Der späte Triumph des Dr. Andrei Sacharow

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Die „Wende“ 1989. Unter Gorbatschow verurteilt der Kreml erstmals den Einmarsch in Prag 1968 und das Blutbad in Peking 1989 – zum Unwillen der alten Garde.

Vor 25 Jahren erlebte der schwer kranke sowjetische Kernphysiker, politische Dissident und Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow noch die Auflösung des kommunistischen Ostblocks in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und nun auch in der DDR. Im November sollte seine Sternstunde kommen. Da stand der einstige Geburtshelfer der sowjetischen Wasserstoffbombe im 62. Lebensjahr. Nach sechs Jahren in sibirischer Verbannung hatte ihn Michail Gorbatschow nicht nur rehabilitiert, sondern ihn auch in den Kongress der Volksdeputierten wählen lassen. Was dort Außenminister Eduard Schewardnadse sagte, bestätigte – spät, aber doch – genau jene Kritik, deretwegen Sacharow verfemt worden war. Einen Monat später war er tot.

Der Georgier Schewardnadse war einer der maßgeblichsten Gefolgsleute des Reformers Gorbatschow. Schon vor dem Fall der Berliner Mauer hatten die beiden im sowjetischen Politbüro eine entscheidende Leitlinie vorgegeben, an die sich das Militär zu halten hatte: Sollten in Osteuropa innere Unruhen ausbrechen, so werde Moskau keine Militäraktion durchführen, selbst wenn die kommunistischen Regierungen dort scheitern.

„Gorbi“ sichert sich ab

Es war ein Kraftakt, aber taktisch nicht ungeschickt: Gorbatschow hatte dadurch die Garantie, dass seinen Genossen des Politbüros und des Militärrates – die einzigen, die ihm in die Quere kommen konnten – dieselbe Verantwortung für diese bedeutende Entscheidung auferlegt wurde. Damit konnte er (zunächst nur, wie wir wissen) einen Putsch gegen seine Politik verhindern.

Dazu kam ein Tauwetter in den Beziehungen zu den USA, wo Anfang 1989 George Bush senior sein Amt als neuer US-Präsident angetreten hatte. Schon zwei Wochen später reiste der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger inoffiziell nach Moskau. In diesen Gesprächen schlug Kissinger vor, dass man einen geheimen „politischen Dialog“ beginnen solle, der helfen würde, die „politische Evolution“ in Osteuropa auf geordnete Art und Weise voranzutreiben und das „Potenzial für Instabilität“ zu eliminieren.

Zum neuen Stil des KPdSU-Generalsekretärs Gorbatschow gehörte es, dass im Kreml die bisher allmächtigen Minister Rechenschaft für ihre Politik vor dem Obersten Sowjet ablegen mussten. So auch der Außenminister. Ein stenografisches Protokoll, das kürzlich veröffentlicht wurde, zeichnet die Sitzung des Komitees des Obersten Sowjets der UdSSR für internationale Angelegenheiten vom 17.November 1989 im Sverdlovsk-Saal des Kreml nach. Es ging um die Frage, wie das neue Regime die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, das Blutbad vom Sommer 1989 in Peking und den Fall der Berliner Mauer beurteilt. Denn bis dato war trotz Glasnost dazu nichts zu hören.

„...das wird in Berlin getroffen“

Schewardnadse ist ganz Diplomat und hält sich eisern an die Gorbatschow-Doktrin, nicht mehr weltweiter Vormund für alle anderen kommunistischen Staaten zu sein: „Ein Beschluss darüber, was die DDR, Berlin usw. betrifft, wird in Berlin getroffen und nicht in Moskau, und Beschlüsse bezüglich 1968 müssen in Prag getroffen werden und nicht in Moskau. Wenn wir dieses Prinzip verletzen, verlieren wir sehr viel. [...]

Andrei Sacharow fragte bezüglich China. Er spricht von einem moralisch-politischen Schaden, den die fehlende Erörterung seitens der UdSSR über das Blutbad an friedlichen Demonstranten in der chinesischen Volksrepublik im Juli 1989 mit sich gebracht hat. Ihre Forderungen trugen demokratischen Charakter, warum haben wir sie nicht verurteilt? Dadurch haben wir im Grunde die chinesische Regierung unterstützt.

Sie alle erinnern sich, dass die Erklärung in dieser Sache am ersten Volksdeputiertenkongress verabschiedet wurde. Ich stimmte nicht ab, da ich kein Deputierter bin, daher bin ich weniger als Sie dafür verantwortlich, wenn diese Erklärung nicht irgendwelchen Standards entspricht.

Aber ich denke, dass das ein abgewogener, richtiger – sowohl in den politischen als auch in allen Beziehungen – Beschluss war. Wir haben gesagt [...], dass wir es bedauerten und bedauern, dass Menschen umkamen. Wo auch immer Tragödien passieren, können wir nicht gleichgültig bleiben. Aber was den getroffenen Beschluss der chinesischen Regierung betrifft, denke ich, dass wir uns in diese Sache nicht einmischen können und dürfen. Auch wenn das ein kleiner Staat wäre, müssten wir trotzdem nach unserem grundlegenden Prinzip handeln, wir dürfen uns nicht einmischen.

Jeder Staat, jede Regierung ist selbst für ihre Angelegenheiten in ihrem Land verantwortlich. [...] Ich denke, dass diese Frage ausgereizt ist.“

Am 2./3.Dezember 1989 kamen Michail Gorbatschow und George Bush schließlich zu ihrem lang geplanten Gipfelgespräch auf einem US-Kriegsschiff vor Malta zusammen. Dabei verkündeten sie symbolisch das Ende des Kalten Krieges. Zur deutschen Frage nach dem Fall der Berliner Mauer meinte Gorbatschow, ein Vereinigungsprozess müsse „nicht künstlich vorangetrieben“ werden. Zumindest aber zog er eine Vereinigung in Betracht. Hypothetisch fragte er sogar, ob dieses Deutschland dann neutral sein oder der Nato angehören würde. Das wieder konnte Bush (noch) nicht beantworten.

Literaturtipp:

Karner, Ruggenthaler, Wilke u.a. (Hrsg.)

„Der Kreml und die Wende 1989“

Studienverlag, 720Seiten, €39,90

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.11.2014)

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