"Ein anderes Schlachtfeld": Als Amerikaner für Europa hungerten

"Ein anderes Schlachtfeld": Als Amerikaner für Europa hungerten(c) imago stock&people (imago stock&people)
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Vor 70 Jahren setzten sich in Minnesota 36 Männer unter wissenschaftlicher Aufsicht qualvoller Unterernährung aus.

"Würdest du hungern, damit andere ernährt werden können?" Im Herbst 1944, US-Soldaten kämpfen seit bald drei Jahren im Zweiten Weltkrieg, ruft eine Broschüre der Universität Minnesota zur Teilnahme an einem Experiment auf, das in einem anderen Kampf helfen soll - jenen gegen den Hunger. Junge gesunde Männer sollen radikal abnehmen, um die Auswirkungen von Nahrungsmangel auf Körper und Psyche und die besten Methoden zur Rehabilitation zu finden. Die Forscher hoffen, die Erkenntnisse nach dem Ende des Krieges auf die hungernde Bevölkerung vor allem Europas anwenden zu können.

200 Menschen, hauptsächlich Kriegsdienstverweigerer, melden sich als Freiwillige. 36 von ihnen werden ausgewählt und beziehen am 19. November 1944 ihr Quartier in einem Universitäts-Gebäude. "Für uns war das ein Schlachtfeld, das mit unserem Gewissen vereinbar war", erklärt der Teilnehmer Max Kampelman später im US-Radio. Man habe ähnlich wie die Soldaten im Krieg seine Pflicht erfüllt, nur auf einem "anderen Schlachtfeld".

Der Leiter des Hungerexperiments ist Physiologe Ancel Keys, der bereits die Verpflegungspakete der US-Armee ("K-Rationen") entwickelt hat. Er unterzieht seine Probanden zunächst unzähligen Tests, bevor er sie hungern lässt. Die Nahrungszufuhr der Männer wird auf 1570 Kilokalorien reduziert, die Rationen bestehen hauptsächlich aus Kartoffeln, Kohl und Brot. Dazu muss ein tägliches Bewegungsprogramm absolviert werden. Das Ziel: eine Gewichtsreduktion von 25 Prozent.

Bald zeigen die Teilnehmer extreme körperliche Schwäche und geistige Apathie. Sie haben mit Ödemen, Schwindel und Haarausfall zu kämpfen, und alle berichten, dass ihre Gedanken nur noch um eines kreisen: Essen. "Wir redeten über Essen, wir dachten an Essen. Manche von uns sammelten bis zu 30 Kochbücher", schildert Teilnehmer Jay Garner später. "Und wir schauten gerne anderen Menschen beim Essen zu." Nachdem ein paar Teilnehmer die Regeln brachen und Essen kauften, wird ein "buddy system" eingeführt: Ausflüge sind nur noch zu zweit gestattet. Zwei Teilnehmer werden wegen Schummelns aus der Studie geworfen, zwei weitere müssen aus gesundheitlichen Gründen aufgeben.

Dutzende Kaugummi-Packungen am Tag

Um das Hungergefühl im Zaum zu halten, mutieren einige der Männer zu exzessiven Kaugummi-Kauern: Dutzende Packungen pro Person und Tag verbrauchen sie, bis den Studienleitern klar wird, dass durch den enthaltenen Zucker auch einige Kalorien zugeführt werden. Sie beschränken die Kaugummi-Ration also auf 2 Päckchen pro Tag.

Als Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945 kapituliert, haben die Männer in Minnesota gerade die Hälfte der Hunger-Phase hinter sich gebracht. Ende Juli gehen sie in die dreimonatige Rehabilitationsphase. Die Kalorienzahl wird langsam erhöht, doch viele Teilnehmer verlieren zunächst weiter an Gewicht, da sich Wassereinlagerungen zurückbildeten. In der Anfangsphase, in der nur wenig mehr gegessen werden darf, schneidet sich der Teilnehmer Sam Legg beim Holzhacken drei Finger ab. 50 Jahre später erklärte er im Radio, er sei damals "wahnsinnig durcheinander" gewesen. Er könne noch immer nicht sagen, ob er es absichtlich getan habe oder nicht

Einige der Männer brauchen ein ganzes Jahr, um sich ganz von dem Experiment zu erholen. Ihre Hoffnung, der hungernden Bevölkerung in Europa helfen zu können, erfüllt sich jedoch nicht. Als die Alliierten in Europa fast verhungerte Menschen aus den Konzentrationslagern der Nazis befreien und zusehen müssen, wie viele noch in den kommenden Wochen an den Folgen von Unterernährung, Krankheit und Folter sterben, läuft das Minnesota-Experiment noch. Zwar veröffentlichen Keys und sein Team einzelne Erkenntnisse bereits während des Versuchs, die große Studie "The Biology of Human Starvation" erscheint jedoch erst 1950. Darin schließen die Wissenschaftler, dass es keine bestimmte Mischung von Vitaminen und Proteinen gibt, um die Gewichtszunahme zu beschleunigen. Nur eine drastische Erhöhung der Zufuhr an Kilokalorien - auf bis zu 4000 pro Tag - helfe. Und in Bezug auf psychische Auswirkungen des Hungerns folgert Keys : "Hungernden Menschen kann man Demokratie nicht beibringen."

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