DDR: Unter dem Todesstreifen in die Freiheit

DDR: Unter dem Todesstreifen in die Freiheit
DDR: Unter dem Todesstreifen in die Freiheit(c) Imago
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Vor 50 Jahren gelang 57 DDR-Bürgern die Flucht durch einen Tunnel nach Westberlin. Die Umstände blieben bis heute durch Propagandalügen verschleiert.

Gelegentlich wird Politikern unterstellt, dass sie Lügen verbreiten, kaum eine Lüge ist aber so augenscheinlich wie die des DDR-Staatsoberhauptes Walter Ulbricht in einer internationalen Pressekonferenz am 15. Juni 1961: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ In der Tat erschien es absurd und überstieg die Phantasie aller, dass die politische Führung der DDR die Massenabwanderung ihrer Bürger in den Westen durch den Bau einer Mauer unterbinden würde. Am 13. August 1961 war es dann soweit. Durch den Bau der Berliner Mauer wurde die deutsche Teilung buchstäblich einzementiert.

Es war von Anfang an klar gewesen, dass die Deutschen, die auf dem Gebiet der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR lebten, die eigentlichen Kriegsverlierer im Vergleich zu den Westdeutschen waren. Aber erst als das letzte Schlupfloch durch eine militärisch abgesicherte Grenze geschlossen war, wurde ihre Unfreiheit zu einem Schicksal, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Es sei denn, man war gewillt, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Zehntausende nahmen in den folgenden 28 Jahren dieses Wagnis auf sich, die spektakulärsten unter den Fluchtversuchen erregten das Interesse der westlichen Öffentlichkeit. Viele blieben aber unbeachtet, sei es, dass sie schon im Ansatz scheiterten oder von Einzelnen allein und ohne Interesse der Medien bewerkstelligt wurden.

Die deutsche Teilung buchstäblich einzementiert: Mauerbau August 1961
Die deutsche Teilung buchstäblich einzementiert: Mauerbau August 1961(c) APA

70 Tunnelprojekte dokumentiert

Die Grenzmannschaften der DDR lernten im Lauf der Jahre dazu: Im Oktober 1961 entdeckte man, dass die Kanäle unterirdische Fluchtwege boten, sie wurden durch den Einbau von Sperrgittern unpassierbar gemacht. Dennoch blieb der Weg durch die Unterwelt, der Bau von Fluchttunneln, eine mögliche Alternative, um unbemerkt unter der Mauer in den Westteil der Stadt zu gelangen. Die Blütezeit der Tunnelfluchtversuche lag in den Jahren 1962/63, der letzte Tunnel, der bekannt wurde, stammt aus dem Jahr 1982.

70 Tunnelprojekte sind dokumentiert, bei weitem nicht alle erfüllten ihren Zweck. Jedes Mal wenn ein Tunnel entdeckt wurde, führte das zu noch rigoroseren Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit. Meist fackelte man nicht lange herum, sondern warf Handgranaten in den Tunnel hinein; waren noch Flüchtlinge versteckt, zerriss ihnen die Druckwelle die Lungen. In der Folge wurden auch Erschütterungsmelder installiert, um zu sondieren, ob sich etwas unter der Erde abspielte. Das wiederum spornte den Einfallsreichtum der Fluchthelfer an - ein Katz-und-Maus-Spiel mit mitunter tödlichem Ausgang.

Weltberühmtes Fluchtfoto: Der Grenzpolizist Conrad Schumann, bewaffnet und in Uniform, springt in die Freiheit.(15.8.1961).
Weltberühmtes Fluchtfoto: Der Grenzpolizist Conrad Schumann, bewaffnet und in Uniform, springt in die Freiheit.(15.8.1961).(c) Berliner Mauer Museum

Studenten gruben sechs Monate

Exakt vor 50 Jahren, am 3. und 4. Oktober 1964, gelang es insgesamt 57 Personen, durch einen der längsten und tiefsten aller Berliner Fluchttunnel aus der DDR zu fliehen. In die Geschichte der geteilten Stadt ging er daher als der „Tunnel 57“ ein. Die Initiative dazu ging Anfang 1964 von einer Gruppe Westberliner Studenten aus, die Freunde (vor allem Freundinnen) aus der DDR herausholen wollten. Kopf der Gruppe war der 25-jährige Wolfgang Fuchs, dessen Familie durch den Mauerbau auseinandergerissen worden war. Fuchs mietete den Keller einer Bäckerei in der Westberliner Bernauer Straße Nummer 97 an (durch den Mauerbau waren viele Geschäfte in der Gegend pleite). Sein Vorwand: Der Keller wäre als Dunkelkammer für ein Fotoatelier ideal geeignet. Von diesem Keller aus begannen die 35 jungen Männer einen Stollen in Richtung Ostberlin auszubuddeln. Das dauerte sechs Monate, zuerst war man zu tief, da brach plötzlich Grundwasser ein, schließlich erschienen 12 Meter Tiefe als ideal.

Die ganze Zeit hindurch beobachtete einer der Fluchthelfer vom Dach des Hauses in der Bernauer Straße die Aktivitäten der DDR-Grenzsoldaten, um rechtzeitig Warnsignale nach unten zu senden. Am 2. Oktober schafften sie – nach 145 Metern - den Durchbruch. Ursprünglich sollte der Tunnelausgang im Keller des Hauses Strelitzer Straße 55 im Ostteil der Stadt sein, tatsächlich gelangten sie aber in einem nicht mehr genutzten Toilettenhaus im Hof des Gebäudes wieder an die Oberfläche. Doch auch die Toilette erwies sich als geeigneter Ort, um den insgesamt 57 Flüchtlingen, die rechtzeitig informiert worden waren, in kleinen Gruppen und zeitversetzt, kriechend im Erdreich die Flucht in den Westen zu ermöglichen. Insgesamt war der Tunnel 90 Zentimeter hoch und 80 Zentimeter breit.

Stasi-Spitzel war informiert

In der ersten Nacht, vom 3. auf den 4. Oktober, verlief noch alles gut. Was in der zweiten Nacht passierte, blieb zwischen Ost und West lange umstritten. Sicher ist, dass sich auf der Liste der Fluchtwilligen ein Stasi-Spitzel befand, der informiert war über das Fluchttunnel-Projekt, aber die Adresse erst sehr knapp zuvor erfahren hatte. So fanden zwei Geheimdienstleute in Zivilkleidung den Tunnelausgang erst in der zweiten Nacht kurz nach Mitternacht, als eigentlich alles schon vorbei war.

Sie kannten das Losungswort „Tokio“ nicht, und behaupteten gegenüber den Fluchthelfern, die gerade die letzten Spuren beseitigen wollten, noch eine dritte Person holen zu wollen, um dann zu dritt die Flucht fortzusetzen. Doch statt mit einem dritten Fluchtwilligen kamen sie mit vier uniformierten und mit Maschinenpistolen bewaffneten Grenzsoldaten zurück. Einer der Westberliner Studenten, Christian Zobel, gab einen Schuss mit seiner Pistole ab, dann gelang allen rechtzeitig die Flucht zurück durch den Tunnel in den Westen. Der Erste von den DDR-Soldaten, der den Hof betreten hatte, war der Leiter des Einsatzkommandos, der 21-jährige Egon Schultz. Er wurde durch die Kugel des Fluchthelfers getroffen, aber eine tödliche Verwundung erhielt er bei der Schießerei durch ein Versehen seines Dienstkollegen Volker Maier.

Durch den Obduktionsbefund am nächsten Tag wurde klar, was in dem Hof tatsächlich geschehen war, die tödlichen Schüsse kamen aus der Dienstwaffe des Kollegen. Das behagte der DDR-Staatsführung ganz und gar nicht, der wahre Sachverhalt musste geheim bleiben, vielmehr sollte Schultz als das Opfer „terroristischer Elemente einer West-Berliner Agentenorganisation“ dargestellt werden. „Hinterhältiger Mord an Grenzsoldaten“ und „Unteroffizier Egon Schultz von West-Berliner Agenten ermordet“ lauteten am nächsten Tag die Schlagzeilen der SED-Zeitungen. Die DDR verlangte vom Westen die Auslieferung der „Mörder“. Glatte Lügen, nie hat sie die SED-Führung zurückgenommen. Egon Schultz wurde zum sozialistischen Helden verklärt, bekam ein Staatsbegräbnis, Schulen und Straßen erhielten seinen Namen.

Zum 50. Jahrestag des tödlichen Schusswechsels erscheint nun ein Buch: „Der Tod des Grenzsoldaten“. Grundlage des Buches ist ein Gutachten, das auf die Schusskanäle im Obduktionsbefund Bezug nimmt und den Fluchthelfer Christian Zobel eindeutig entlastet: Sein Schuss konnte nicht die Todesursache gewesen sein. Zobel, der ein Leben lang unter dem Verdacht litt, erlebte die Rehabilitierung nicht mehr, er starb 1992. Bis zuletzt hatte er geglaubt, Egon Schultz erschossen zu haben.

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