Wiener Kongress: Nachwirkungen bis ins EU-Zeitalter

Der Kongresssaal im Bundeskanzleramt
Der Kongresssaal im Bundeskanzleramt APA/BUNDESKANZLERAMT/ANDY WENZEL
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Zwischen Wiener Kongress und Erstem Weltkrieg bestehe ein "wechselseitiger Bezug", sagt die Historikerin Brigitte Mazohl.

Im Gedenkjahr 2014 hatte der Wiener Kongress mit seinem 200-Jahr-Jubiläum gegenüber 100 Jahren Erster Weltkrieg oft das Nachsehen - dabei könne der eine nicht ohne den anderen verstanden werden, ist Historikerin Brigitte Mazohl überzeugt. Eine Tagung in Wien widmet sich deshalb ab heute, Mittwoch, dem Wiener Kongress in all seinen Facetten - und in der Langzeitperspektive.

"Was bis jetzt immer ein bisschen gefehlt hat, ist der wechselseitige Bezug zwischen Wiener Kongress und Erstem Weltkrieg. Denn der Grund für die spätere radikale Entwicklung der Nationalstaaten wurde sicherlich mit den Entscheidungen des Kongresses gelegt", erklärte Mazohl, auch Initiatorin der Tagung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

"Gegenmodell zum Nationalstaat"

Als "Gegenmodell zum Nationalstaat" werfe der Politgipfel auch seine Schatten bis in die Gegenwart, denn mit der europäischen Einigungsbewegung und der EU nähere man sich durchaus wieder dem föderalistischen Ansatz des Kongresses an, betonte die Wissenschafterin. Daher dürfe auch diese Neuordnung Europas nach der Niederlage Napoleon Bonapartes in den Koalitionskriegen nicht als isoliertes Ereignis betrachtet werden. Dementsprechend "breit und international" will die dreitägige Konferenz das Thema angehen: Neben klassischen Themenblöcken wie etwa der Mächtepolitik, Völkerrecht oder Finanzen und Staatspolitik stehen u.a. auch die Vorgänge hinter den Kulissen auf der Tagungsagenda. Denn so viel die Akteure des Kongresses mit Glanz und Glamour nach draußen trugen, viele wichtige Entscheidungen fielen fernab der Öffentlichkeit.

"Viele wichtige Verhandler pflegten auch persönliche Beziehungen zueinander und waren in unterschiedlichen Netzwerken aktiv", so Mazohl, Präsidentin der philosophisch-historischen Klasse der ÖAW. Im Gegensatz zu anderen Nachkriegsverhandlungen saß auch das praktisch in den vornapoleonischen Grenzen wiederhergestellte Frankreich als besiegte Nation mit am Tisch. "Daher fiel die Rezeption des Kongresses in Frankreich deutlich positiver aus als in anderen europäischen Staaten", meinte die Historikerin. Denn gerade im 19. Jahrhundert wurde das politische Großereignis nicht immer mit Beifall begrüßt: In Deutschland blieb es beim föderalistischen Deutschen Bund, nach Italien kehrten Habsburger und Bourbonen zurück, Polen wurde Russland unterstellt - alle Hoffnungen auf souveräne Nationalstaaten wurden damit enttäuscht.

Vorwurf: Keine Gründung von Nationalstaaten

"Dass es nicht zur Gründung von Nationalstaaten gekommen ist, wurde dem Kongress vorgeworfen", meinte Mazohl. Erst im 20. Jahrhundert veränderten sich Wahrnehmung und Erinnerungskultur ins Positive. Einen Beitrag zur Rezeption leistete sicherlich auch der Wiener Kongress "als Ort kultureller Produktion": Vor allem musikalisch inspirierte das Politikertreffen zu Neukompositionen und Anlassproduktionen. Darauf nehmen nicht nur Beiträge, sondern auch das Rahmenprogramm Bezug: Unter anderem wird es ein Gesprächskonzert - also eine wissenschaftlich erläuterte Aufführung - geben.

Einen "anderen" Blick möchte auch Historiker Hannes Leidinger auf das Gipfeltreffen der europäischen Politik werfen. Sein Buch "Trügerischer Glanz: Der Wiener Kongress. Eine andere Geschichte" wird heute, Mittwoch, präsentiert. Statt Mächte und Akteure rückt Leidinger den Kontext des Kongresses "als Ereignis inmitten der sogenannten Sattelzeit an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert" in den Fokus.

Er begreift den Wiener Kongress als Transformation und "Ära fundamentaler Systemveränderungen". Genauer beleuchtet werden etwa die wachsende Armut, die beginnende Industrialisierung oder die grenzüberschreitenden Netze der Opposition. Genau wie die Tagung beschäftigt sich Leidinger auch mit der Rezeption des Kongresses und analysiert etwa jene Bilder und Images, die von dem politischen Großereignis in den verschiedenen europäischen Ländern blieben.

(APA)

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