht mehr den Kerkermeister für die DDR mimen. Denn für das hoch verschuldete Land hatte der kostspielige Grenzzaun längst keine Funktion mehr: Schon 1988 konnten sich die Ungarn der Reisefreiheit erfreuen.

Premier Miklós Németh trieb den am 2. Mai 1989 verkündeten Abbau des Eisernen Vorhangs rasch voran. Als Österreichs Außenminister, Alois Mock, und Amtskollege Gyula Horn Ende Juni den Grenzdraht zerschnitten, war dieser längst demontiert. Für die „Show“ wurden eigens zehn Meter des Zauns wieder aufgebaut, so Bella: „Unser Auftrag blieb aber zunächst derselbe: hart und zuverlässig die Grenze zu schützen.“ Doch die Nachricht vom Abbau der Grenzhürde elektrisierte in der DDR die republikmüden Urlauber. Zehntausende mit abgelaufenen Visa bereiteten sich am Plattensee mit der eigenmächtigen Verlängerung ihres Urlaubs auf die Flucht nach Westen vor.

Die pensionierte Krankenschwester Agnes Baltigh lebte schon damals in Fertörakos am Neusiedler See, direkt an der Grenze. Die Umwälzungen, die den Kontinent erfassten, verfolgte die heute 89-Jährige zunächst nur am Rand. Die Witwe hatte einen Nebenjob als Kartenverkäuferin im Strandbad. Am Morgen des 1. August verkündete dort ein Grenzschutzmajor eine Botschaft, die nicht nur ihrem Sommerjob, sondern auch dem Leben tausender DDR-Urlauber eine radikale Wendung geben sollte: „Ab heute können alle Ausländer aus den Ostländern zum See kommen. Das bisherige Verbot ist aufgehoben.“

Kurz darauf rollten die ersten Trabis zum Strand. Und rasch sah sich Baltigh wegen ihrer guten Deutschkenntnisse mit einer ganz neuen Klientel konfrontiert. Wie man denn am besten nach „drüben“ komme, lautete die Frage, die sie in den nächsten sechs Wochen hundertfach beantworten sollte.

Fluchthelferin „Tante Agnes“.
Ihren Wohnort kannte die vierfache Mutter gut, die umliegenden Wälder allerdings kaum. Von Winzern, Nachbarn, aber auch Grenzsoldaten erhielt sie Informationen, die den Ostdeutschen den Weg in den Westen öffnen sollten: „Einer der Soldaten erzählte mir, dass der mittlere der drei Wachtürme nie besetzt sei: einfach beim Steinbruch in den Wald und dann stets den mittleren Turm anpeilen.“ Unzählige Ostdeutsche warteten bei „Tante Agnes“ den Einbruch der Dunkelheit ab. Sie kochte Tee, schmierte Brote und hörte deren trostlosen Berichten zu. „Die Leute waren so verzweifelt. Ich half ihnen, weil ich Verständnis hatte, dass sie wegwollten.“

Ihre Mutter warf ihr vor, sich mit der „illegalen Geschichte“ in Gefahr zu bringen. Angst habe sie keine verspürt, sagt die zierliche Frau. Dennoch habe sie in ihrer sechswöchigen Karriere als Fluchthelferin zehn Kilo abgenommen: „Keine Zeit, um zu essen.“

Auch László Nagy verspürte damals zunehmenden Stress. Ende Juli traf bei den Aktivisten des Demokratischen Forums in Sopron ein Brief von Gesinnungsfreunden aus Debrecen mit dem Vorschlag ein, ein Paneuropäisches Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze zu organisieren. „Bau ab – und nimmt mit“ lautete der Slogan, mit dem dazu aufgefordert werden sollte, den Eisernen Vorhang zu zerschneiden – und gemeinsam Speck zu braten.

„Wir wollten demonstrieren, dass der Eiserne Vorhang selbst abgebaut werden kann, nicht nur in Ungarn, auch in der DDR und der Tschechoslowakei. Doch uns blieben nur drei Wochen für die Organisation, und in Ungarn hatte damals kaum jemand ein Telefon.“ Die Schirmherrschaft hatten die Initiatoren Staatsminister Pozsgay und Otto Habsburg als Vorsitzendem der Paneuropäischen Union angetragen. Überraschend rannten sie in Budapest offene Türen ein. Später habe ihm Pozsgay erzählt, dass Premier Németh in dem Picknick eine Chance sah, die Reaktion Gorbatschows auf eine Eskalation an der Grenze zu testen, so Nagy.

Europas Geheimdienste zugegen.
Wer die Flugblätter zum Picknick auf Deutsch drucken ließ, wisse er bis heute nicht: „Aber beim Durchbruch waren sicher alle Geheimdienste Europas zugegen.“ Dass ihr Picknick als Testballon diente, war den oppositionellen Organisatoren nicht bewusst. Nagy fiel aber auf, dass ihnen die Behörden anders als sonst keine Probleme bereiteten: „Vor dem Picknick erwarteten sie uns schon mit dem Stempel in der Hand.“

Da sich der Eiserne Vorhang nicht direkt an der Grenze, sondern zwei Kilometer im Hinterland befand, sollte das Picknick hinter dem Gefängnis von Sopronköhida veranstaltet werden. Dort fanden sich noch Reste des Grenzzauns, den die Gäste zerschneiden konnten. Der Grenzübertritt sollte an dem Tor an der Pressburger Straße erfolgen. Provisorische Grenzübergänge seien 1989 keine Seltenheit mehr gewesen, so Bella: „Bei binationalen Dorffesten war das durchaus üblich.“ Von dem Picknick erfuhr Baltigh von ihren ostdeutschen Schützlingen, die ihr von der geplanten Öffnung eines Grenztors erzählten: „Ich sagte, geht hinaus und versteckt euch. Wenn ihr seht, dass das Tor aufgemacht wird, könnt ihr hinübergehen. Allein von meinem Camping gingen einige hundert. Und kamen nicht mehr zurück.“

Da sich die Pressekonferenz vorab in die Länge zog, machte sich Nagy verspätet zur Grenze auf. Dort sah sich Árpád Bella in einer Zwickmühle: „Wenn ich die Ostdeutschen nicht aufhalte, verstoße ich gegen die Vorschriften. Doch ohne Blutvergießen wäre ein Waffeneinsatz nicht möglich“, schildert der 67-Jährige sein damaliges Dilemma. „Werden wir gestürmt oder stürmen wir? Oder treten wir von der Bühne ab und lassen die Leute das Tor durchbrechen?“

Viel Zeit blieb Bella nicht. Aber er tat genau das Richtige – nichts. Die Grenzer drehten den aus Ungarn herausdrängenden Ostdeutschen den Rücken zu und kontrollierten nur die Papiere der zum Picknick strebenden Österreicher. 700 Ostdeutsche marschierten durch das offene Tor. Die Bilder des Durchbruchs gingen um die Welt. Zwar wurde das Tor tags darauf wieder abgeriegelt. Doch am 11. September sollte die Fluchthelfermission von Baltigh endgültig enden. Ungarn öffnete die Grenzen, zehntausende DDR-Bürger reisten aus. Zwei Monate später fiel die Mauer in Berlin. Das Paneuropäische Picknick hatte den Anfang vom Ende der DDR besiegelt.

Ob Grenzkommandant, Picknick-Organisator oder Fluchthelferin: Keiner der unfreiwilligen Helden des Durchbruchs hat den Einsatz je bereut. 25 Jahre später fällt ihr Fazit dennoch zwiespältig aus. Nach der Wende habe er geglaubt, dass die Sozialisten mindestens 40 Jahre nicht mehr gewählt werden würden, sagt Nagy: „Aber nun lese ich, dass eine Mehrheit der Rumänen ausgerechnet Ceauşescu für den besten Präsidenten aller Zeiten hält. Haben die Leute Alzheimer, sind sie verrückt?“

Vor 25 Jahren habe sie nicht geglaubt, dass so viele junge Wissenschaftler „aus Ungarn wegfliehen“ würden, seufzt Agnes Baltigh. Doch Wissenschaft werde in ihrem Land kaum mehr gefördert. Mit leiser Stimme beklagt sie die Anfeindungen gegen Roma und Juden: „Warum können die Menschen nicht miteinander auskommen?“ Die Ungarn hätten vor 25 Jahren den DDR-Bürgern die Grenze geöffnet, sagt Árpád Bella. Doch das Leben an der Grenze sei von einer Angleichung der Lebensverhältnisse noch immer weit entfernt. „Naiv“ sei der Glaube gewesen, dass „der Friede kommt und alle Menschen Brüder werden“, so der Pensionist: „Doch unsere Hoffnungen waren damals einfach größer als der Realitätssinn.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2014)

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