Der Traum vom kurzen Feldzug erfror...

1914. Für die Truppen Österreich-Ungarns waren die ersten Monate des Ersten Weltkriegs im Osten eine Katastrophe. Ohne den preußischen „Waffenbruder“ hätte der Feldzug schon im Winter zu Ende sein können.

Nach dem merkwürdigen Hype zum 100. Jahrestag des Weltkriegbeginns 1914 ist es medial ebenso rasch wieder still. Vielleicht auch, weil schon die ersten Kriegsmonate bis zum Winter 1914/15 eine erschreckende Unzulänglichkeit der Truppen Österreich-Ungarns offenbarten. Ohne Deutschland hätte Österreich schon die Waffen strecken müssen (können).

Dazu kamen Greueltaten der österreichischen Militärjustiz in Galizien (heute Polen und Ukraine), die von der Situation überfordert war. Juden in zerschlissener Kleidung waren automatisch als russische Spione verdächtig, orthodoxe Popen auch. Man machte ihnen einen buchstäblich kurzen Prozess und knüpfte sie am nächsten Baum auf.

Militärisch war die Sache von Anfang an katastrophal. „Bis Ende Dezember 1914 sind vierzig k.u.k. Oberste und Generäle gefallen oder ihren Verwundungen erlegen“, berichtet der Militärhistoriker Manfried Rauchensteiner. „Im gesamten weiteren Krieg, also in fast vier Jahren, waren es nur noch dreißig.“ („Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie“, Böhlau, 2013)

Den Rückzug der zunächst siegreichen 4. Armee schildert ein Augenzeuge: „Immer mehr Leute kamen aus dem Gefecht, gehen an uns vorüber [...] Leute, welche die Waffen weggeworfen hatten, dann endlose Reihen von Verwundeten, Leute, die vor Schmerz oder Schrecken den Verstand verloren hatten. Die meisten mit entstellten Zügen, schwarz im Gesicht von Staub und Erde mit weit aufgerissenen, hervorquellenden Augen und irrem Blick. Dann die Fuhrwerke [...] Dort hockte einer starr, mit hohlen Wangen, bleich – unter die Lebenden hatten sich die Toten gemischt, man nahm sie mit, weil man keine Zeit hatte, die unnötige Last abzuwerfen. Es war ein endloser trauriger Zug von Tod und Elend.“

In Panik feuerte Generalstabschef Franz Conrad v. Hötzendorf einen Großteil der höchsten Generäle, ein Feldmarschalleutnant erschoss sich. Conrad besetzte neu, kümmerte sich nicht mehr um das Plazet des Kaisers. Dieser war von den vielen Enthebungen entsetzt, schickte einen Emissär ins Armeekommando – vergebens. Die Monarchie mit dem greisen Kaiser an der Spitze wandelte sich stetig in eine Militärdiktatur. Der letzte starke Mann, dem sich Conrad gefügt hätte, war Franz Ferdinand. Und dieser war tot.

Seit Oktober kämpfte man gegen eine russische Übermacht, die nun noch durch sibirische Truppen verstärkt worden war. In Ostpreußen waren sie von den Deutschen bald zum Stehen gebracht worden, aber an der österreichischen Front nahmen sie Stadt um Stadt und drängten nun gegen Lemberg.

Nach Rauchensteiner entwickelte sich hier „eine weit ausgedehnte, verlustreiche Frontalschlacht, in der die Russen ihre Überlegenheit voll ausspielen konnten“. Die Armee des Generals Brudermann stand dabei im Brennpunkt, und ihr Kommandant wurde von Conrad auch noch verhöhnt: „Schwäche, Kopflosigkeit, Ungehorsam.“

Am 2.September ging die Hauptstadt Galiziens verloren, westlich von Lemberg entwickelte sich die nächste Schlacht. Das nackte Chaos regierte: Die Vorratslager wurden auf Befehl der Dritten Armee mit Petroleum übergossen und angezündet. Die zurückgehenden Fronttruppen fanden statt Nachschub und Verpflegung schwelende Trümmer vor. „Wir brauchen vor allem Männer! Die alten Weiber und Neurastheniker in Uniform bringen uns um“, schrieb der General Hermann von Kövess verzweifelt.

Es folgte die sogenannte zweite Schlacht von Lemberg, doch das russische Vordringen konnte nur verlangsamt werden. Die österreichisch-ungarischen Soldaten waren einfach überanstrengt. Tausende, Zehntausende fielen und starben innerhalb weniger Tage und Wochen. Sie irrten umher, wurden zeitweilig kaum mehr geführt und erlitten einen Schock nach dem anderen. Die Verbände der k. u. k. 3. Armee wurden dezimiert und waren schließlich nur mehr halb so stark wie die angreifenden Russen. Die 4. Armee General Auffenbergs war 21 Tage lang an der Front, davon 18 Tage im Gefecht.

Man hoffte durchzuhalten, bis endlich die Deutschen von der Westfront Entlastung bringen würden. Doch das dauerte. Auch dort ging nichts nach Plan. Für den entscheidenden Sturm auf Paris fehlte den fünf deutschen Armeen dann doch die Kraft.

In Przemyśl richtete man sich nun auf eine Belagerung ein. Die k.u.k. Festung am San-Fluss war ein wahres Bollwerk: tausend Geschütze, davon viele hochmoderne, allerdings auch ein Drittel Kanonen aus dem Jahr 1861. Mehr als 100.000 Österreicher waren hier nun eingeschlossen.

Von den 800.000 Österreichern, die in drei und schließlich vier Armeen auf dem nordöstlichen Kriegsschauplatz angetreten waren, waren seit Kriegsbeginn rund 400.000verloren gegangen, darunter 100.000als Kriegsgefangene. Die Russen hatten hingegen nur 250.000 Mann verloren, davon 40.000 Gefangene.

Und der Winter stand vor der Tür. Feldzeugmeister Baron Krobatin beruhigte: Er habe bereits 915.000 Stück Pelzleibchen vorrätig und weitere 216.000 Stück bestellt. Der Traum vom kurzen Krieg war endgültig ausgeträumt. Am 9.November begann die intensive Belagerung durch die Russen, die 133Tage andauerte. Am 22.März 1915 kapitulierte die k.u.k. Garnison. Für 100.000 österreichische Soldaten begann die russische Kriegsgefangenschaft.

„Die Welt bis gestern“ erscheint wegen des Feiertages erst wieder am 8.November.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.