Abd al-Wahhab: Der Wanderprediger des saudischen Jihad

(c) ORF (Roland Breitschuh)
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Als Prediger der reinen sunnitischen Lehre führte Mohammed ibn Abd al-Wahhab vor 270 Jahren den Islam zu den Ursprüngen zurück. Trotz Anfeindungen etablierte er in Saudiarabien.

In der Wüstenoase Diriya, heute ein Vorort der Hauptstadt Riad, trafen 1744 einander ein Mann des Worts und ein Mann des Schwerts, und der Pakt, den sie besiegelten, sollte die Geschichte der arabischen Halbinsel prägen, das Fundament legen für die Herrschaft der Saud-Dynastie und die Spaltung des Islam zwischen der sunnitischen und schiitischen Glaubensrichtung weiter vertiefen. Der Deal sollte beiden zum Ruhm verhelfen: Der eine stieg zum religiösen Führer auf, der andere zum politischen. In ihrer Machtteilung begründeten sie eine Staatsdoktrin, den Wahhabismus, die bestimmende Ideologie in Saudiarabien, und als solche mit Hilfe von Milliarden an Petrodollars ein Exportartikel in der islamischen Welt vom Maghreb über den Hindukusch bis nach Indonesien – ganz zu schweigen von ihrem Einfluss in den Moscheen westlicher Metropolen.

42 Jahre alt war Mohammed ibn Abd al-Wahhab zu dem Zeitpunkt, zunächst gescheitert in der hochtrabenden Ambition, den Islam zu seinen Prinzipien zurückzuführen, vertrieben aus seinem Heimatdorf Uyaina, einer Oase in Nadschd, dem Kernland der arabischen Halbinsel und heute Stammland Saudiarabiens. Al-Wahhabs Vater, ein Richter und Abkömmling einer Familie islamischer Rechtsgelehrter, missbilligte seine Thesen; sein Bruder Suleiman verstieß ihn, er bezeichnete ihn als intolerant und fanatisch, und er erwirkte gar eine Fatwa.


Lehr- und Wanderjahre. Mit dem öffentlichen Predigen begann al-Wahhab erst nach dem Tod des Vaters. Dann fand er in Mohammed ibn Saud, dem Spross von Dattelhändlern und Emir von Diriya, freilich einen Förderer und Mitstreiter. Im 20. Jahrhundert etablierte ein Nachfahre, Abd-al-Aziz ibn Saud, schließlich die Monarchie in Riad, und seine Söhne schwangen sich offiziell zu den Hütern der Heiligtümer in Mekka und Medina auf.

Mohammed ibn Abd al-Wahhab tat sich als eifriger Schüler und Vorbeter hervor. Mit zehn Jahren, so die Überlieferung, hatte er den Koran auswendig gelernt. Der Mufti in Mekka nahm ihn jedoch als arrogant und widerspenstig wahr. Nach dem Hadsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, begann er in Medina seine Lehr- und Wanderjahre, die ihn später zum Islam-Studium in den heutigen Irak führten, nach Basra und Bagdad. Unter dem Einfluss zweier Rechtsgelehrter wandte er sich der „reinen“ Lehre zu, dem strikten Monotheismus, wie ihn der Prophet Mohammed mehr als 1000 Jahre zuvor postuliert hatte.

Doch in der Zwischenzeit hatte sich der Glauben ausgeformt, zuweilen auch zum Aberglauben. Die übertriebene Verehrung Mohammeds und anderer „Heiliger“, die Anbetung von Bäumen und Steinen als pseudoreligiöse Symbole sowie die „Verlotterung“ der Sitten stießen den jungen Reformer und Koran-Experten ab. Aller Zierrat, die Ornamente an den Moscheen, Seidengewänder und Gebetsketten waren ihm ein Gräuel. Alkohol und Tabak galten ihm als Teufelszeug, jede Musik – mit Ausnahme von Trommeln – war ihm verpönt. Schiiten punzierte er als Abweichler, wenn nicht gar als „Ungläubige“.

Beliebt machte er sich nicht in Basra und anderswo, wo es ihn hinverschlug. Die Bewohner verbannten ihn, bis er schließlich in seine engere Heimat zurückkehrte. Hier verfasste er sein Hauptwerk, das „Buch des Ein-Gott-Glaubens“, das indessen bald Furore machte – und Gegner auf den Plan rief, die gegen ihn ein Attentat ausheckten. Es sollte nicht der einzige Versuch bleiben. Auch in Uyaina, wo al-Wahhab schließlich Zuflucht suchte, verschworen sich ein mächtiger Stammesführer und lokale Beduinen gegen den Puritaner. Auf deren Druck hin ließ ihn sein Mentor fallen, und er musste Hals über Kopf fliehen,

Unter wohlwollender Aufsicht des Emirs Uthman ibn Muammar hatte der Verfechter eines fundamentalistischen Islam dort allerdings zunächst seine Thesen in die Realität umgesetzt – ein erstes Experiment. Er untersagte den „Götzendienst“ am Grab eines Gefährten des Propheten Mohammed, er ordnete das Fällen „heiliger Bäume“ an. Nicht zuletzt gab er eine Ehebrecherin zur Steinigung frei – eine mittelalterliche Auslegung der Scharia, die da und dort noch Anwendung findet. In Saudiarabien ist die öffentliche Auspeitschung und Hinrichtung Rechtspraxis.

In Diriya, mit dem Kamel ein Tagesritt südlich von Uyaina, bot ihm Mohammed ibn Saud derweil Asyl an. Ihren Pakt zur Teilung der Macht, noch heute Fixpunkt der Realverfassung in Riad, vollzogen sie mit einem Treueschwur. Der Herrscher sicherte ihm seinen Schutz zu: „Diese Oase ist dein. Fürchte deine Feinde nicht.“ Im Gegenzug lieferte ihm al-Wahhab die religiöse Legitimation für dessen Expansionsdrang auf der arabischen Halbinsel, für den Jihad gegen die sogenannten Ungläubigen.

Der Deal, die Verquickung von Politik und Religion, markiert die Geburtsstunde des Wahhabismus – der aggressiven Ausrichtung des sunnitischen Islam, der Saudiarabien in Gegensatz zum schiitischen „Gottesstaat“ und Erzrivalen Iran stürzte und zum Helfershelfer und Sponsor von radikalen Predigern und Terroristen machte. Bis auf den Balkan, nach Afghanistan und Pakistan, nach Afrika und Zentralasien reicht der Arm der Wahhabiten, die Petrodollars sprudeln in den Bau von Moscheen – und so wie die Muslimbrüder in Ägypten zählten einst auch die Taliban zu den Profiteuren der saudischen Ideologen. Dass ein Großteil der 9/11-Attentäter, mithin der Kopf der al-Qaida, aus Saudiarabien stammte, war alles andere als ein Zufall. Und auch die Jihadisten des sogenannten Islamischen Staats genossen zumindest anfangs die Unterstützung der Saudi-Scheichs, bis diese sich gegen sie richteten.

Vor 270 Jahren begann der Siegeszug der Wahhabiten unter dem Banner des Saud-Clans, erst mit der Unterwerfung der Beduinenstämme im Zentralraum der arabischen Halbinsel und der Auslöschung islamischer Glaubensrichtungen wie der Shia oder der Sufis, der Mystiker. Nach Mohammed ibn Sauds Tod brachte dessen Sohn Abd al-Aziz ibn Mohammed erst Riad unter seine Kontrolle und zu Beginn des 19. Jahrhunderts kurzfristig auch die heiligen Stätten in Mekka und Medina. Im schiitischen Heiligtum Kerbala im heutigen Irak wüteten die Jihadisten, die wahhabitischen Wüstenkrieger richteten ein Gemetzel unter den Schiiten an. Die Osmanen unter ihren ägyptischen Statthaltern schlugen sie letztlich zurück – bis sie rund 100 Jahre später erstarkt aus dem kuwaitischen Exil wiederkehrten und sich auf Dauer auf der arabischen Halbinsel festsetzten.

Mohammed ibn Abd al-Wahhab, mit dem Saud-Clan durch Hochzeit verschwägert, hatte sich um 1770 als Imam aus der vordersten Reihe zurückgezogen, um sich seinen Privatstudien hinzugeben. Er starb 1792, seine vier Söhne führten als Koran-Gelehrte die Tradition indessen fort, und bis heute haben ihre Nachfahren – die al-Asch-Scheichs – in Riad und Mekka als letzte religiöse Instanz das Sagen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2015)

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