Hiroshima-Überlebende: "Ich höre ihre Schreie noch"

Die Presse
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Setsuko Thurlow ist eine der letzten Überlebenden des Atombomben-Angriffs. Als 13-Jährige sah sie »Menschen, die nicht aussahen wie Menschen«. Sie selbst plagten jahrelang Schuldgefühle.

43 Sekunden lang fällt der „Kleine Bub“ vom Himmel. Dann geht er hoch. „Kleiner Bub“, also „Little Boy“: Diesen harmlosen Codenamen gaben die Amerikaner der Hiroshima-Atombombe. Hibakusha, Explosionsopfer: So nennen die Japaner jene, die „Little Boy“ und drei Tage später den zweiten Atomangriff auf Nagasaki überlebt haben. Setsuko Thurlow ist eine Hibakusha aus Hiroshima. Und sie redet darüber. Immer wieder.„Bis zum letzten Atemzug“ werde sie ihre Geschichte erzählen, sagt die 83-Jährige der „Presse am Sonntag“. Das sei sie den Toten schuldig, solange diese „schrecklichen Waffen“ noch da draußen sind. Sie meint die geschätzt 16.300 Kernwaffen, die neun Länder (die UN-Vetomächte, Indien, Nordkorea, Pakistan und Israel) noch immer horten sollen.
Thurlow zwingt sich also hervorzuholen, was sich an diesem 6. August 1945 in ihr Gedächtnis gebrannt hat: Bilder von „Menschen, die nicht aussahen wie Menschen“, Schreie von Schulfreundinnen („Mama, hilf mir!“) die zwar schlagartig verstummten, die Thurlow aber „noch heute im Ohr hat“.

Für den Kaiser. Die 13-jährige Setsuko, jüngstes von sieben Kindern, stand früh auf an diesem schwülen Montag. Japans in den letzten Zügen liegende Streitkräfte hatten das Mädchen und ihre Freundinnen für ein sogenanntes Schülermobilisierungsprogramm auserwählt. Sie sollten helfen, Nachrichten zu decodieren. Oder, wie es der Major ausdrückte, dem die Mädchen an diesem Morgen im zweiten Stock des Armeehauptquartiers lauschten: Der Tag sei gekommen, um dem Kaiser ihren Patriotismus zu beweisen. „Ja, das werden wir!“, antworteten Setsuko und ihre Freundinnen. Just in diesem Moment sah sie ihn durchs Fenster: „Den weißen Blitz mit dem Blaustich.“
Geschätzte 70.000 Menschen starben an diesem Tag – und noch einmal so viele bis Ende 1945. Wie viele in den Jahren und Dekaden danach an den Spätfolgen zugrunde gingen, lässt sich nicht seriös abschätzen.

Nur 1,8 Kilometer lagen zwischen Setsuko und dem Epizentrum, von wo sich die Druck- und Hitzewelle (4000 Grad Celsius) in Bewegung setzte. Als die 13-Jährige wieder das Bewusstsein erlangte, sah sie zunächst nichts. „Es war dunkel und still. Und ich konnte mich nicht bewegen.“ Momente später hörte sie die ersten Schreie der Freundinnen, die neben ihr unter den Trümmern lagen. Und dann die Stimme eines Soldaten. Er zog Setsuko unter den Holzbalken hervor. Als sie im Freien angelangt waren, fing das Hauptquartier, ein Holzbau, Feuer. Thurlows Stimme wird kurz leise: „Meine Mitschülerinnen sind lebendig verbrannt.“


Draußen hatte eine surreale Dunkelheit den sonnigen Morgen abgelöst – „als wäre die Dämmerung gekommen“. Durch die Straßen, in denen das Feuer loderte, schleppten sich „Objekte“, wie Thurlow sagt. „Ich zögerte zunächst, sie für Menschen zu halten. Doch es waren Menschen.“ Einigen seien die Haare zu Berge gestanden, anderen fehlte ein Bein oder ein Arm. Die allermeisten hatten schlimmste Verbrennungen. Und dann gab es noch jene, „die ihre Augäpfel in der Hand hielten“.

Wer Setsuko Thurlow zuhört, muss oft schlucken. Sie weiß das. Deshalb erzählt sie es ja. Und deshalb ist die Soziologin in Wien, wo sie am Montag mit Außenminister Sebastian Kurz die Konferenz zu den humanitären Auswirkungen von Kernwaffen eröffnen wird und am Wochenende auf einer Veranstaltung der "Internationalen Kamapagne zur Abschaffung von Atomwaffen" (ICAN) sprach.

Die 13-jährige Setsuko hatte sich an jenem Vormittag in ein Ausbildungslager der Armee auf einem nahen Hügel gerettet. Halb tote Menschen lagen dort und beklagten sich nicht. „Sie hatten keine Kraft, weder psychisch noch physisch, um nach Hilfe zu rufen oder vor Schmerz zu schreien“, erinnert sich Thurlow. Wenn, dann flüsterten sie nur: „Wasser, Wasser.“ Die 13-Jährige riss sich ein paar Fetzen von den Kleidern, hielt sie in den nahen Fluss und legte sie dann den Sterbenden auf den Mund, die das Wasser aufsaugten. Die erste Nacht machte Setsuko kein Auge zu. Sie saß auf dem Hügel und starrte auf das Feuer, das vor ihren Augen ihre Heimatstadt verschlang. Was sie dabei fühlte und dachte? „Nichts. Gar nichts.“

Von all den Grausamkeiten, die dieser Angriff den Überlebenden zugefügt hat, ist das vielleicht die verstörendste: Setsuko Thurlow hatte jahrelang Schuldgefühle. Weil sie nichts empfinden konnte. Nicht einmal, als sie ihre Schwester sah: „Man konnte nicht sagen, ob da ein Mann oder eine Frau lag. Ich erkannte sie nur an ihrer Stimme.“ Auch der vierjährige Neffe hatte schwerste Verbrennungen. Beide starben in den folgenden Tagen, zuerst die Mama, dann der Bub.

„Bin ich überhaupt ein Mensch?“ Soldaten warfen die beiden Leichen in eine Grube und zündeten sie an, sagt Thurlow. Sie greift nach ihrem Gehstock, um anzudeuten, wie die Männer damals die Toten mit einem Bambusstab gewendet haben. „Wie Insekten behandelten sie meine liebe Schwester!“ Und Thurlow? Stand da, sagte nichts, fühlte nichts. „Keine einzige Träne“ habe sie vergossen. „Ich fragte mich oft, ob ich überhaupt ein Mensch bin.“ Erst Jahre später lernte sie, dass ihre „emotionale Taubheit“ eine sehr menschliche Reaktion auf einen Ausnahmezustand war. Eine Schutzfunktion des Körpers.

Thurlow trägt ihre Geschichte mit festem Blick und sicherer Stimme vor. „Aber der Schmerz wurde in den all den Jahren nicht kleiner“, sagt sie. Es gebe eben noch eine zweite Setsuko Thurlow – die nachts in ihrem Zuhause in Kanada sitzt und an den Reden über Hiroshima schreibt „und dann hemmungslos weint“. Diese Seite habe nur ihr vor drei Jahren verstorbener Mann gekannt, sagt sie. „Ich erlaube sonst niemandem, mich so zu sehen.“ Sie muss ja ihre Geschichte erzählen – sicher auch nächstes Jahr, wenn sich Hiroshima zum 70. Mal jährt. Und danach. Bis zum letzten Atemzug eben.

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