Hundert Tage bis Waterloo

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Vor genau 200 Jahren begann der letzte Akt der Französischen Revolution: der Anfang vom Ende des Napoleon Bonaparte. Drei Millionen Menschen starben seinetwegen auf den Schlachtfeldern. Doch seine Ideen lebten weiter. Und prägen Europa bis heute.

Eindringlich, nahezu atemlos hat Stefan Zweig das Ende Napoleon Bonapartes in seiner „Weltminute von Waterloo“ festgehalten: Napoleon steht der britischen Armee unter Wellington gegenüber. Noch hat die Schlacht nicht begonnen. Seinem Marschall Grouchy erteilt Napoleon den Auftrag, den Preußen unter General Blücher nachzujagen, die er tags zuvor besiegt hat.

Grouchy, „ein mittlerer Mann, brav, wacker und nicht mehr“, führt diesen Auftrag aus. In der Zwischenzeit beginnt die Schlacht in Waterloo. Grouchy irrt weiter hinter Blücher her – ohne des Preußen ansichtig zu werden. Grouchys Offiziere hören den Schlachtlärm zu Waterloo und wollen ihn zur Umkehr bewegen, um Napoleon beizustehen. „Eine Sekunde überlegt Grouchy, und diese Sekunde formt sein Schicksal, das Napoleons und das der Welt.“ Grouchy hält am Auftrag fest. „Der subalterne Mensch gehorcht immer dem Vorgeschriebenen und nie dem Anruf des Schicksals“, so Zweig.

Blücher ist mittlerweile in Waterloo eingetroffen – er hat der ihm nachstellenden Truppe Grouchys ein Schnippchen geschlagen. Und entscheidet die Schlacht zugunsten Wellingtons. Napoleon ist verloren. „Sein Reich, seine Dynastie, sein Schicksal ist zu Ende: die Mutlosigkeit eines kleinen, unbedeutenden Menschen hat zerschlagen, was der Kühnste und Weitblickendste in zwanzig heroischen Jahren erbaut.“

Rückkehr aus Elba. Hundert Tage vorher, am 1. März 1815, war Napoleon Bonaparte aus der Verbannung aus Elba zurückgekehrt. Der Marsch nach Paris geriet zu einem Triumphzug. Die Franzosen, unzufrieden über den Verlauf des Wiener Kongresses und mit der Regentschaft Ludwigs XVIII., stellten sich wieder hinter ihren Kaiser. Marschall Ney, der Napoleon im Auftrag des Königs gefangen nehmen sollte, lief zu diesem über.

„Wie ein vollständiges Drama“ sei Napoleons Karriere abgelaufen, befand der Schriftsteller und Kulturhistoriker Egon Friedell: Und den „Moment der letzten Spannung“ bildeten dabei die „hundert Tage“: „Am 11. März 1815 war in Wien großer Ball beim Fürsten Metternich. Plötzlich verbreitete sich die Nachricht: Er ist in Frankreich. Jedermann wusste, wer damit gemeint sei. Der Tanz wurde abgebrochen, die Unterhaltung verstummte.“

Die europäischen Großmächte waren jedoch entschlossen, den korsischen Emporkömmling nicht noch einmal auf dem französischen Thron zu belassen. Am 25. März schlossen Großbritannien, Österreich, Russland und Preußen erneut einen Koalitionsvertrag. Für innenpolitische Reformen – unter anderem einen liberaleren Verfassungszusatz – blieb Napoleon kaum Zeit. Die Zeichen standen auf Krieg. Endstation Waterloo.

Code civil. Doch sein Erbe sollte diese endgültige Niederlage überdauern. Der Code civil, auch Code Napoleon genannt, ist in Frankreich weiterhin in wesentlichen Teilen gültig. Er war die Basis für das Zivilrecht in vielen europäischen Staaten. Religiöse Toleranz, unter anderem die Emanzipation der Juden, die Gleichheit vor dem Gesetz wurden von Napoleon über Europa verbreitet. Mit dem Schwert allerdings. Auch die heutige meritokratische Gesellschaft – Aufstieg durch Leistung – nahm damals ihren Ausgang.

Er, der Gewalttäter, dessen Feldzüge geschätzte 3,5 Millionen Tote gefordert hatten, rettete die liberalen Elemente der Französischen Revolution in die nachfolgende(n) Epoche(n). Oder in den Worten Egon Friedells: „Napoleon garantiert Kultusfreiheit, Handelsfreiheit, unparteiische Rechtspflege, bürgerliche Sicherheit [...], erneuert den Adel und die Auszeichnungen, protegiert aber immer und überall nur das Talent.“ So wie er selbst – als Soldat der Revolution – dank seines Talents ganz nach oben gekommen war.

In Frankreich führte Napoleon den Staatsrat ein, der noch heute existiert, einen Rechnungshof und das metrische System, das dann auch in Rest-Kontinentaleuropa übernommen wurde. Dort wurden dann auch die Armeen nach dem Vorbild der napoleonischen Streitkräfte modernisiert.

Das Charakteristikum der französischen Revolutionsarmee war die „levée en masse“, also die Einziehung aller verfügbaren männlichen Staatsbürger. Diese allgemeine Wehrpflicht war damals neu. Wie auch die Einteilung des Heeres in selbstständige, schlagkräftigere Einheiten: Korps und Divisionen.

„Natürlich war nicht alles gut, was diese prometheische Figur anpackte. Beispielsweise wurde die Saat des ultranationalistischen Bismarck'schen Deutschland gesät, als sich nach der Niederlage bei Jena und Auerstedt 1806 alle Preußen im antinapoleonischen Widerstand zusammenschlossen“, schreibt der britische Historiker und Napoleon-Biograf Andrew Roberts in der „Weltwoche“.

Dabei waren gerade in Deutschland, das in zahlreiche Kleinstaaten zerklüftet war, anfangs viele Intellektuelle überaus angetan vom durchsetzungsstarken Franzosen, der die Werte der Französischen Revolution vor sich hertrug. Hegel sah in Napoleon die „Weltseele zu Pferde“. Goethe nannte ihn „Mein Kaiser“ und traf sich mit ihm 1808 in Erfurt zum Vieraugengespräch. Noch 1815 erklärte Goethe, Napoleon sei „der größte Verstand, den je die Welt gesehen“.

Role Model. Die Herrschaft Napoleons war der letzte Akt der Französischen Revolution. Deren charakteristischer Ablauf sollte sich auch in späterer Zeit in abgewandelter Form wiederholen – zuletzt beim Arabischen Frühling in Ägypten. Vereinfacht gesagt: Das liberale Bürgertum begehrt gegen das Ancien Régime auf. Als sich das Volk hinzugesellt, wird eine Revolution daraus, die jedoch alsbald von radikalen Kräften gekapert wird. Bevor das Land vollends im Chaos versinkt, greift das Militär als ordnende Kraft ein und stellt ihren Fähigsten an die Staatsspitze.

In Ägypten hat auch Napoleons Karriere eine entscheidende Wendung genommen. Nach glänzenden Siegen in Italien wollte der General der Revolutionsarmee eigentlich in England landen. Doch dies schien zu riskant. So begann er einen Ägypten-Feldzug. Obwohl dieser militärisch durchwachsen war – immerhin wurde im Zuge der Expedition der Stein von Rosette gefunden – wurde er bei seiner Rückkehr als Held gefeiert. Im Militär, aber auch bei einzelnen Mitgliedern des Direktoriums, der Regierung nach der jakobinischen Schreckensherrschaft, galt er als Alternative zum bisherigen System. Der Coup d'Etat am 9. November 1799 gelang. Fortan regierten drei Konsuln, primus inter pares war Napoleon Bonaparte. „Die Politiker, die sich mit dem korsischen Offizier verbündet hatten, standen für ein bürgerliches Frankreich, das die Früchte der Revolution in voller Rechtssicherheit genießen wollte“, schreibt der deutsche Historiker Heinrich August Winkler.

Später ließ sich Napoleon per Plebiszit zum Konsul auf Lebenszeit wählen. 1804 krönte er sich selbst in Notre Dame zum Kaiser der Franzosen. Bei der Zeremonie waren etliche, die noch wenige Jahre zuvor die Hinrichtung von König Ludwig XVI. betrieben hatten. An die Stelle der „permanenten Revolution“, so Karl Marx, setzte Napoleon nun „den permanenten Krieg“.

Es sollte bis zum Russland-Feldzug 1812 gut gehen. Die größte Armee, die Europa bis dahin gesehen hatte, kehrte stark dezimiert von dort zurück. Die „Völkerschlacht“ von Leipzig 1813 führte dann zum – ersten – Sturz Napoleons. Ehe seine Karriere hundert Tage nach der Rückkehr von Elba in Waterloo ein endgültiges Ende fand.

Mit Marschall Grouchy hat sich Stefan Zweig am Ende seiner „Weltminute von Waterloo“ übrigens ein wenig ausgesöhnt: „Und gerade in jener Stunde nach seiner versäumten Sekunde zeigt Grouchy – nun zu spät – seine ganze militärische Kraft. Von fünffacher Übermacht umstellt, führt er – eine meisterhafte taktische Leistung – mitten durch die Feinde seine Truppen zurück, ohne eine Kanone, ohne einen Mann zu verlieren, und rettet Frankreich, rettet dem Kaiserreich sein letztes Heer. Aber kein Kaiser ist, wie er heimkehrt, mehr da, um ihm zu danken.“

Apropos Napoleon Bonaparte

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Napoleon hat folgende Antwort darauf gegeben, wie er seine vielfältigen Tätigkeiten militärischer und politischer Natur unter einen Hut bringt: „In meinem Kopfe sind die verschiedenen Affären fachweise geordnet wie in einem Schrank. Wenn ich eine unterbrechen will, so schließe ich ihr Schubfach und öffne das einer anderen. Sie geraten nie durcheinander, sie verwirren mich nicht und ermüden mich nicht durch ihre Vielfältigkeit. Will ich schlafen, so schließe ich alle Schubfächer und bin sofort eingeschlummert.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.03.2015)

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