Gorbatschow: „Eine treue, richtige, leninistische Politik“

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Wie der Reformer aus Stawropol mächtigster – und letzter – KPdSU-Chef im Moskauer Kreml wurde. 700 Seiten bisher geheimer Sitzungsprotokolle liegen nun in Buchform vor: Warum es zur Wende kam.

Im Kreml zu Moskau tritt am 11. März 1985 das kommunistische Politbüro zusammen. Die roten Fahnen mit Hammer und Sichel wehen auf halbmast. Konstantin Tschernenko, der alte und schwer kranke Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, ist am Vortag gestorben. Nicht unerwartet, man konnte sich schon lange darauf vorbereiten.
Ein Nachfolger muss gefunden werden, um das mächtigste Amt im Staat und in der KPDSU zu übernehmen. Nicht schon wieder einen kranken, handlungsunfähigen Apparatschik will man diesmal. Der neue Star heißt Michail Sergejewitsch Gorbatschow (54), geboren in Stawropol, Doppelakademiker (Jurist und Agrarvolkswirt), seit 1980 Vollmitglied in diesem engsten Führungszirkel, im zwölfköpfigen politischen Büro des Zentralkomitees der Partei.
23 Jahre hat er gebraucht, seit er als junger Mann in die Kommunistische Partei seiner Heimatstadt eingetreten war. 23 Jahre als effizienter Apparatschik, der aber so tüchtig war, dass er in den kleinen, völlig überalterten Führungsklüngel einziehen konnte. Er hat sich als Delegationsmitglied schon im westlichen Europa umgesehen und bald erkannt, dass die Bilanzen der Ostblockstaaten allesamt tiefrot sind, was die Machthaber einfach negieren.

Die Wahl Gorbatschows

Wie es zur Wahl Gorbatschows kam, welcher Fehleinschätzung das Politbüro erlag, als es den „jungen Mann“ als linientreuen Leninisten und Marxisten auf den Schild hob und ihn quasi allmächtig werden ließ, das kann man nun erstmals in Buchform nachlesen.
Ein gigantisches Werk liegt hier vor. „Der Kreml und die Wende 1989“, nachvollzogen anhand russischer Protokolle und ins Deutsche übersetzt. Die Publikation ist das Ergebnis eines über zwei Jahre laufenden Projektes des Grazer Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung mit dem Davis Center for Russian and Eurasian Studies der Harvard-Universität, dem Moskauer Staatsarchiv für Zeitgeschichte und der Russischen Akademie der Wissenschaften.
Als Beispiel nun das stenografische Protokoll der Politbürositzung vom 11. März 1985. Keiner konnte damals ahnen, dass mit Gorbatschow der letzte KPdSU-Generalsekretär gewählt werden und sich das gesamte Sowjetreich und der kommunistische Ostblock in wenigen Jahren auflösen würde:
„Streng geheim
einziges Exemplar
(Arbeitsaufzeichnung)

[Michail S.] Gorbačev: „Genossen, gestern um 19.20 Uhr ist Konstantin Ustinović ?ernenko verstorben. Der Tod folgte auf eine lange und schwere Krankheit. Wir haben unseren teuren und geschätzten Freund, Führer, Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR verloren. Ich bitte, das gute Andenken an K. U. ?ernenko in einer Schweigeminute zu würdigen.“
(Alle stehen auf.)
[. . .] „Es ist sehr schwer, sich bewusst zu machen, dass Konstantin Ustinovič nicht mehr unter uns ist.
Aber das Leben geht weiter, da kann man nichts machen. Wir haben uns deshalb heute versammelt, um Fragen [. . .] zur Einberufung eines außerordentlichen Plenums des ZK der KPdSU zu klären, [. . .] müssen wir vor allem die Frage des Generalsekretärs des ZK der KPdSU lösen. Ich bitte die Genossen, sich zu dieser Frage zu äußern.“

Gromyko als Ältester meldet sich

[Andrej A.] Gromyko: „Natürlich sind wir alle sehr niedergeschlagen nach dem Dahinscheiden K. U. ?ernenkos. Aber welche Gefühle uns auch immer überkommen, wir müssen in die Zukunft sehen, und nicht um ein Jota darf uns der historische Optimismus, der Glaube an die Rechtmäßigkeit unserer Theorie und Praxis verlassen.
Ich sage es geradeheraus. Wenn man an die Kandidatur für das Amt des Generalsekretärs des ZK der KPdSU denkt, so denkt man natürlich an Michail Sergeevič Gorbačev. Das wäre meiner Meinung nach eine absolut richtige Wahl. Wir alle kennen Michail Sergeevič gut. Sieben Jahre arbeiten wir mit ihm zusammen. Ich erinnere mich, wie L.[eonid] I. Brežnev sich für meine Meinung und die Meinung anderer Genossen interessierte, als es um die Berufung M. S. Gorbačevs nach Moskau ging. Ich zweifle nicht daran, dass wir alle damals diesen Vorschlag richtigerweise unterstützt haben.

Was für „Gorbi“ spricht

Welche Merkmale springen einem in erster Linie ins Auge, wenn man eine Kandidatur von Michail Sergeevič bewertet?
Erstens ist das seine unzähmbare schöpferische Energie, das Streben danach, mehr zu machen und es besser zu machen.
Zweitens. Seine Einstellung zu den Menschen. Denn je höher ein Mensch steht, umso wichtiger wird seine Begabung, Beziehungen zu den Menschen zu knüpfen, grundlegende und anspruchsvolle Beziehungen. [. . . ]
Drittens. M. S. Gorbačev verfügt über eine große Erfahrung in der Parteiarbeit: Erfahrungen in der Region wie auch im Zentrum. Er hat als Sekretär des ZK gearbeitet, war Kandidat des Politbüros und schließlich Politbüromitglied. [. . .]
Noch eine Überlegung. Wenn wir in die Zukunft blicken, und ich verberge nicht, dass es für viele von uns schon schwer ist, dahin zu blicken, müssen wir eine Perspektive klar sehen. Und diese besteht darin, dass wir nicht das Recht haben, irgendeine Verletzung unserer Einigkeit zuzulassen.
Wir haben nicht das Recht, die Welt irgendeinen Riss in unseren Beziehungen merken zu lassen. Und Spekulationen jeglicher Art zu dieser Frage gibt es im Ausland in Hülle und Fülle. [. . .]
Ich erhebe nicht den Anspruch, dass ich alle Qualitäten Michail Sergeevičs erwähnt habe. Aber ich denke, dass wir, ohne zu schwanken, sagen können, dass wir uns nicht irren, wenn wir ihn zum Generalsekretär des ZK der KPdSU wählen. [. . .]“

Der schärfste Gegner stimmt zu

[Nikolai A.] Tichonov: „In letzter Zeit haben wir viel mit Michail Sergeevič Gorbačev zusammengearbeitet. Besonders eng lernten wir einander während der Arbeit der Kommission zur Perfektionierung des wirtschaftlichen Mechanismus kennen.
Was kann ich über Michail Sergeevič sagen? Das ist ein geselliger Mensch, mit dem man Fragen diskutieren kann, diskutieren auf höchstem Niveau. Er ist der erste Generalsekretär des ZK, der sich gut in der Wirtschaft auskennt. Sie können sich vorstellen, wie wichtig das ist. [. . .]
Daher ist meine Meinung vorbehaltlos: Der Mann, der als Generalsekretär des ZK der KPdSU geeignet ist, ist Michail Sergeevič Gorbačev. [. . .]“
[Viktor V.] Grišin: [. . .] Er ist ein sehr gebildeter Mensch. Er hat die juridische Fakultät der Moskauer Universität und die Wirtschaftsfakultät des Instituts für Landwirtschaft abgeschlossen. Er hat große Erfahrung in der Parteiarbeit. Daher denke ich, dass wir keinen anderen Vorschlag haben und haben können, als den Vorschlag einer Nominierung M. S. Gorbačevs für die Wahl in das Amt des Generalsekretärs des ZK der KPdSU. Was uns betrifft, so wird jeder von uns ihn auf seinem Posten künftig kräftig unterstützen. [. . .]“
Gorbačev: „Zunächst möchte ich sagen, dass die Hauptsache und das Wichtigste darin besteht, dass unsere heutige Sitzung des Politbüros im Geiste der Einigkeit verläuft. Wir durchleben eine Zeit des Umbruchs. Unsere Wirtschaft braucht mehr Dynamik. Diese Dynamik braucht unsere Demokratie und die Erweiterung unserer Außenpolitik.
Ich verstehe sehr gut, dass das Politbüro letzten Endes immer wieder die entsprechende Lösung findet, immer den notwendigen Kandidaten wählen würde. Aber da es heute um mich geht, so vernehme ich all diese Worte mit dem Gefühl einer enormen Ergriffenheit und Emotion. Mit diesem Gefühl höre ich euch zu, liebe Freunde. [. . .]

„Wir müssen die Politik nicht ändern“

Neun Jahre meiner Arbeit im Kreis Stawropol und sieben Jahre hier zeigten mir mit aller Deutlichkeit, dass in unserer Partei ein enormes kreatives Potenzial liegt. Sie hat dieses Potenzial vor allem, weil das Volk die Kommunisten aktiv unterstützt. Das zeigen die letzten Wahlen zum Obersten und zu den lokalen Sowjets überzeugend. [. . .]
Wir müssen die Politik nicht ändern. Sie ist eine treue, richtige, authentisch leninistische Politik. Wollen wir in der Geschwindigkeit zunehmen, müssen wir uns vorwärts bewegen, Unzulänglichkeiten aufspüren und sie überwinden, unsere leuchtende Zukunft klar sehen. [. . .]
Hier haben sich alle anwesenden Politbüromitglieder, die Kandidaten des Politbüros und die Sekretäre des ZK geäußert. Daher ist, soweit ich es verstehe, eure Meinung einhellig und wir können ins Plenum des ZK der KPdSU gehen, das in 30 Minuten mit einer einzigen Empfehlung eröffnet wird.“
Die Politbüromitglieder: Richtig.“

DAS BUCH

„Der Kreml und die Wende 1989“ heißt das sensationelle Buch, das gestern, Freitag, in Wien der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Herausgeber sind die Historiker Stefan Karner, Mark Kramer, Peter Ruggenthaler, Manfred Wilke, Alexander Bezborodov, Viktor Iščenko, Olga Pavlenko, Efim Pivovar, Michail Prozumenščikov, Natalja Tomilina und Alexander Tschubarjan.
Die Übersetzer und Redakteure dieses Monsterwerks seien hier ausdrücklich ebenso genannt:
Elena Fritzer, Silke Stern, Dieter Bacher, Harald Knoll, Reinhard Möstl, Irina Kazarina, Veronika Bacher, Angelika Kermautz, Vladimir Magidov, Julija Schellander, Stefanie Stückler und Arno Wonisch.

Erschienen ist das Buch im Studienverlag, es umfasst 720 Seiten (davon 600 Seiten Dokumente) und kostet im Buchhandel 39,90 Euro.

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