„... dann möge uns der Himmel gnädig sein!“

Chamberlain, Schmidt, Hitler
Chamberlain, Schmidt, Hitler(c) Bundesarchiv
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Der Zweite Weltkrieg. Die Notizen des deutschen Chefdolmetschers Paul Schmidt sind an Dramatik schwer zu überbieten. Vermittlungsversuche des Völkerbundes, Englands, Italiens konnten Hitlers Krieg gegen Polen nicht mehr verhindern.

Für Paul Schmidt war es eine Tortur. Die Tage zwischen 25. August und 1.September 1939 verbrachte der Chefdolmetscher des deutschen Außenministeriums fast Tag und Nacht in der Reichskanzlei zu Berlin. Der Krieg gegen Polen lag in der Luft. Einmal schon hatte der Führer und Oberste Befehlshaber, Adolf Hitler, den Termin für den Überfall auf das Nachbarland um vier Tage verschoben. Jetzt aber gab es keinen Ausweg mehr. Der Übersetzer erlebte die Auftritte und wütenden Abgänge der ausländischen Botschafter, seines Außenministers und Adolf Hitlers. Von Stunde zu Stunde wurde für den Dolmetsch klarer, welcher Katastrophe die Welt zusteuerte, aber er durfte nur wortwörtlich übersetzen, ohne in den Lauf der Dinge eingreifen zu können.

Die Memoiren des Paul Schmidt gelten als wichtigste zeitgeschichtliche Quelle, wenn es um diese letzten Stunden vor dem Zweiten Weltkrieg geht. „Statist auf diplomatischer Bühne 1923–1945“ hat er sein 1950 erschienenes Buch genannt. Er war Beamter des Außenministeriums, also Untergebener des mehr als schwierigen Chefs Joachim von Ribbentrop (vergl. „Die Welt bis gestern“ vom 23. August). Hitler hatte Vertrauen zu dem eloquenten Dolmetsch gefasst, und so erlebte Schmidt jede Phase der hektischen Verhandlungen, Drohungen, der italienischen und englischen Vermittlungsversuche, um den deutschen Diktator von seinem Entschluss abzubringen, Polen zu überfallen.

Italien sagt ab

Es begann mit einem Brief, den Italiens Diktator, Mussolini, nach Berlin schickte. Italien war immerhin mit Deutschland im Bunde. Es sei für ihn „einer der schmerzlichsten Momente“, schrieb Mussolini an Hitler, „Ihnen mitteilen zu müssen, dass Italien nicht kriegsbereit ist ... Bitte verstehen Sie meine Lage.“ Mit eisigem Gesicht verabschiedete Hitler den italienischen Botschafter, und dann – so Paul Schmidt – „hallte die Reichskanzlei förmlich wider von abfälligen Bemerkungen über den ungetreuen Achsenpartner.“ – „Die Italiener machen es genau wie 1914“, grollte der Führer im Wandelgang.

In den nächsten Tagen setzte sich der fast pausenlose telefonische und mündliche Verkehr zwischen Berlin und den Staatskanzleien in London, Paris und Rom fort. Schmidt musste rasch und präzise übersetzen. Jetzt kam es auf jede Nuance an. Die Franzosen ließen wissen, sie würden ihren Verpflichtungen Polen gegenüber nachkommen, sollte das Land überfallen werden; die Briten wollten ein letztes Mal noch vermitteln: Hitler möge mit der polnischen Regierung verhandeln. Denn: „Ein Fehlschlag würde die Hoffnungen auf eine Verständigung zwischen Deutschland und Großbritannien zunichtemachen und die beiden Länder sowie die ganze Welt in einen Krieg stürzen. Das aber“, übersetzte Schmidt langsam und betont, „wäre ein Unglück, für das es in der Geschichte keine Parallele gibt.“

Ultimatum an Polen

Hitler regierte erstaunlich ruhig. Er schien an dem Vorschlag Interesse zu zeigen. Doch aus der Antwort wurde wieder eine neue Provokation: Die Briten sollten dafür sorgen, dass ein bevollmächtigter Abgesandter Polens am 30. August in Berlin erscheine. In 24 Stunden also. Englands Botschafter, Sir Neville Henderson, las richtig: „Es klingt wie ein Ultimatum.“ Nun, erwiderte Hitler, die Zeit sei kurz, weil die Polen sonst neue Provokationen setzten. Jetzt schien London am Zug zu sein.

Am 30. August, kurz vor Mitternacht – das Ultimatum war abgelaufen –, erschien Henderson bei Ribbentrop und brachte die Londoner Antwortnote auf das Ultimatum an Polen. Ribbentrop war zuvor längere Zeit bei Hitler und zitterte vor Erregung. Schmidt: „Die nun folgende Besprechung war die stürmischste, die ich während meiner 23-jährigen Tätigkeit als Dolmetscher mitgemacht habe.“ Die Atmosphäre war aufgeheizt, die Nerven lagen blank. „Die Frist ist abgelaufen“, schrie Ribbentrop den Vertreter Seiner Majestät an, „wo bleibt der Pole, den Ihre Regierung herbeischaffen wollte?“ Als Henderson flehentlich bat, Berlin möge doch den polnischen Botschafter zur Übermittlung der deutschen Vorschläge einschalten, rastete Ribbentrop aus. „Das kommt jetzt, nachdem, was vorgefallen ist, überhaupt nicht mehr infrage“, schrie er Henderson an. „Wir verlangen, dass ein bevollmächtigter Unterhändler hier nach Berlin kommt!“

Henderson verlor langsam seine britische Zurückhaltung. Mit gerötetem Gesicht verlas er die Stellungnahme Londons. Kernpunkt: Beide Teile sollten sich zu Verhandlungen bequemen und bis dahin jegliche Aggression unterlassen. „Haben Sie sonst noch was zu sagen“, brüllte der deutsche Außenminister. Ja, erwiderte der Botschafter: Es gebe Informationen, dass Deutschland Terroraktionen in Polen ausübe. „Das ist eine unverschämte Lüge der polnischen Regierung“, ereiferte sich Ribbentrop in ungezügelter Wut. „Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Henderson, die Lage ist verdammt ernst!“

Nun war es am britischen Botschafter, laut zu werden: „Sie haben soeben ,verdammt‘ gesagt“, rief er mit erhobenem Zeigefinger, „das ist nicht die Sprache eines Staatsmannes in einer so ernsten Situation!“

Ribbentrop verschlug es den Atem. Der hochmütige Engländer hatte es gewagt, ihn wie einen Schulbuben zu rügen. „Was haben Sie da eben gesagt?“, brüllte er und sprang auf. Henderson ebenso. Sie maßen einander mit funkelnden Augen und atmeten schwer.

Ein ohnmächtiger Dolmetscher

Paul Schmidt musste dies alles übersetzen und wartete nur darauf, dass Ribbentrop den Botschafter zur Tür hinauswerfen würde. Zum Glück beruhigten sich beide, dann erläuterte Ribbentrop die Vorschläge des Völkerbundes zur friedlichen Beilegung der Krise. Henderson bat um das Schriftstück, was ihm der deutsche Außenminister aber verweigerte. Außerdem sei das ohnehin alles überholt, weil der polnische Unterhändler nicht gekommen sei, sagte Ribbentrop.

Dem Dolmetscher dämmerte in diesem Augenblick, dass hier der Führer und sein Außenminister ein perfides Spiel aufführten: Damit wurde die letzte Friedensmöglichkeit ausgeschaltet. „Selten habe ich so bedauert, als Dolmetscher nicht in die Verhandlungen eingreifen zu können“, schreibt Schmidt.

Der nächste Tag, es war der 31. August, verging mit unzähligen Vorsprachen beim Außenminister. Der polnische Vertreter wurde kurzerhand hinausgeworfen.

In dem pompösen Wandelgang der Reichskanzlei vor dem ebenso imposanten Arbeitszimmer des Führers schwirrte es von Ordonnanzen, Sekretären, SS-Wachen, Wehrmachtsgenerälen, Diplomaten und Reichsministern. Am Abend erließ dann Hitler die Weisung Nr. 1 dieses Krieges, wonach die polnische Grenze um 4.45 Uhr morgens überschritten werde.

„... wird zurückgeschossen!“

„Polen hat heute Nacht zum ersten Male auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen“, tönte Hitlers heisere Stimme am Vormittag des 1. September vom Reichstag her aus allen Lautsprechern des Landes. „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft!“ Dass sich Hitler in der exakten Uhrzeit geirrt hatte, ging in unablässigen Heilrufen unter.

Anschließend betonte Hitler, dass er niemals kapitulieren werde. Er sagte sogar, dass er entweder siegen oder das Kriegsende nicht erleben werde. Ferner nannte er Hermann Göring und Rudolf Heß als seine Nachfolger, falls ihm etwas zustoßen sollte.

Das Diplomatische Corps in Berlin glich einem Bienenhaufen. Alle Botschafter wollten am Tag nach der Reichstagsrede Termine bei Ribbentrop. Der erste war Henderson. Er ließ wissen, dass seine Regierung „ohne Zögern“ ihre Verpflichtungen gegenüber Polen erfüllen werde, sollte Deutschland nicht sofort seine Truppen zurückziehen. Deutschlands Außenminister versprach lediglich, diese Note an Hitler weiterzuleiten.

Unmittelbar danach, am Vormittag des 1. September, übergab Frankreichs Botschafter Coulondre eine gleichlautende Note. Dann kam Italiens Vertreter Attolico, um zu vermitteln. Am Abend musste der gutwillige Italiener aber aufgeben. Die Briten und Franzosen sahen keine Möglichkeit, wenn die polnischen Gebiete nicht vorher geräumt seien.

London macht Ernst

Am Sonntag, dem 3. September 1939, stand Paul Schmidt im Büro des Außenministers bereit, um Botschafter Henderson in Empfang zu nehmen. Ribbentrop wollte den Briten nicht mehr sehen. „Ich muss Ihnen leider im Auftrage meiner Regierung ein Ultimatum an die deutsche Regierung überreichen“, begann dieser mit bewegter Stimme. „Wenn die Regierung Seiner Majestät nicht vor 11 Uhr britischer Sommerzeit befriedigende Zusicherungen über die Einstellung aller Angriffshandlungen gegen Polen ... erhalten hat, so besteht von diesem Zeitpunkt ab der Kriegszustand zwischen Großbritannien und Deutschland.“ Traurig verabschiedete er sich vom Dolmetscher.

Dieser musste nun den bitteren Gang in die Reichskanzlei antreten. Im Vorsaal vor Hitlers Büro waren die meisten Minister und prominenten Parteileute versammelt. Im Arbeitszimmer saß Hitler hinter dem mächtigen Schreibtisch, Ribbentrop stand etwas abseits am Fenster. Beide blickten Schmid gespannt an. „Ich übersetzte langsam das Ultimatum der britischen Regierung. Als ich geendet hatte, herrschte völlige Stille.“ Wie versteinert saß Hitler da. „Er war nicht fassungslos, wie später behauptet wurde, er tobte auch nicht, wie es andere wissen wollen. Er saß still und regungslos an seinem Platz. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich Ribbentrop zu, der wie erstarrt am Fenster stehen geblieben war. ,Was nun?‘, fragte Hitler seinen Außenminister mit einem wütenden Blick.“

Schmidt zog sich zurück, wurde im Vorraum von den Wartenden bedrängt. „Die Engländer haben uns soeben ein Ultimatum überreicht“, teilte er mit. „In zwei Stunden besteht Kriegszustand.“ Totenstille. Goebbels stand in sich gekehrt. Göring wandte sich zu Schmidt und sagte: „Wenn wir diesen Krieg verlieren, möge uns der Himmel gnädig sein.“

SO BEGANN DER KRIEG

Danzig, die freie deutsche Hafenstadt an der Ostsee, seit dem Ersten Weltkrieg eigenständig unter Völkerbundmandat, war der Angelpunkt für Hitlers Forderung, die Stadt müsse „heim ins Reich“ und der „polnische Korridor“ durch Deutschland solle neu geregelt werden.

Scheingefechte. Rund um den Rundfunksender Gleiwitz organisierte die SS einen Schusswechsel, der einige Tote forderte. Es waren Häftlinge, die in deutsche Uniformen gekleidet waren, um einen Vorwand für einen deutschen „Gegenschlag“ zu bieten. Dieser folgte am 1. September 1939.

Ultimatum. Nachdem Großbritannien und Frankreich lange abgewartet hatten, richtete London ein Ultimatum an Berlin: Sollte bis zum 3. September 1939 um elf Uhr Deutschland seine Truppen aus Polen nicht zurücknehmen, bestehe der Kriegszustand. Wenige Stunden später folgte Frankreich. Gleichzeitig erklärten sich die Mitgliedstaaten des britischen Commonwealth als im Krieg befindlich.

Neutral. Die USA, Italien und Spanien erklärten sich zunächst neutral. Italien trat aber bald Deutschland zur Seite. Amerika trat am 11. Dezember 1941 in den Weltkrieg ein, Spanien blieb bis zuletzt verschont.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2014)

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