„Wie unter alten Parteigenossen“

Abschluss des Nichtangriffspaktes
Abschluss des Nichtangriffspaktes(c) Wikipedia
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Der Hitler/Stalin-Pakt. Eine Woche vor Kriegsbeginn verblüfften zwei Diktatoren die Welt. Das Stillhalteabkommen mit der UdSSR ermöglichte Hitler nun den Überfall auf Polen.

Am Mittwoch, dem 23.August1939, starteten im ostpreußischen Königsberg zwei viermotorige Flugzeuge vom Typ FW 200 Condor. An Bord befand sich – nach einer sehr kurzen Nacht – der deutsche Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop samt Gefolge. Der Tag sollte eine Weltsensation erleben und zugleich Hitlers größten diplomatischen Triumph.

Auf dem Moskauer Flughafen wehten nebeneinander erstmals Fahnen mit dem Hakenkreuz und mit Hammer und Sichel. In der Hauptstadt der Sowjetunion war keine Flagge des Todfeinds vorrätig, man behalf sich mit dem Fundus einer Filmfirma, die auf Anti-NS-File spezialisiert war. Eine Sowjetkapelle musste in aller Eile das Horst-Wessel-Lied einstudieren, das zu Ribbentrops Empfang intoniert wurde.

Was dann geschah, sollte die politische Landschaft Europas umpflügen und in den Staatskanzleien rund um den Erdball für ungläubiges Staunen sorgen. Hitlers Abgesandter war auf dem Weg in den Kreml, um mit Stalin einen Nichtangriffspakt zu unterzeichnen. Der Nationalsozialismus und der Bolschewismus Hand in Hand – undenkbar!

Josef Stalin – in heller Uniformjacke und mit Stiefeln – erweckte den Eindruck eines angenehmen Gesprächspartners und eines einfachen, bescheidenen Menschen. Anwesend waren noch der Volkskommissar für Äußeres, Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow, ein sowjetischer Übersetzer und ein deutscher Legationsrat als Dolmetscher.

Nach einer ersten Verhandlungsrunde speiste Ribbentrop abends bei Botschafter Friedrich Werner Graf von der Schulenburg in der diplomatischen Vertretung des Deutschen Reichs. Es gehe ausgezeichnet, telegrafierte er nach Deutschland. Hitler wartete den ganzen Tag über angespannt auf seinem Berghof auf dem Obersalzberg. Er hatte schon zwei äußerst unerquickliche Vorsprachen des britischen Botschafters Neville Henderson hinter sich. Gegen die Deutschen in Polen wüte der polnische Mob, erregte sich der Diktator. Er ziehe einen Krieg gegen Polen jetzt, im Alter von fünfzig Jahren, einem späteren Zeitpunkt vor. Und er gab Henderson einen Brief an den britischen Premier, Sir Neville Chamberlain, mit.

Am späten Abend ging dann alles recht schnell im Kreml zwischen Ribbentrop und den Sowjets. Man einigte sich über die Aufteilung Ostmitteleuropas, aber die Ausfertigung des Übereinkommens dauerte dann doch bis zwei Uhr morgens. Datiert wurde das unglaubliche Vertragswerk trotzdem mit 23.August, berichtet Manfred Vasold, der die letzten elf Tage vor Kriegsbeginn detailliert nachzeichnet (Kindler-Verlag).

Danach wurde gefeiert, gewitzelt und getrunken. Die Trinksprüche erklommen ein Niveau, das tags zuvor noch kein Mensch mit wachen Sinnen für möglich gehalten hätte: „Ich weiß, wie sehr das deutsche Volk seinen Führer liebt; ich möchte deshalb auf seine Gesundheit trinken“, ließ Stalin übersetzen. Und er nannte Hitler einen „Molodetz“ – Ausdruck größter Hochachtung. Selbst der griesgrämige Molotow musste anstoßen. Er habe sich „wie unter alten Parteigenossen“ gefühlt, erzählte später der Reichsaußenminister, der in seiner grenzenlosen Eitelkeit das Spiel nicht durchschaute, das die beiden Diktatoren miteinander aufführten.

„Das sieht nach viel Blut aus“

Während also in Moskau Hochstimmung herrschte, gestaltete sich der Abend auf dem Berghof hoch über Berchtesgaden seltsam nachdenklich. Hitlers Lieblingsarchitekt, Albert Speer, beschreibt, wie sich der Himmel hinter dem Untersberg türkisgrün, dann violett färbte, um dann in schauriges Rot zu wechseln. Wie der Schlussakt der „Götterdämmerung“, will er damals auf der Terrasse gesagt haben. Und Hitler? „Das sieht nach viel Blut aus. Dieses Mal wird es nicht ohne Gewalt abgehen.“ Ein Zitat, für das es freilich nur Speer als Gewährsmann gibt...

Am nächsten Morgen war die Welt nicht mehr so, wie man sie bis dato kannte. Die Ersten, die sich verwundert die Augen rieben, waren die Japaner, wo es früher hell wird. Tokio war entsetzt: Damit sei ja der „Antikominternpakt“, also das Bündnis mit Deutschland gegen den Kommunismus, nur noch ein Fetzen Papier. Der französische Jesuit Pierre Teilhard de Chardin, zufällig gerade in Japan, schrieb konsterniert: „Ich frage mich, in welchem Maße dieser ideelle Verlust für Hitler durch irgendwelche materiellen Vorteile aufgewogen werden wird.“

Somit waren die Weichen für einen großen Krieg unverrückbar gestellt. Denn England war durch sein Bündnis mit Polen zum Eingreifen gezwungen, sollte dieser Staat angegriffen werden. Der US-Politiker Patrick Buchanan meinte, die Polen gegebene Garantie sei der größte Fehler gewesen, weil sie den Krieg unausweichlich gemacht habe. „So begann die letzte Woche vor dem blutigsten Krieg der Menschheitsgeschichte“, schreibt Buchanan.

„Todmüde, ein paar Stunden Schlaf“

Bezeichnend war die ungeheure Anspannung, die alle Akteure in diesen Tagen fest im Griff hielt. Es war eine geistige und körperliche Erschöpfung angesichts der Ereignisse, die sich so rasch entwickelten, dass sie alle zu überwältigen drohten. Hitler machte, so berichtete Albert Speer in seinen Erinnerungen, in den letzten Tagen des August „einen überarbeiteten Eindruck“. Tag für Tag beklagte sich Joseph Goebbels in seinem Tagebuch, dass er viel zu spät zum Schlafen komme: „Spät zu Bett, früh heraus“ am 23.August, drei Tage später: „Spät und todmüde ein paar Stunden Schlaf“, „Ich bin so müde, aber man kommt nicht zum Schlaf“ am 28.August und so weiter.

Neville Chamberlain schilderte seinen Zustand in einem Brief an seine Schwester am 27.August, der die Spannung, unter der alle wichtigen Spieler in diesem Drama agierten, sehr gut zum Ausdruck bringt: „Puh! Was für eine Woche. Eine oder zwei mehr davon, und es kostet mich Jahre meines Lebens. Was immer das ist, nur ein Nervenkrieg oder die einleitenden Stufen eines wirklichen Kriegs, man braucht starke Nerven, um das auszuhalten und Zurechnungsfähigkeit und Mut zu bewahren. Ich fühle mich wie ein Mann, der eine schwerfällige Karosse über enge gewundene Straße direkt an einem Abgrund vorbeilenken soll. Du wagst gar nicht, nach unten zu blicken, damit dir nicht schwindlig wird.“

Hitler hingegen hielt sich nun abgesichert: Es würde zu keinem neuen Zweifrontenkrieg kommen, den er selbst als Gefreiter im Ersten Weltkrieg als Katastrophe erlebte und den auch das aufgerüstete Dritte Reich nicht durchstehen könnte. Entscheidend war dabei der erste Artikel im Vertrag: „Die beiden vertragschließenden Teile verpflichten sich, sich jedes Gewaltakts, jeder aggressiven Handlung und jedes Angriffs gegeneinander, und zwar sowohl einzeln als auch gemeinsam mit anderen Mächten, zu enthalten.“

Zwei Todfeinde umarmen einander

Und Artikel II dekretierte: „Falls einer der vertragschließenden Teile Gegenstand kriegerischer Handlungen seitens einer dritten Macht werden sollte, wird der andere vertragschließende Teil in keiner Form diese Macht unterstützen.“

Der Vertrag sollte möglichst rasch ratifiziert werden. Das war eine leichte Übung, denn parlamentarische Diskussionen gab es in beiden Diktaturen schon lange nicht mehr. Das Abkommen wurde für zehn Jahre abgeschlossen, mit automatischer Verlängerung für weitere fünf Jahre bei Nichtkündigung. Wie Straßengangster hatten die zwei Diktatoren und ideologischen Todfeinde ihre Reviere säuberlich abgegrenzt. Hitler konnte mit dem Überfall auf Polen beginnen. Am 27.August machte Polen mobil.

Nächsten Samstag:

Nun wird „zurückgeschossen...“

DIE AUFTEILUNG EUROPAS ZWISCHEN HITLER UND STALIN 1939

Geheim. In einem geheimen Zusatzabkommen teilten Moskau und Berlin den polnischen Staat und Europa zwischen sich auf. Der Wortlaut:

1. Die für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR. Hierbei wird das Interesse Litauens am Wilnaer Gebiet beiderseits anerkannt.

2. Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt.

3. Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden.

4. Hinsichtlich des Südostens Europas wird von sowjetischer Seite das Interesse an Bessarabien betont. Von deutscher Seite wird das völlige politische Desinteressement an diesen Gebieten erklärt.

5. Dieses Protokoll wird von beiden Seiten streng geheim behandelt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2014)

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