Die verlassenen Kinder hinter der Mauer

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Heute sind sie zwischen 24 und 40 Jahre alt. Nach Beginn der Reisefreiheit in der DDR wurden sie in Wohnungen alleingelassen, Bekannten übergeben, Heimen überlassen: Ihre Eltern wollten ein neues Leben im Westen. Eine Spurensuche.

Ein Zettel, etwas Brot, Eier und Milch. Das war alles, was eine Mutter nach dem Fall der Berliner Mauer ihren drei Buben Mark, acht Jahre, Steve, fünf Jahre, und Martin, drei, in der Ostberliner Wohnung zurückgelassen hat. Und das Versprechen, etwas mitzubringen. Sie kam nie wieder. Einfach weg in den Westen!

Irgendwann haben die Buben auf sich aufmerksam gemacht. Nachbarn, Behörden, Heim. Der Fall ging durch die Medien. Und später wird Steve in die Kamera von Spiegel TV über seine Mutter sagen: „Die kommt nie wieder. Jetzt bin ich ganz allein.“ Er wird später laut Berichten vom Vater aufgenommen, der Mittlere von einer Tante, der Ältere muss im Heim bleiben.

Der Fall von Brigitte S. (Namen und Ort geändert) ging nicht durch die Medien. Sie war kein kleines Kind mehr, als es im Sommer 1989 an der Wohnungstür klingelte. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft sagt ihr, dass die „Eltern weg sind“. Mit ihrer Schwester. Brigitte S. verstand in dem Moment nicht, was „weg sein“ bedeuten sollte, weg für immer? Die Angst aber, von einem Moment auf den anderen allein zu sein, diese Angst habe sie nie vergessen – bis heute nicht, schreibt sie auf Anfrage.

In den Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer bis zur Wiedervereinigung Deutschlands waren hunderte Kinder allein und oft auch völlig unversorgt in Ostdeutschland zurückgelassen worden. Verlässliche Zahlen gibt es angeblich nicht. Ein Mal wurde von hunderten Kindern in Berlin allein berichtet, ein anderes Mal von 50, dann wieder von vielen hunderten in ganz Ostdeutschland. Im Jänner 1991 berichtet die „Welt am Sonntag“ von 17.500. Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder spricht in einem ZDF-Interview 2010, dass „bis zu 100.000 Eltern ihre Kinder alleingelassen haben“. Die meisten seien aber zurückgekehrt, die Kinder aus Heimen oder von Verwandten zurückgeholt worden.


Im Weg beim Neuanfang. Die Geschichten der verlassenen Kinder hinter der Mauer sind alle ähnlich, soweit über sie berichtet wurde. In der Wohnung zurückgelassen wie Mark, Steve und Martin. Freundinnen oder Bekannten überlassen, nur schnell, bitte, weil keine Zeit, das Kind vom Kindergarten zu holen, dass Baby zu versorgen. Nur für kurze Zeit – in der Absicht, nie wieder zurückzukommen und im Westen ein neues Leben zu beginnen. „Wir können sie hier nicht gebrauchen“ oder „Sie stören uns beim Neuanfang“ sollten sich Eltern, die im Westen von Medien in München und anderswo gesucht und gefunden wurden, zitieren lassen.

Einige dieser Kinder wurden ins Berliner Heim Königsheide-Makarenko im Stadtteil Treptow gebracht. Es war seit 1952 das Vorzeigeprojekt der DDR. Das lässt sich an einem heißen Tag im August 2014 noch irgendwie erahnen. Eine breite Allee führt vom Tor zum Hauptgebäude, Grünflächen und Wälder versinken an diesem Tag in einer unheimlichen – in des Wortes doppelter Bedeutung – Stille. Vogelgezwitscher, die Luft zittert in der Hitze. Am anderen Ende des riesigen Areals ein Wald wie ein Dschungel, wunderbar geeignet für Spiele aller Art. Ein magischer Ort irgendwie, jetzt, da er verlassen ist.

Kein großes bedrohliches Gebäude, sondern einzelne mehrstöckige Wohnhäuser für jeweils einige Dutzend Kinder, Schule, Krankenstation, Verpflegungstrakt, bunte moderne Glasfenster da und dort, Kunst nach dem Geschmack der DDR auch.

Sieht man zur Einfahrt hin, tauchen in der Fantasie die Kinder auf, die Sonntag für Sonntag dort auf den Eingang zulaufen, in der Hoffnung, dieses Mal würden die Eltern kommen, um sie zu holen. Viele Eltern haben den Weg nicht zurückgefunden, auch weil es sich oft um problematische Familienverhältnisse handelte.

„Hilfeschreie am Telefon“, von denen im März 1990 das Hamburger Abendblatt berichten sollte, wird es in Makarenko nicht gegeben haben. In Leipzig schon. Der Bericht erschütterte die Öffentlichkeit: „Drei Kinder sind irgendwo im Lande seit Tagen in einer Wohnung eingesperrt, können sich nicht befreien. Sie haben Durst und drohen zu verhungern. Die Polizei hat alle Bürger aufgerufen, bei der Suche nach den Kindern zu helfen – bisher jedoch erfolglos.“

Spricht man heute Freunde und Bekannte in und aus Deutschland auf das an, was die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ im Jänner 1990 nüchtern „die Regelung privater Angelegenheiten“ mit Hilfe „welthistorischer Ereignisse“ nannte, so sind die Kinder hinter der Mauer ein bis heute unbekanntes Phänomen. Nie davon gehört oder gelesen. Da muss mehr im Spiel sein als der übliche Informationsmangel.

In den Tagen seit der Fluchtbewegung über Ungarn und Österreich in den Westen im Sommer 1989 und nach dem Fall der Mauer waren Ostberliner Zeitungen voll von den Schicksalen der Kinder, die „wie lästiger Sperrmüll“ zurückgelassen worden sind. Die Medien im Westen griffen die Berichte bestenfalls in Kurzmeldungen auf. Erst später sollte der „Spiegel“ über die Kinder „Wie Sperrmüll“ berichten, dann auch „FAZ“ und „Süddeutsche“ mit unterschiedlicher Gewichtung. Nie gehört und nie gelesen?


Mauer des Schweigens. Allmählich wird in Gesprächen und auf Nachfragen klar, warum diese Kinder in der öffentlichen Wahrnehmung wieder hinter einer Mauer, dieses Mal hinter einer des Schweigens, verschwinden. Keine Seite scheint ein Interesse an der Aufarbeitung dieser Vergangenheit zu haben. Nicht die ehemaligen Ämter der DDR, die nach der Wiedervereinigung in westdeutsche aufgegangen sind. Unterlagen aus den Heimen werden als verschwunden oder vernichtet angegeben, Informationen unter Datenschutz gestellt oder auf Uninformiertheit plädiert. Dahinter und auch in den Gesprächen mit Gruppen, die an der Aufarbeitung der Heim-Vergangenheit der ehemaligen DDR interessiert sind, scheint die Angst vor Verurteilung der ostdeutschen Bürger und Behörden zu stecken. Plötzlich versteht man auch, warum ehemalige Heimleiter und Mitarbeiter, manche noch bis vor Kurzem aktiv, andere bereits in Pension, nicht darüber reden wollen. Offenbar fürchten auch sie, aus den Geschichten der verlassenen Kinder könnte Kritik an ihnen selbst, an den Heimen, an deren Verwaltung oder dem Verhalten ehemaliger DDR-Behörden werden.

Dass es nur um das weitere Schicksal vieler dieser „entsorgten“ Kinder gehen könnte und nicht um eine Verdammung individuellen oder offiziellen Verhaltens damals, spielt dabei keine Rolle. Weil alle heiklen Themen während des Bestehens der DDR – Heimalltag, zwangsweise Einweisungen und Zwangsadoptionen – vermischt werden, scheut man vor einer Diskussion über die Transformationszeit zurück. Der weitere Lebensweg der Kinder mit dem Trauma des Verlassen-Werdens, heute alle zwischen 24 und 40 Jahre alt, scheint niemanden zu interessieren oder gar zu bewegen. Wie viele Erfolgsgeschichten werden da nicht erzählt, die vielleicht anderen Kindern mit einem ähnlich traumatischen Start ins Leben helfen könnten?

Auch Brigitte S. hat den Weg in ein nach außen gefestigtes Leben geschafft, aber die Existenzangst, wieder verlassen zu werden und auf der Straße zu landen, kann sie nicht überwinden.

Für Betroffene wie Brigitte S. scheint es für Vergangenheitsbewältigung noch zu früh. Offenbar wird die eigene Heim- und Pflege-Vergangenheit von vielen nach wie vor verschwiegen. In einem DDR-Heim gelandet zu sein, werde noch immer als Stigmatisierung angesehen, sagt ein Kenner der Situation in Berlin. Die verlassenen Kinder von damals sind noch zu jung, um ihren Schmerz, ihre Verwirrung, ihre Angst von vor 25 Jahren zuzulassen. Hinter der eigenen Mauer des Schweigens kann nicht zugegeben werden, dass man den eigenen Eltern offenbar nicht wichtig genug war, um mitgenommen zu werden. Und es scheint noch ein anderes Phänomen hinzuzukommen: Die eigenen Eltern müssen geschützt werden – gleichgültig, wie schmerzhaft deren Entscheidung war. Selbst junge Erwachsene, die damals als Babys bei irgendjemandem „deponiert“ worden sind und keine wirkliche Erinnerung daran haben können, wollen offenbar nicht, dass ihre Eltern als „Rabeneltern der Wende“ (so eine Berliner Zeitung im April 1991) gesehen werden.

Schließlich scheint auch die westdeutsche Seite kein ausgeprägtes Interesse an dem Thema zu haben. Zwar gab es nach dem Fall der Mauer und der Erkenntnis, dass die Flucht in den Wohlstand ohne Kinder nicht nur Einzelfälle betraf, eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den west- und ostdeutschen Behörden zur Auffindung der Eltern im Westen. Besonders engagiert dürfte diese laut Medienberichten aber nicht gewesen sein.

Man will offenbar im Westen nicht daran erinnert werden, dass die strafbare „Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht“ kein besonders verfolgenswerter Tatbestand gewesen sein dürfte. Im April 1991 wird ein Berliner Staatsanwalt so zitiert: „Wir haben in keinem Fall ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.“ Nach der Wende wäre es Sache der westdeutschen Behörden gewesen.

Auch deshalb fragt sich Brigitte S. heute noch, warum die Schattenseiten der Wiedervereinigung nie aufgezeigt werden. Die Bilder der jubelnden Massen an der Berliner Mauer erinnern sie daran, dass sie nicht verzeihen kann.

In Berlin-Königsheide

Das Kinderheim Makarenko wurde 1952 als Vorzeigeheim der ehemaligen DDR eröffnet und 1997 als Anstalt für geschädigte Kinder geschlossen. Benannt ist es nach dem sowjetischen Pädagogen und Schriftsteller Anton Semjonowitsch Makarenko (1888–1939). Die denkmalgeschützten Gebäude sollen 2016 als Wohnanlagen eröffnet werden. Eine Bürgerinitiative auch ehemaliger Heimkinder verhinderte, dass sie abgerissen wurden. Wikipedia

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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