Pulverfass statt Schmelztiegel

BIO-MARTIN LUTHER KING-MARCH ON WASHINGTON
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Seit 150 Jahren werden Amerikas Städte immer wieder von schweren Rassenunruhen erschüttert. Manche werden durch die Konkurrenz um Arbeit und Wohnraum veranlasst, andere durch polizeiliche Willkür. Ü

Wer heutzutage in Washington die U-Bahn nimmt und an der Haltestelle Columbia Heights aussteigt, findet sich inmitten eines blühenden Stadtviertels wieder. In der Vinothek D'Vines kann man österreichischen Qualitätswein zu stolzen Preisen kaufen. Eine französische Bäckerei informiert ihre ergebenen Kunden via Twitter über frisch gebackene Baguettes. Die Mieten in den sanierten Apartmenthäusern steigen seit Jahren ohne Unterlass.

Kaum möchte man glauben, dass im April 1968 genau an dieser Stelle, an der heute Büroangestellte und Studenten in die U-Bahnstation steigen, mehrere Menschen bei den blutigsten Rassenunruhen in der Geschichte der amerikanischen Hauptstadt getötet wurden. Ganze Straßenzüge fielen damals einem Feuersturm zum Opfer. Erst das Einschreiten der Nationalgarde, der Armee und der US-Marines beendete die D.C. Riots.

Sie hatten wenige Blocks stadteinwärts an der Ecke 14th Street und U-Street begonnen. Nach der Ermordung des Anführers der Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King Jr. durch einen weißen Rassisten in Memphis organisierte Stokely Carmichael, der 26-jährige hitzköpfige schwarze Studentenführer, eine Versammlung an dieser Straßenecke. Carmichael forderte die umliegenden Geschäftsleute auf, ihre Lokale aus Respekt vor dem ermordeten Friedensnobelpreisträger zu schließen. Rasch entglitt ihm die Kontrolle über die Menschenmenge. Sobald die erste Auslage in Scherben gegangen war, drehte der Mob durch. Nach vier Tagen des Plünderns, Brandstiftens und der Straßenschlachten waren zwölf Menschen tot, mehr als 1000 verletzt, über 6000 verhaftet und mehr als 1200 Gebäude niedergebrannt. Columbia Heights, bis dahin ein prosperiendes Viertel der schwarzen Mittelschicht, die Washington, von den zahlreichen Arbeitsplätzen in der Bundesregierung angezogen, zu einer mehrheitlich afroamerikanischen Stadt gemacht hatten, war ruiniert. Jahrzehnte der Verwahrlosung fanden erst ein Ende, als die Stadt 1999 die eingangs erwähnte U-Bahnstation eröffnete.

100 Jahre Frustration. Der gewaltsame Tod der Lichtgestalt Martin Luther King Jr. entfachte Rassenunruhen in 110 amerikanischen Städten. Doch das Attentat von Memphis war nur der Zündfunke, der eine sozialpolitische Sprengladung zur Detonation brachte. In den hundert Jahren nach Ende des amerikanischen Bürgerkriegs und der damit errungenen Abschaffung der Sklaverei hatte sich in der schwarzen Jugend die Einsicht verwurzelt, dass gewaltloser Widerstand gegen die rassistische Unterdrückung in vielen Teilen des Landes und das friedliche Ringen um gleiche bürgerliche Rechte und wirtschaftliche Chancen nutzlos seien. Die Leibeigenschaft war passé. Doch die afroamerikanische Jugend in den Großstädten war vom Wirtschaftswunder großteils ausgeschlossen. Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe war verboten. Doch abgefeimte Bauordnungen und stillschweigende Verhinderungskartelle weißer Immobilienmakler sorgten dafür, dass Schwarze weiterhin nur in den schlechtesten Vierteln wohnen und viel seltener als Weiße Eigentum an ihren Häusern erwerben konnten. Der Vietnam-Krieg schließlich führte den jungen schwarzen Männern vor Augen, dass ihnen die Erfüllung der schwersten Bürgerpflicht– in den Krieg zu ziehen – keine entsprechenden Anrechte auf respektvolle Behandlung bei der Heimkehr aus Indochina brachte.

Die weißen Eliten in Politik, Forschung und Publizistik hatten diese gärende soziale Krise nicht erkannt. Detroit zum Beispiel galt bis zum 23.Juli 1967 als vorbildlich für das Zusammenleben der Ethnien. Dann entglitt ein Polizeieinsatz in einer illegalen Bar, in der gut hundert Schwarze die Rückkehr zweier Soldaten aus Vietnam feierten. Den folgenden Unruhen fielen 43 Menschen und ganze Stadtviertel der florierenden Industriemetropole zum Opfer. Die weißen Detroiter beschleunigten ihre Flucht aus der Stadt in die Umlandgemeinden. Die Stadt wurde ein Sinnbild urbanen Verfalls und im Jahr 2013 der größte kommunale Insolvenzfall in der US-Geschichte.

All die wohlmeinenden Politiker, Wissenschaftler und Journalisten schienen damals vergessen zu haben, dass Schwarze und Weiße in Detroit seit Jahrzehnten um Arbeit und Wohnungen gerungen hatten. Das war eine Folge der nicht überwundenen Sklaverei und des Eintritts der USA in den Ersten Weltkrieg. Nach dem Abzug der letzten US-Truppen aus den Südstaaten 1877 endete die kurze Ära schwarzer politischer Mitbestimmung.

In den nächsten drei Jahrzehnten machten die ehemaligen weißen Sklavenhalter alle bürgerrechtlichen Fortschritte der einst von ihnen Ausgebeuteten zunichte. Hunderttausende Afroamerikaner zogen daraufhin in die Industriemetropolen des Nordens. Diese Great Migration verstärkte sich, als Präsident Woodrow Wilson die US-Industrie zur enormen Produktion von Gerät und Maschinen für den Einsatz auf den Schlachtfeldern Europas vergatterte – und dann noch einmal, als hunderttausende schwarze Truppen, ausgestattet mit dem neuen Selbstbewusstsein als Bürgersoldaten, nach dem Abrüsten in die USA zurückkehrten. Ihr bescheidener wirtschaftlicher Erfolg erregte in Städten des Mittleren Westens wie Detroit, aber auch Tulsa (Oklahoma) und East St.Louis (Ohio) den Neid eines weißen Proletariats, das selbst auf der Suche nach Arbeit aus dem zutiefst rassistischen Süden zugewandert war. Es ist kein Wunder, dass der Ku-Klux-Klan in Städten wie diesen besonders starken Zustrom hatte.

Ford spielt die Rassenkarte. Der Klan war auch maßgeblich für die Unruhen in Detroit im Jahr 1943 verantwortlich, als ein weißer Mob den Einzug schwarzer Familien in neue Sozialwohnungen zu verhindern versuchte. Der Industrielle Henry Ford wiederum spielte damals bewusst die gewerkschaftlich organisierten polnischen Zuwanderer gegen die Schwarzen aus, die jede Arbeit um jeden noch so niedrigen Lohn zu verrichten bereit waren. Ford setzte Afroamerikaner als Streikbrecher ein: Das ist einer der Gründe, weshalb die amerikanische Gewerkschaftsbewegung dem schwarzen Streben nach Gleichberechtigung lange gleichgültig gegenüberstand.

Im Vergleich zu den ersten Rassenunruhen im Jahr 1863, als Weiße in New York aus Frust über die Einberufung in die US-Truppen ihre schwarzen Mitbürger mordeten und auch ein Waisenheim anzündeten, waren die jüngsten Krawalle in der Kleinstadt Ferguson vernachlässigbar. Doch so wie damals stellen sich viele Betroffene dieselbe Frage, die Rodney King im Jahr 1992 in Los Angeles während Krawallen mit 53 Toten in ein Mikrofon gesprochen hat, nachdem er sich von Schädelfrakturen erholt hat, die ihm Polizisten mit Schlagstöcken und Fußtritten zugefügt haben: „Können wir miteinander auskommen? Können wir aufhören, es für die älteren Leute und die Kinder so schrecklich zu machen?“

Unruhen in der Popkultur

Watts 1965. Der Soulmusiker Marvin Gaye war von den Unruhen in Los Angeles im Stadtteil Watts tief aufgewühlt: „Wie kann ich weiterleben wie bisher, wenn die Welt um mich herum explodiert?“ 1971 brachte er sein erfolgreichstes Album heraus, dessen Titeltrack „What's Going On?“ auch dieser Tage in Ferguson zu hören war.

Draft Riots 1863. Der Film „The Gangs of New York“ (2002) mit Leonardo DiCaprio und Daniel Day Lewis zeigt die Gewalttaten eines weißen Mobs an schwarzen Bürgern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.08.2014)

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