Heute vor ... im September: Die großen Siege und Heldentaten

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Die Mittelmächte hoffen, dass England in Asien Schwierigkeiten bekommt.

Warnung vor übertriebenem Nationalismus

Das Feuilleton der Zeitung bemüht sich um einen mäßigenden Ton

Neue Freie Presse am 30.9.1914

Vaterlandsliebe! Ein schönes Ding; aber es hat wie jegliches Ding zwei Seiten. Auf der Rückseite finden wir die Fratzengestalt des blutrünstigen Hasses. Der Trieb zur Zerstörung und zur Gewalttätigkeit ist im Menschen viel leichter zu wecken als der zu opfermutiger Werkbereitschaft. Die Fenster eines Gesandtschaftsgebäudes einzuwerfen, ein Wappen zu beschmutzen, die Auslage eines Geschäftes zu zerstören, das eine fremdsprachige Aufschrift trägt, einen - wirklichen oder vermeintlichen - Ausländer zu insultieren, das alles sind Handlungen, durch die man seine "gute Gesinnung" auf eine entschieden kurzweiligere und jedenfalls wohlfeilere Weise an den Tag legen kann als durch ernste Arbeit für die Sache. Der eigentliche Zweck wird nicht erreicht, nämlich: den Feind zu bestrafen und ihm zu schaden. In neunundneunzig von hundert Fällen trifft sogar der Schaden einen völlig Unschuldigen. Erreicht doch selbst eine scheinbar rein aufs Praktische gerichtete Maßregel, der in solchen Zeiten stets gepredigte Boykott ausländischer Ware nicht sein Ziel, sondern bleibt eine leere Demonstration.

Gefahr von Epidemien in Wien

Neue Freie Presse am 29.9.1914 

Die sanitären Verhältnisse müssen verbessert werden.

Oberstadtphysikus Dr. Böhm sprach über die Vorkehrungen, die in Wien für die Seuchenbekämpfung getroffen wurden, und er erörterte dann jene Maßnahmen, die sich noch in Vorbereitung befinden. Der Oberstadtphysikus legte dar, dass uns die Gefahr nicht unvorbereitet findet, da uns Russland und der Balkan als „Wetterwinkel“ von Seuchen bekannt sind. Wir mussten also zunächst die allgemeinen sanitären Verhältnisse der Stadt einer Prüfung unterziehen. Wir konnten sehr beruhigt sein, vor allem infolge unserer unübertrefflichen Wasserversorgung. Die Aufmerksamkeit hat sich ferner der Beseitigung der Abfallstoffe zugewendet und es wurde eine gründliche Durchspülung unserer Kanalisation besorgt. Jene äußeren Stadtteile, in denen es noch Senkgruben gibt, machten besondere Vorkehrungen für deren rechtzeitige Räumung notwendig, weil diese schwer zu desinfizieren sind. Es wird weiters nötig sein, den Kehricht infizierter Wohnungen in der Wohnung selbst zu verbrennen. Auch dem Lebensmittelverkehr kommt zur Zeit der Verbreitung von Infektionskrankheiten besondere Bedeutung zu.

Rassistische Propaganda gegen England

Neue Freie Presse am 28.9.1914

Die englische Sitte, sagt der Artikel, gestattet nicht, dass ein Farbiger neben einem Weißen sich auch nur zu Tische setzt.

Unter der Überschrift „Ein Attentat“ geißelt ein Artikel der „Neuen Zürcher Nachrichten“ die Skrupellosigkeit, mit der England gelbe, braune und schwarze Horden als seine Verbündeten gegen Weiße ins Feld führt. Hier kämen nicht mehr deutsche, sondern europäische Interessen in Frage und damit die Prestigefrage der ganzen weißen Rasse. Die englische Sitte, sagt der Artikel, gestattet nicht, dass ein Farbiger neben einem Weißen sich auch nur zu Tische setzt. Nun aber macht man Farbige zu Waffenkameraden der Weißen in Europa gegen Weiße und hebt sie damit im Range über die feindlichen Weißen. Dies ist ein Herzschuss in die Stellung des Europäertums. Man verlieh in einer Verblendung ohne Gleichen Japan das Mitspracherecht in Dinge Europas, opferte damit die europäische Vormachtstellung in Ostasien und öffnete der gelben Gefahr die Tore unseres Erdteils. Nicht genug damit, importiert man nun auch noch halbbarbarisches Gesindel und Ganzbarbaren, um sie auf das erste Volk Europas loszulassen.

Soll man die englische und französische Sprache boykottieren?

Neue Freie Presse am 27.9.1914

Ein Appell Hugo von Hofmannsthals zur Diskussion um den Sprachenboykott.

Allgemein ist der erbitterte Wunsch, Frankreich und England zu vergelten, was sie uns in diesen Tagen angetan haben…Jede Boykottbewegung ist aber eine zweischneidige Waffe. Sie bedarf der Führung von den allerzentralsten, allerinformiertesten Stellen. Wenn wir heute blindlings die englischen und französischen Warenlager boykottieren, welche unsere Kaufleute vor Monaten eingeführt und mit ihrem guten Geld bezahlt haben, so schädigen wir damit niemand als die Unsrigen, also uns selber, denn wir, das Land, die Armee, der Staat sind heute wie niemals ein Leib. Törichter aber als der Boykott der Warenlager wäre der Boykott der Sprachen; ein Verbrechen an der eigenen Kraft, dort, wo sie am heiligsten und unantastbarsten sein muss: an der nachwachsenden Generation. Die Universalität der deutschen Bildung, das Wissen um die anderen, gerade darin liegt heute für uns die stärkste Bürgschaft des endlichen und endgültigen Sieges. … Der Träger jeder wahren Kenntnis des Fremden ist der Besitz der fremden Sprache. Mit dieser Waffe wollen wir unsere Kinder ausrüsten, noch eifriger, als unsere Generation durch die Vorsorge unserer Eltern mit ihr ausgerüstet wurde. Auf einem größeren, so Gott will, auf einem freudigeren Kampfplatze als wir werden unsere Kinder den Kampf des Lebens auskämpfen. Stärker als wir werden sie in Weltprobleme hineingezogen werden. Und sie werden, wie ihrer Muskeln und Nerven, der fremden Sprachen bedürfen. … Nicht das Studium des Englischen und Französischen aufzugeben, sondern sich mit doppeltem Eifer dazu zu drängen, darum handelt sich’s; und womöglich neben einer unserer slawischen Landessprachen  noch das Italienische dazuzunehmen. Kein besseres Mittel, der Welt überlegen zu sein, ist dem deutschen Wesen verliehen als dies: dass es die Welt erkenne.

Ein neuer Kriegsschauplatz im südlichen Afrika

Krieg der südafrikanischen Buren gegen deutsche Kolonie Südwestafrika.

Neue Freie Presse am 26.9.1914

Die Buren haben beschlossen, gegen die Deutschen vorzugehen. Zusammen mit Hottentotten und Hereros überschreiten sie die Grenzen der deutschen Kolonie und beginnen einen Feldzug, auf welchem der Fluch des schändlichen Undankes lastet. Das ist die traurigste Erscheinung in diesem Weltkonflikt, dass nicht nur die Instinkte der Intrige und der Herrschsucht sich gegen das Deutsche Reich aufbäumen, sondern dass auch Staaten um eines ganz geringfügigen Vorteiles willen die Maske fallen lassen und den Makel heimtückischer Wegelagerer auf sich nehmen. Japan hat das gute Beispiel dieses politischen Verbrechens gegeben, und jetzt folgen die südafrikanischen Buren nach und helfen den Engländern bei ihrem Raubzuge gegen Deutschland und gehen willig auf die geradezu abgeschmackten Phrasen ein, mit denen die Herren in London alle jene zu ködern suchen, die kindisch genug sind, an höhere Motive bei diesem Krieg zu glauben. Der Ministerpräsident Louis Botha hat im Senat in Kapstadt ganz nach dieser Vorlage behauptet, der Krieg richte sich gar nicht gegen das deutsche Volk, sondern gegen den deutschen Militarismus. Das ist herzerfreuend, und die armen Buren werden es sicher verstehen, sie können es unmöglich dulden, dass der preußische Militärgeist in der Welt siege. Das könnte offenbar ihre ganze Existenz in Frage stellen und wäre für sie eine wahre Katastrophe.

Die großen Siege und Heldentaten

Statt eines Zitats: Ein paar Sätze über die Berichterstattung in Zeiten des Krieges.

Der Propagandacharakter der Zeitung vom 25.9. 1914 fällt auf: Schlagzeilen wie „Die großen Siege des Generalobersten v. Hindenburg“, „Der Eindruck der Heldentat des deutschen Unterseebootes“, „Die Vernichtung der drei englischen Kreuzer“ usw. Die Terminologie lehnte sich bei allen Zeitungen naturgemäß stark an die amtlichen Mitteilungen des Kriegspressequartiers an. Diese Kommuniqués waren meist außerordentlich knapp und wurden oft 1:1 übernommen, ohne dass man es wagte, sie zu verändern oder gar zu interpretieren. So entsteht ein  bürokratischer Berichtston: „Der eigene linke Flügel ist in Offensive begriffen und dringt siegreich vor“ oder „Dankl‘s Angriff auf Lublin – Lemberg in schwieriger Lage.“ Unmittelbarer Einblick in das Kriegsgeschehen blieb den Journalisten offensichtlich verwehrt, die Berichterstatter des Kriegspressequartiers wurden ja nicht nahe an die Front gelassen und erhielten daher keinen unmittelbaren Einblick. So waren sie auf das Vokabular angewiesen, das vom k.u.k. Armeeoberkommando vorgegeben wurde.  Ereignisse an der Front, die für die Kriegsführung völlig bedeutungslos waren, gerieten mitunter in die Schlagzeilen. Hauptsache, es liest sich emphatisch. Noch sind die weißen Flecken in der Zeitung als Folge des Eingreifens der Zensur im Herbst 1914 selten, aber sie werden häufiger. Immer dominanter werden die langen Listen der Vermissten und Gefallenen.

U-Boot-Krieg: Heldentaten zur See

Die Zeitung erklärt den Lesern den U-Boot-Krieg.

Neue Freie Presse am 24.9.1914

Schreiten Unterseeboote zum Angriff, so geschieht dies in folgender Weise. Ein als Begleitschiff dienender Kreuzer führt die Unterseeboote, die ober Wasser fahren, in die Nähe der Gegend, wo sich der Feind befindet. Hierauf zieht er sich zurück und die Unterseeboote fahren allein weiter, indem sie die ihnen angegebene Richtung einhalten. Haben sie den Gegner gesichtet und ihr Angriffsziel genau erfasst, so dass ein Irrtum ausgeschlossen erscheint und nur mehr eine verhältnismäßig geringe Strecke zurückzulegen ist, so tauchen sie unter, derart, dass nur mehr ihre Periskope über Wasser ragen. Diese etwa zwei bis drei Meter hohen Rohre von vielleicht 10 bis 15 Zentimeter Durchmesser heben sich so wenig vom Hintergrund ab, dass meist eine unbemerkte Annäherung bis auf geringe Distanz möglich ist. Auf etwa zwei bis sechs Kilometer vom Gegner angekommen, allenfalls auch erst später, ziehen sie auch die Periskope ein und trachten sich dem gewählten Angriffsobjekt bis auf wenige hundert Meter zu nähern. Dann erfolgt die Lancierung, die auf so kurze Distanz Erfolg verspricht. Kurz vor Abgabe des Torpedoschusses wird der Unterseebootskommandant sich durch einen Blick durch das Periskop noch überzeugen, ob er den Gegner richtig vor seinem Lancierrohr hat. In den meisten Fällen wird n ach der Lancierung das Unterseeboot wohl bemerkt und unter Feuer genommen werden können. Um sich davor zu schützen, muss es tiefer tauchen und erst dann wieder hoch gehen, wenn so viel Zeit verstrichen ist, dass die Annahme gerechtfertigt erscheint, dass sich die Gegner verzogen haben.

Schlacht an der Marne stoppt deutschen Vormarsch

Wende im Krieg, der deutsche Plan im Westen ist gescheitert.

Neue Freie Presse am 23.9.1914

Während der letzten Tage fanden unaufhörliche Angriffe statt. Die deutsche Infanterie wogte fortwährend in der Richtung der französischen und englischen Stellungen. Den Franzosen und Engländern war die unmittelbare Fühlung mit dem Feind willkommen und gleichsam eine Erleichterung nach dem stetigen Artillerieduell. Die Verbündeten konnten nur um den Preis entsetzlicher Verluste Fortschritte machen. Das Feuer gegen die Schanzen war öfter so heftig, dass es unmöglich war, Tote und Verwundete fortzuschaffen. Die in der Front befindlichen Franzosen und Engländer stehen infolge des anhaltenden Regens in den Laufgräben bis über die Hüften im Wasser. Während die Franzosen noch im Tode den Eindruck ungezügelten Vorwärtsstürmens machten - so meldet der Corriere della Sera - bieten die deutschen Leichen das Bild der Ordnung und Disziplin. Die deutsche Armee ist zurückgegangen, aber nicht besiegt. Sie musste sich vor der Übermacht zurückziehen, aber es war keine Verwirrung, sondern nur eine Losmachung. In seinem Kern ist das deutsche Heer völlig intakt.

Kathedrale von Reims unter Artilleriefeuer

Wird Frankreichs Krönungsstadt zerstört?

Neue Freie Presse am 22.9.1914

Die Einbildungskraft ist zu schwach, um sich die Verhältnisse in Reims, während das Artillerieduell zwischen den deutschen und den französischen Batterien stattfindet, vorzustellen. Reims ist nicht bloß eine Stadt mit hervorragenden Baudenkmälern und Kunstwerken, sondern auch mit einer großen Industrie. Sie hat mehr als 100.000 Einwohner. Gestern hatte das Gebäude der Kathedrale zwar gelitten, war aber als architektonisches Ganzes noch intakt. Der Granatenregen dauerte an. Um 4 Uhr fing das Gerüst an der Ostseite der Kathedrale Feuer und brennende Holzstücke stürzten auf das Dach. Französische Ärzte retteten mit knapper Not zwanzig verwundete Deutsche, die in der Kathedrale lagen. Die französische Regierung hat beschlossen, sofort auf diplomatischem Wege zu protestieren und die Entrüstung wegen des "Bombardements und der Zerstörung der Kathedrale von Reims" zu äußern. Die Menschheit habe einen unersetzlichen Verlust erlitten.

Neue Freie Presse am 21.9.1914


Die Kriegsgeschichte der Völker hat bisher niemals über ein Ereignis berichtet, wie das der Zeichnung von 4,2 Milliarden auf die beiden Formen der deutschen Reichsanleihe. Die deutsche Regierung hat eine Milliarde Schatzscheine zur Zeichnung aufgelegt und das Publikum hat 1,26 Milliarden angeboten. Auf die Reichsanleihe, die nicht kurzfällig, sondern bleibend ist und deren Gesamtauflage ziffermäßig nicht bestimmt war, sind 2,94 Milliarden gezeichnet worden. Diese Ziffer ist besonders anzumerken. Schatzscheine werden nach verhältnismäßig kurzer Zeit mit dem Nominalbetrage eingelöst und der Käufer gibt daher dem Staat nur einen Kredit von sehr bestimmter Dauer. Die Reichsanleihe wird nicht eingelöst, und gerade diese beständige Anleihe, deren Wert von allen Zufälligkeiten des Krieges abhängig ist, hat das Publikum vorgezogen, und diese Tatsache ist gewiß das beste Zeugnis für das Vertrauen in die militärische, politische und wirtschaftliche Kraft des Deutschen Reiches. Während eine große Schlacht in Frankreich geliefert wird, zeichnet das Publikum über vier Milliarden auf Anleihen.

Motto der Wiener Mode: Los von Paris!

Neue Freie Presse am 20.9.1914

Das neue Heft des großen Modeblattes "Wiener Mode" steht ganz unter dem siegreichen Zeichen "Los von Paris" und die zahlreichen, äußerst geschmackvollen Modelle im Blatt beweisen nicht nur die Unabhängigkeit, sondern auch die gediegene Überlegenheit der Wiener Modekunst über die so lange leider immer wieder verlangten Pariser Aufdringlichkeiten. Dem Kriegszustand ist auch im übrigen Teil des Blattes mit vielen praktischen Winken für Haushalt und Küche Rechnung getragen. Man abonniert die "Wiener Mode" in jeder Buchhandlung oder direkt beim Verlage, Wien, 6/2, Gumpendorferstraße 87, zum Preise von 3 K 50 H. pro Quartal.

Patriotismus auf der Theaterbühne

Die Aufführungen auf der Bühne müssen zur "eisernen" Zeit passen.

Neue Freie Presse am 19.9.1914

In der alten und neuen Literatur wird nach Werken ausgelugt, die mit diesen eisernen Tagen irgendwie zusammenklingen. Nach patriotischen Bühnenstücken ist noch niemals ein so allgemeines Begehren laut geworden. Sonst wurden sie nur an historischen Gedenktagen, bei festlich beleuchtetem Hause und vor verschenkten Parkettreihen aufgeführt. Jetzt bilden sie den Grundstock des Arbeitsplans für alle Theater und üben ihre volle Wirkung. Wärme und Bewegung geht von der Bühne in den Zuschauerraum, und wenn vollends ein gütiger Zufall gestattet, dass im Zwischenakt eine neue Siegesbotschaft von dem Regisseur des Abends verlesen werden kann, erleben wir die seltene Freude, dass im Theater die Wirklichkeit und das Phantasiebild zusammentönen. Es gehört zu den erfreulichen literarischen Kriegswirkungen, dass fast auf jeder Bühne Heinrich v. Kleist als Sprecher der Volksstimmung erlesen worden ist. Sein "Prinz Friedrich von Homburg" hat neuen Lebensatem bekommen. Die tiefe und echte Soldatenpoesie des Werkes löst eine Begeisterung aus, als wäre die Dichtung aus Tag und Stunde geboren.

Englische Ausbeutungspolitik in Indien

Indien wird gezwungen, eine Expeditionsarmee zu stellen.

Neue Freie Presse am 18.9.1914

Beide Häuser des britischen Parlaments haben beschlossen, die Regierung von Indien zu ermächtigen, die Kosten für die Ausrüstung einer indischen Expeditionsarmee zu tragen. Diese Meldung ist ein wertvoller Beitrag zur englischen Ausbeutungspolitik und zur Leidensgeschichte Indiens. England findet es, aus welchen Gründen immer, notwendig, zusammen mit Frankreich und den Massen des Großkhans von Petrograd einen Vernichtungskrieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn zu führen und zu diesem Zweck indische Truppen nach Europa zu führen. Gut. Die Kosten dieser indischen Expeditionsarmee ladet das reiche England aber großmütig den ausgesogenen Indern auf. Dieses Indien, in dem die Hungersnot permanent ist, in dem die Pest nie ausstirbt, dessen Kulis noch zu niedrigeren Löhnen arbeiten als die chinesischen, dieses Indien muss jetzt nicht nur mit dem Leben seiner Söhne, sondern auch mit seinen Steuergeldern die verbrecherische Politik der Engländer bezahlen helfen.

Ukrainische Flüchtlinge überschwemmen Wien

Die ukrainische Bevölkerung der besetzten Gebiete in Galizien und Bukowina flieht.

Neue Freie Presse am 17.9.1914

Von den schrecklichen Folgen des Krieges wurde die ukrainische Bevölkerung Galiziens und der Bukowina, wo sich der Kriegsschauplatz befindet, am schwersten getroffen. Die ukrainische Bevölkerung war gezwungen, massenhaft die Heimat zu verlasse, um hier in der Reichshauptstadt Schutz zu suchen. Ganze Familien sind obdachlos geworden und viele mussten ihr Hab und Gut zurücklassen, um wenigstens das nackte Leben zu retten. Wer aber flüchten musste in des Krieges Not, der leidet im Interesse der Gesamtheit, und Pflicht der Gesamtheit ist es, ihm zu helfen. Die ohnedies durch Missernten der letzten Jahre verarmte ukrainische Bevölkerung hofft, dass ihr sowohl vom Staate wie auch von den Mitbürgern hilfreiche Hand geboten wird. Der ukrainische Soldat kämpft Hand in Hand, Schulter an Schulter mit den Söhnen anderer Nationen Österreichs für die glorreiche habsburgische Dynastie, um das gemeinsame Vaterland und verblutet sich mit anerkannter Tapferkeit und Todesverachtung im Kampfe gegen seinen nationalen Erbfeind.

Der Gegner muss völlig vernichtet werden

Die Wortwahl in der politischen Auseinandersetzung wird immer radikaler.

Neue Freie Presse am 16.9.1914

Dieser Krieg kann nicht vorübergehen, ohne dass der militärische Vernichtungsgedanke auf die Politik angewendet und festgehalten wird. Die verbündeten Kaiserreiche haben einen Krieg gegen zwei der stärksten militärischen Großmächte unternommen, und ihre Gegner werden überdies von England und von einigen kleineren Staaten unterstützt. Die Mitglieder der feindlichen Mächtegruppe bekennen sich offen zum Vernichtungsgedanken, und noch in den letzten Tagen haben Männer von ernstem Gewicht in England und Schriftsteller, wie Maurice Barrès in Frankreich, rückhaltlos erklärt, der Krieg werde erst dann aufhören, wenn Deutschland zerbrochen und zerstückelt und bleibend wehrlos sei. Was unser Schicksal wäre, wenn die Russen mit uns tun könnten, was sie wollen, ist hundertmal in Büchern und Schmähschriften niedergelegt worden. Die Feinde haben sich trotz der Niederlagen im Felde verschworen, der Monarchie und dem Deutschen Reiche ans Leben zu gehen und die politische Vernichtung gemeinsam zu vollstrecken. Ein Vernichtungsgedanke in dem Sinne, dass Frankreich auch nur als Großmacht verschwände oder dass Russland von der Landkarte ausgemerzt werde, diese Nachahmung der Torheiten unserer Feinde hieße dieselbe Geschmacklosigkeit begehen. Aber die Möglichkeit eines so böswillig und gehässig aufgezwungenen Krieges muss für alle Zeiten vernichtet werden; die Revanche und der Panslawismus müssen als Leichen auf den Schlachtfeldern zurückbleiben und dürfen nicht auferstehen und nicht mehr das Leben der Menschen vergiften. Der Krieg wäre unerhörte Verschwendung, wenn er nicht den Zweck hätte, die Wiederkehr zu verhüten und vor künftigen Verwüstungen zu schützen. Der politische Vernichtungsgedanke, gegen die Revanche und den Panslawismus gerichtet, ist eine Notwendigkeit, für welche die verbündeten Kaiserreiche kämpfen.

Die Gier nach Zeitungen

Keine Zigarren wollen die Soldaten, sondern Zeitungen.

Neue Freie Presse am 15.9.1914

Nie habe ich die Macht und Bedeutung der Zeitung so stark empfunden als auf einer Fahrt, die ich jüngst mit dem Automobil durch das von deutschen Truppen besetzte Belgien unternommen habe. Mit nichts konnte man den Soldaten eine größere Freude machen als mit Zeitungen. Zigarren und andere Liebesgaben wiesen sie gern zurück, wenn sie statt dessen Zeitungen bekamen. Sie rissen sie einem aus den Händen und rannten und stürmten auf sie ein, wie bei einer Hungersnot die Bäckerläden bedrängt werden mögen. Manche haben sich ein kleines Schild zurechtgemacht, auf dem geschrieben steht: „Bitte, bitte Zeitungen!“ Und das strecken sie uns mit flehentlichen Blicken hin. Die armen Leute sind ja auch hier in fremdem Lande ganz von geistiger Zufuhr abgeschnitten und wissen, wie sie selbst immer klagend wiederholen, nicht das Geringste. Man glaubt oft, die Soldaten lernten die Zeitungen auswendig, wenn man sie ganz vertieft wie buddhistische Mönche und Büßer über ihnen sitzen sieht. Bis zur letzten Zeile der letzten Spalte verschlingen sie das Blatt, das ihnen aus der Heimat zugeflogen ist und das sie zurückträgt in die Regionen, aus denen sie stammen und in die sie sich zurücksehnen.

Erster Bericht über Schützengräben

Journalisten werden nahe an die russische Front gelassen.

Neue Freie Presse am 14.9.1914

Man sieht eilig mit dem Feldspaten ausgescharrte Schützengräben, auch eine seichte Vertiefung hinter ihnen, in der sich der Zugskommandant deckte. Etwa dreihundert Schritte weiter. Hier gab es offenbar ein langes, zähes Standgefecht. Die Schützengräben sind hier tief und sorgfältiger ausgehoben, untereinander durch Laufgräben verbunden, durch die man Munition in die vordersten Linien trug, Verpflegung und Reserven nachschob. Die Schützengräben sind mit Stroh gefüttert; es scheint sogar, dass die Leute hier im Geschosshagel des Feindes geschlafen haben. Hier war es, wo die Berichterstatter das Gruseln lernen sollten. Die Schrapnells der Russen setzten plötzlich wieder ein. Ein Geschoß heulte auf, krepierte auf gleicher Höhe seitlich und warf unter furchtbarem Knallen einen braunen Trichter Erde auf. Die Berichterstatter stellten sich in eine Deckung.

Aufruf zur Geldverschwendung

Der Schriftsteller Hermann Bahr wendet sich mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit.

Neue Freie Presse am 13.9. 1914

Warnung vor falscher Sparsamkeit. So viel man sich auch von der menschlichen Dummheit erwartet, der Mensch übertrifft alle Erwartungen noch, er ist immer noch dümmer, als man denkt! Man sieht das jetzt wieder an der sinnlosen, wahnwitzigen und geradezu lebensgefährlichen Sparsamkeit, der plötzlich auch sonst nicht ganz verblödete Leute verfallen sind. Wer drei Dienstboten hat, entlässt zwei und will sich mit einem behelfen. Jeder entlässt seine Maschinschreiberin und schreibt seine Briefe selbst. Er entlässt den Hauslehrer, entlässt die Klavierlehrerin, entlässt das Kinderfräulein. Es ist eine wahre Furie. Jeder will sich einschränken, eine hysterische Sparsamkeit bricht aus und der brave Mann glaubt noch, wenn er sich einschränkt, ein patriotisches Opfer zu bringen. Er meint es gut, der brave Mann, und ahnt nicht, welches Übel er damit tut. Was wird denn aus all den Menschen, die der brave Mann in seinem plötzlich erwachenden Spartanertum auf die Straße wirft? Es ist ein Verbrechen, das er begeht. Viel ärger noch, als wenn einer im ersten Schrecken sein Geld von der Sparkasse holt und im Strumpf versteckt! Besinnt euch doch! Seid keine Spartaner! Bewahrt euch unsere beste Tugend! Wohin ist sie? Wohin ist unser österreichischer Leichtsinn auf einmal?

Wiener bestaunen erbeutete russische Kanonen

Das Arsenal wird zum populären Ausflugsort für die Wiener.

Neue Freie Presse am 12.9.1914

Eine kleine Völkerwanderung hat heute nachmittag eingesetzt, deren Ziel das Arsenal war. Das ist gewöhnlich kein Wiener Ausflugsort. Heute haben die Stammgäste dieses Wiesenplanes anderen Besuchern Platz gemacht, die zu Fuß und in der Straßenbahn, in Wagen und Automobilen gekommen sind, um die erbeuteten russischen Geschütze, die dort ausgestellt sind, zu betrachten. Sinnfällig hat Wien den Krieg bisher nur durch die Ankunft der Verwundetentransporte empfunden. Heute hat er sich den Wienern von seiner heroischen Seite gezeigt. In drei langen Reihen stehen die russischen Kanonen da und um sie herum spielen ahnungslose, jauchzende Kinder, glücklich in ihrer beneidenswerten Unbewusstheit. Dereinst wird ihnen von einer großen Zeit erzählt werden, von einem Geschlecht, das sein Herzblut vergossen hat, um ihnen Sicherheit zu schaffen gegen barbarischen Einbruch, gegen Vernichtung von Daseinswert und Daseinsfreude.

"Seid ihr die Enkel Goethes oder Attilas?“

Die Zeitung druckt offene Briefe der Schriftsteller Romain Rolland und Gerhart Hauptmann ab.

Neue Freie Presse 11.9.1914

Französische Anklage und deutsche Widerlegung. Zwischen Romain Rolland, dem Verfasser des seit einiger Zeit auch in Deutschland hochgeschätzten Romans „Jean Christophe“, und Gerhart Hauptmann hat ein Austausch offener Briefe stattgefunden. Romain Rollands Brief beginnt: „Ich gehöre nicht zu jenen Franzosen, die Deutschland als ein Barbarenland ansehen. Mir ist die geistige und moralische Grüße Ihres gewaltigen Volkes wohl bekannt. Ich weiß, was ich den Denkern des edlen Deutschland schulde und noch jetzt in dieser Stunde erinnere ich mich an das Beispiel und an die Worte unseres Goethe – denn er gehört der ganzen Menschheit – unseres Goethe, der jeden Nationalhass von sich wies und seine Seele gelassen in jenen Höhen schweben ließ, wo man das Glück und das Unglück anderer Völker wie sein eigenes empfindet. Mein ganzes Leben lang habe ich daran gearbeitet, den Geist unserer beider Nationen einander zu nähern und die Greuel des ruchlosen Krieges, dem sie jetzt zum Unheil der europäischen Zivilisation anheimfallen, werden mich niemals dazu bringen, meinen Geist mit Hass zu beflecken. … Ich werfe Euch nicht unsere Schmerzen vor; die Eurigen werden nicht geringer sein. Wenn Frankreich zugrunde gehen muss, so wird es Deutschland ebenso ergehen. Ich habe nicht einmal die Stimme erhoben, als ich sah, wie Eure Heere die Neutralität des edlen Belgien verletzten; diese ehrlose Schandtat, die in jedem rechtlichen Bewusstsein Verachtung wecken muss, entspricht viel zu sehr der politischen Tradition Ihrer preußischen Könige. Sie hat mich nicht überrascht, aber die Wut, mit der sie jene großherzige Nation behandeln, deren einziges Verbrechen darin besteht, bis zur Verzweiflung ihre Unabhängigkeit und die Gerechtigkeit zu verteidigen, das ist zu viel. Die Empörung der ganzen Welt erhebt sich.“ Rolland protestiert dann gegen das Bombardement von Mecheln, bei dem ein Rubens-Gemälde in Brand geriet, und gegen die Niederbrennung von Löwen, und er ruft aus: „Seid ihr die Enkel Goethes oder Attilas? Führt Ihr Krieg gegen die Armeen oder gegen den Menschengeist? Tötet die Menschen, aber achtet die Kunstwerke! Das verlangt der Patriotismus des Menschengeschlechts. Ich fordere Sie, Hauptmann, auf, Sie und die geistige Elite Deutschlands, unter der ich viele Freunde besitze, mit der äußersten Energie gegen ein Verbrechen zu protestieren, das auf Sie zurückfällt.“

Gerhart Hauptmann antwortet, dass er den allgemeinen Schmerz Rollands über die Gefährdung der europäischen Kultur und den Untergang geheiligter Denkmäler alter Kunst teile. Aber: „Krieg ist Krieg. Gewiss ist es schlimm, wenn im Durcheinander des Kampfes ein unersetzlicher Rubens zugrunde geht, aber Rubens in Ehren – ich gehöre zu denen, denen die zerschossene Brust eines Menschenbruders einen weit tieferen Schmerz abnötigt, und, Herr Rolland, es geht nicht an, dass Sie einen Ton annehmen, ob Ihre Landsleute, die Franzosen, mit Palmwedeln gegen uns zögen, wie sie doch in Wahrheit mit Kanonen, Kartätschen, ja sogar mit Dumdumkugeln reichlich versehen sind. Der deutsche Soldat hat mit den ekelhaften und läppischen Werwolfgeschichten nicht das allergeringste gemein, die ihre französische Lügenpresse so eifrig verbreitet, das das französische und das belgische Volk sein Unglück verdankt. Mag uns ein müßiger Engländer Hunnen nennen, mögen Sie meinethalben die Krieger unserer herrlichen Landwehr als Attilas Söhne bezeichnen – es ist uns genug, wenn diese Landwehr den Ring unserer unbarmherzigen Feinde zerschmettert.“

Die Marneschlacht - ein Wendepunkt im Westen

Die Zeitung nennt Meldungen über französische Erfolge „phantastisch".

Neue Freie Presse am 10.9.1914

Phantastische Pariser Meldungen über die Kämpfe östlich von Paris. Östlich von Paris ist seit gestern eine große Schlacht auf der ganzen Front im Gange, Engländer und Franzosen sind die Angreifer. Seit heute früh hört man den Kanonendonner, den man in den letzten Tagen wie fernes Grollen vernahm, in Paris klar und deutlich, Schlag auf Schlag, als stünden die Geschütze an der äußeren Linie der Forts. Am intensivsten ist das Feuern in der Richtung von Meaux. Die Stadt ist ruhig, doch in Spannung und fieberhafter Aufregung. Es wird über eine Front von 250 Kilometer Länge gekämpft. Bisher wussten die Berichte nur von Erfolgen der Verbündeten zu melden, man sprach sogar schon von einem großen Siege der Franzosen über die Deutschen, wobei die Garde, als sie sich auf Aufforderung nicht erheben wollte, von den Franzosen angeblich vollständig vernichtet wurde. Dieser Sieg scheint aber auf ebenso zuverlässiger Grundlage zu beruhen wie die übrigen französischen Siegesmeldungen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man hiernach annimmt, dass in Kürze Nachrichten von einer französischen Niederlage erwartet werden können.

Österreich muss sich auf einen langen Krieg einstellen

Die NFP nennt die schweren Verluste an der russischen Front „kleine Rückschläge".

Neue Freie Presse am 9.9.1914

Der Friede wird erst kommen, sobald Frankreich und Russland militärisch niedergebrochen sind. Demnach nicht schon etwa morgen, nach der nächsten Schlacht, selbst wenn sie eine empfindliche Niederlage für Russland bedeuten sollte. Es wäre gegen alle historische, militärische und politische Logik,wenn unser Gegner sich geschlagen gäbe, solange er auch nur ein intaktes Korps in die Front zu bringen hat. Im besten Fall diktieren wir den Frieden den Regeln der Strategie zum Trotz ohne Einnahme der feindlichen Hauptstadt, in diesem Falle Moskaus, vorausgesetzt, dass es uns gelingt, nach harten Kämpfen die letzte russische Armee zu zersprengen. Man sollte also, wenn man genau sein will, das Wort entscheidend noch lange nicht niederschreiben. Russland ist ein Riese, sein Heer das zahlreichste der Erde und hat in manchem Strauss gezeigt, dass es auch der besten eines ist. Einen so ernsten Gegner zwingt man mit einem Schlage nicht in die Knie. Auf heiße, wochenlange Schlachten werden Tage der Sammlung folgen, ruhige Stunden für neue Entschlüsse, neue Vormärsche und Bereitstellungen. Auf die Hauptentscheidung aber, den gordischen Schwerthieb, wird man wohl noch Monde warten müssen. Dass sie zu unserem Gunsten fallen muss und nicht anders, das fest zu glauben, ist schon ein Teil unseres Sieges. Weisheit ist auch, kleine Rückschläge, wenn sie eintreten sollten, mit kaltem Blut zu tragen.

Hugo von Hofmannsthal: Appell an die oberen Stände

Hofmannsthals erstes Kriegsfeuilleton in der NFP über die Solidarität der Daheimgebliebenen.

Neue Freie Presse am 8.9.1914

Unser sind drei Millionen, die stehen jetzt im Felde, und heute oder morgen holt jeder von ihnen, jedes einzelne von einer Mutter geborne Menschenkind das Übermenschliche aus sich heraus, bei Tag und Nacht, in Sumpf und Wald, im Sand, im Lehm, im Kalkgestein, hungernd und im Feuer, dürstend und im Feuer, schlaflos und im Feuer. Das tun die. Und unser sind zwölf oder fünfzehn Millionen, die auf dem Acker arbeiten, und die haben in diesen Wochen geschafft und geschafft, und haben die Ernte eingebracht, mit den alten Männern unter ihnen und den halbwüchsigen Mädchen und den Kindern; und so werden sie die Hackfrüchte heimbringen, und sie werden den Wein heimbringen, und sie werden das Getreide in die Mühle bringen, und sie werden die Saat säen fürs kommende Jahr. So tun die, was an ihnen ist.

Und unser sind zwölf oder fünfzehn Millionen, die arbeiten in den großen Betrieben, und sie finden vielleicht weniger Arbeit, als sie leisten möchten, und da fehlts an Baumwolle und dort an Kohle, und da an Hanf, und dort an schwedischen Erzen und dort an Zylinderöl für die Maschinen, das uns Amerika liefert; aber dieses Ganze wird im Gang bleiben, der Staat erzwingts, die allgemeine Not erzwingts und sie werden sich durchbringen oder wir werden sie durchbringen, so oder so, es muß sein.
Aber es handelt sich noch um anderes, das uns obliegt, uns allein, gerade uns, uns in den großen Städten, uns in Wien vor allem. Da ist unser Schneider, da ist die Putzmacherin, da ist der Wäscheladen, da ist die Federnschmückerin; sie wollen leben. Der Posamentierer und der Lederarbeiter wollen leben. Der Buchhändler und sein Gehilfe wollen leben. Fünftausend Menschen oder siebentausend, die bereit sind, Abend für Abend zu unserer und unserer Frauen Unterhaltung zu geigen und zu flöten, zu mimen und zu singen, und die wir sonst nur schwer entbehren konnten, wollen leben. Und es ist an uns, daß wir leben und sie leben lassen. Dies »leben Lassen« hat jetzt eine verzweifelt ernste Bedeutung bekommen. Wenn wir sie nämlich nicht leben lassen, so werden sie ernste Schwierigkeiten haben, überhaupt weiterzuleben.

Der wohlhabende, ja nur der besitzende Mittelstand hat jetzt vor allem diese eine Aufgabe: zu leben und leben zu lassen. Zu vielen Zeiten hätte es ihn geziert, ein wenig bedürfnisloser zu sein, nur nicht zu dieser jetzigen. Im Augenblick, wo der äußere Markt abgeschnitten ist, aus Enge des Herzens und Dürre der Phantasie den inneren zu paralysieren, wäre Wahnsinn oder ein wenig schlimmer als Wahnsinn.

Nur sehr bedingt ist jetzt das Verkleinern des Hausstandes anzuempfehlen, nur sehr bedingt der Verzicht auf das Überflüssige. Man hat vielfach so gern, so gedankenlos über seine Verhältnisse gelebt; nun tue man es gedankenvoll. Ostentation, sonst so abstoßend, jetzt wird sie hoher Anstand. Was sonst leeres Getue war, die Pflichten der Geselligkeit, nun sind sie etwas. Was früher Anmaßung war und Vorwegnahme, jetzt wird es zur Pflicht. Jedes muntere Wort erfüllt jetzt eine hohe Pflicht, jeder Witz ist jetzt eine kleine Tat. Die Autos sind bei der Armee, die Pferde sind bei der Armee, aber die behaglichen Häuser sind geblieben, und es werden nicht die schlechtesten Musikabende und Geselligkeiten sein, zu denen man wie im Vormärz zu Fuß geht. Die Bravsten sind bei der Armee, aber es bleiben die Witzigen, die Gelehrten, die Erfahrenen. Es gilt zu leben und leben zu lassen.

Rückzug der k.u.k. Armee, Lemberg ist verloren

Die Zeitung ist plötzlich sehr wortkarg, Ostgalizien geht verloren.

Neue Freie Presse am 7.9.1914

Die Räumung von Lemberg ohne Kampf. Abzug unserer Truppen aus operativen Gründen. Die Russen haben am 3. September die im weiten Umkreise um die Stadt errichteten Erdwerke beschossen. Diese Deckungen waren jedoch unverteidigt, weil unsere Truppen aus operativen Rücksichten und damit die offene Stadt nicht einer Beschießung ausgesetzt werde, schon abgezogen waren. Allgemein ist die Zuversicht, dass die Stadt Lemberg, der sich die wärmsten Sympathien in diesen schweren Tagen zuwenden, bald wieder vom Feinde befreit sein werde. An der sonstigen Front herrscht nach den großen Schlachten der vergangenen Wochen verhältnismäßige Ruhe. Der Kriegskorrespondent der „Neuen Freien Presse", Roda Roda, hat in einer Depesche unter dem gestrigen Datum die Stimmung im Kriegspressequartier als zuversichtlich geschildert: „Ich wiederhole eindringlich, dass man den kommenden Ereignissen mit vollem Recht zuversichtlich entgegensehen darf."

Conrad von Hötzendorf - unser Feldherr

Der Chef des Generalstabs hat das Vertrauen aller.

Neue Freie Presse am 6.9.1914

Der Chef des Generalstabes, auf dem gegenwärtig die schwerste Verantwortung ruht, ist Freiherr Conrad v. Hötzendorf. Was er in diesem Kriege bedeutet, mag dereinst die Geschichte nach Zeugnissen berichten, die jetzt unzugänglich sind; was er vor dem Ausbruche des Kampfes in der Zeit des Friedens gewesen ist, hat auch der militärische Laie beobachten können. Er war gewiss ein Mann der ernstesten Arbeit, immer von dem Wunsche beherrscht, die Armee zu heben und auf die Stunde der Abrechnung mit den Feinden vorzubereiten. Er hat einen im Frieden wie im Kriege unschätzbaren Vorzug. Die Armee fühlt sich ihm geistig verbunden und verehrt ihn als den Mitschöpfer und Urheber wichtiger Verbesserungen. Wenn die Armee den Chef des Generalstabes frei wählen könnte, würde sicher der Name des Freiherrn v. Hötzendorf die erdrückende Mehrheit haben. Die Natur hat ihn zum Feldherrn gemacht, und seine Veranlagung zum Soldaten und der Einfluss, der von ihm ausstrahlt, und die ganze Figur, die jetzt in diesen Krieg hineingestellt wurde, waren schon im Frieden für unsere bewaffnete Macht vorbildlich.

Panik und Resignation in Paris

Die Bevölkerung will weg aus der Stadt.

Neue Freie Presse am 5.9.1914

Paris ist ausgestorben. Die Wohlhabenden verlassen die Stadt, um im Süden Sicherheit zu suchen. Die Bevölkerung lässt zwar in dumpfer Resignation alles über sich ergehen, was von den Chauvinisten befohlen wird. Aber viele Leute sprechen bereits von Frieden, und nur durch Terrorismus können sie abgehalten werden, ihrem inneren Gefühl tatkräftigen Ausdruck zu geben. Eine unheimliche Gärung hat die Gemüter erfasst, und die feindliche Stimmung gegen die Herrschenden, welche diesem armen Volk zumuten, eine in Wirklichkeit schon verlorene Sache zu führen, wächst mit jedem Tag. Eine wahre Völkerwanderung nach Bordeaux und nach anderen Städten des Südens vollzieht sich, und vergeblich versucht die Regierung, mit beruhigenden Phrasen einzuwirken. Eine Atmosphäre von unbesiegbarer Traurigkeit lagert über der Stadt, die in der Nacht in vollständiges Dunkel gehüllt ist, um feindlichen Luftschiffen kein Ziel zu bieten. Das gesamte Faubourg St. Germain und St. Honoré, all die eleganten Aristokraten sind in hochbepackten Automobilen fortgefahren, Flüchtlinge aus dem Norden strömen ein und müssen ernährt werden. Dabei ertönt noch immer das Geschrei derer, welche den Krieg bis zum Äußersten wollen.

Wien - eine Stadt wie im Fieber

Gerüchte, Ahnungen, eine unerträgliche Anspannung quält die Stadt.

Neue Freie Presse am 4.9.1914

Wien ist eine andere Stadt geworden. So haben wir sie noch nie gesehen, nicht gekannt, niemals geahnt. Der Wiener, der etwa ein Vierteljahr von seiner Vaterstadt abwesend war und jetzt in diesen Tagen nach Hause kommt, muss sich verwirrt die Augen reiben. ... Uns alle schüttelt das Fieber der aufs höchste gespannten Erwartung. Die Tage sind lang, unerträglich lang geworden und kurz die schlaflosen Nächte. Wien ist auf der Straße. Das wälzt sich zu Tausenden und Abertausenden über den Ring und die anderen Hauptverkehrsadern der Stadt. Immer neuer Zuzug kommt aus den Vorstädten. Wir alle vertragen nicht mehr das Alleinsein. Die Stille der Wohnungen beengt uns, würgt uns am Halse. Wir wollen den anderen, den Nebenmenschen näher sein. Mit ihnen Sorgen und Hoffen tauschen. Der fremde Mann auf der Straße empfindet ganz so wie ich. Vor dem Kriegsministerium herrschte heute geradezu beängstigendes Gedränge. Hier vor allem erwartete man die Bestätigung jener Gerüchte, die heute wieder die ganze Stadt durcheilten und von großen Entscheidungen sprachen, von Heilsbotschaften, die bereits in Wien eingetroffen seien. Die atemlose Spannung, die über diesen Tausenden von Menschen lagerte, schien keiner Steigerung mehr fähig. Überall, wo das Publikum Gewissheit, Bestätigung der im Umlauf befindlichen Gerüchte zu erlangen hoffte, sammelten sich Hunderte und Tausende an. Den ganzen Abend über stand in der Fichtegasse vor dem Gebäude der „Neuen Freien Presse" die Menge Kopf an Kopf gedrängt.

Prorussische Spionage an der galizischen Front

Treulose Einheimische helfen dem Feind.

Neue Freie Presse am 3.9.1914

Wir haben es in Ostgalizien immer wieder mit einer wohlorganisierten Spionage der einheimischen Russophilen zu tun. Sie dienen dem Feind als Kundschafter, verraten ihm unsere Aufmärsche und Stellungen, die Stärke unserer Truppen, die Anzahl und Art unserer Geschütze. Sie geben bei Tag Signale durch weiße und schwarze Rauchsäulen, durch Sonnenblitze auf Spiegeln, bei Nacht mit Laternen und Feuerbränden. Man hat zum Beispiel eine Prozession aufgegriffen, die ein Heiligenbild vor sich hertrug. Das Bild war auf einem Spiegel gemalt und diente diesem verräterischen Signaldienst. Die russischen Kolonnen finden immer vortreffliche landeskundige Führer durch Sümpfe und Wälder und erscheinen jedesmal an der richtigen Stelle. Gelingt es uns, die Russen in einen Sumpf abzudrängen, dann erspüren sie mit Hilfe von treulosen Einheimischen den Weg ins Freie, auch dort, wo es Rettung aus dem Sumpf nur auf einem einzigen Pfad gibt, durch Sprünge von Grasbüschel zu Grasbüschel.

Das Schwarz-gelbe Kreuz als Kriegsschmuck

Es ist nicht an der Zeit, seine Juwelen zur Schau zu stellen.

Neue Freie Presse am 2.9.1914

Die Aktion vom Schwarz-gelben Kreuz, die vor allem Geld für die Notleidenden einbringen soll, dient noch einem zusätzlichen Zweck: Ein künstlerisch ausgeführter Kriegsschmuck, der nur 2 Kronen kostet, bildet, in Massen in der Stadt vertrieben, für alle Zeitgenossen ein unvergängliches Erinnerungszeichen an das furchtbare Kriegsjahr und ein Symbol der Eintracht und Gemeinsamkeit. Jeder Daheimgebliebene fühlt, dass es nicht an der Zeit sei, mit seltenen Perlen und kunstvoll geschliffenen Diamanten Unterschiede von solchen zu versinnbildlichen, die dergleichen nicht besitzen. Fast alle Wiener und Wienerinnen hegen jetzt geradezu den Wunsch, eine einheitliche Zier zu bekommen, auch die reichsten, denen die erlesensten Juwelen zur Verfügung stehen. Allen voran in der edlen Bereitwilligkeit, einer öffentlich bezeugten Gemeinsamkeit anzugehören, gehen unsere Erzherzoginnen, unter denen die Gemahlin wie die Mutter des Thronfolgers, die Erzherzoginnen Zita und Maria Josefa, die ersten waren, die freudig einwilligten, das schwarz-gelbe Kreuz in derselben Ausführung anzulegen, in der es für zwei Kronen jedem Wiener angeboten wird.

General Hindenburg siegt in Ostpreußen

Der erste große Sieg der deutschen Armee, in der Propaganda „Schlacht bei Tannenberg" genannt.

Neue Freie Presse am 1.9.1914

Das Epos des deutschen Siegeszuges in Frankreich und in Russland hat beinahe jeden Tag eine künstlerische Steigerung. Fünf Armeekorps sind vom Generalobersten v. Hindenburg in Ostpreußen geschlagen worden und davon wurden drei vernichtet, und die deutsche Armee hat 60.000 Gefangene gemacht, worunter sich zwei kommandierende Generäle befinden. Ganz Ostpreußen ist vom Feinde befreit, auch der nördliche Teil. Erst vor wenigen Tagen hat die neue französische Regierung in einem Manifest darauf hingewiesen, dass sich die Russen im Anmarsch auf das bereits vor Angst zitternde Berlin befinden. Diese Mitteilung ist vollständig richtig. Eine russische Armee ist tatsächlich im Anmarsch auf Berlin, nämlich eine große russische Armee von Gefangenen. Der Unterschied kann bei der Art, wie in Frankreich die Wahrheit behandelt wird, kaum ins Gewicht fallen.

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