Zeitenwende 1989/90: Perestroika beendet den bequemen Stillstand

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Vor 25 Jahren war im früheren Ostblock kein Stein mehr auf dem anderen. Eine neue Weltordnung formierte sich. Nicht alle waren glücklich.

Vor 25 Jahren zerbrach das kommunistische System nach Sowjet-Muster im Osten Europas. Das breite Glacis mit Satellitenstaaten, das Josef Stalin ab 1945 zur Absicherung der Sowjetunion erzwungen hatte, ging verloren. Der Westen war im Vormarsch. Im März 1990 waren die Würfel für eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten schon gefallen, auch wenn es noch intensiver Verhandlungen bedurfte, die Helmut Kohl und sein Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble souverän beendeten.

So sah die politische Lage vor 25 Jahren aus: Kein osteuropäisches Regime des sowjetischen Blocks hatte das atemberaubende Jahr 1989 überlebt. In Polen war eine demokratisch gewählte Regierung an der Macht. In Ungarn hatten die Kommunisten den Weg zu freien Wahlen im März 1990 geebnet.

In der DDR hatte die Bevölkerung die SED-Diktatur beseitigt, die Berliner Mauer geöffnet und den Slogan „Wir sind das Volk“ in den Ruf nach Wiedervereinigung verwandelt: „Wir sind ein Volk!“

Die Bulgaren hatten den KP-Dinosaurier Todor Schivkoff gestürzt und bereiteten die ersten freien Wahlen für den Juni 1990 vor. Auch die Tschechoslowakei stand nach ihrer „Samtenen Revolution“ vor den ersten Wahlen – ebenfalls im Juni.

Und Rumänien? Dort herrschten noch Chaos und Rivalität zwischen den Machteliten nach der Hinrichtung des KP-Diktators Nicolae Ceauşescu und seiner Ehefrau am 1. Weihnachtsfeiertag des Jahres 1989.

Wie berichtet, hat ein österreichisch-russisches Historikerteam die Moskauer Dokumente über diese Zeitenwende in der Weltgeschichte publiziert (Stefan Karner, Mark Kramer, Peter Ruggenthaler u. a.: „Der Kreml und die Wende 1989“, Studienverlag 2014). Das letzte Protokoll ist ein Tagebucheintrag von Tejmuraz Stepanov-Mamaladze am 31. Dezember 1989. Der Georgier diente seinem Landsmann Außenminister Eduard Schewardnadse bis zu dessen Rücktritt 1991.

Schewardnadses engster Berater und Sprecher sieht in dieser privaten Notiz bereits das Ende der Sowjetunion heraufdämmern. Die Perestroika Gorbatschows habe „Kräfte freigesetzt, mit denen nicht einmal der Baumeister selbst zurechtkommt“.

„[. . .] Fassen wir die Ergebnisse zusammen. Auch wenn es schwer ist. Aber man kann nichts machen – so war das Jahr: Das Rad der Geschichte ächzte, knirschte, eierte, stotterte dahin und plötzlich drehte es sich rasend. Wie 1789, 1848 oder 1917 [. . .] Die Berliner Mauer wird nach und nach in Souvenirstücken abgetragen, aus dem Metall der Raketen gießt man Gedenk-Medaillen, die Militärbehörde verramscht das eigene Spezialgerät; die Dissidenten von gestern kommen aus dem Untergrund heraus in den Glanz barocker Paläste und gotischer Schlösser, nehmen die Posten von Premierministern und Präsidenten ein [. . .]

Wir haben die Truppen aus Afghanistan abgezogen und damit das ,heilige Recht‘ des Sozialismus stalinistischer Zeiten begraben, das Schicksal der Völker nach deren eigenen Vorstellungen zu lenken.

Wir haben klar und deutlich die Invasion im Dezember 1979 als Fehler anerkannt und verurteilten sie, wenn auch mit Verspätung, wofür es gravierende Gründe gab. Auch verurteilen wir die Niederschlagung des ,Prager Frühlings‘ 1968 durch Truppen des Warschauer Pakts.

Nachdem wir nicht mehr der Gendarm Europas sind, bewerten wir den Molotow-Ribbentrop-Pakt mit seinem geheimen Zusatzprotokoll unzweideutig, obwohl diese Revision der Geschichte die innere Lage im Land nicht erleichterte.

[. . .] Es zerbricht das mit eisernen Bändern des Stalinismus umschlungene Fass des Vielvölkerreiches. Die Partei, die nicht in der Lage ist, den Parolen ihrer Führer zu folgen, gibt sich zerstörerischen Attacken hin. Die Lähmung erfasste die Armee und die Staatssicherheitsdienste, es reift in ihnen die Unzufriedenheit mit den Führungsriegen, die sie der Willkür des Schicksals ausgeliefert hatten. Das organisierte Verbrechen nimmt zu, Fahndung, Gericht und Bestrafung hingegen kommen damit nicht zurecht.

Die Macht ist machtlos. Das Gesetz wird nicht vollzogen.
[. . .] ,Die Freiheit marschiert auf dem Planeten umher und die restlichen Tyrannen zittern‘, schreibt ,US News & World Report‘. Ich bin kein Tyrann, zittere aber trotzdem. Wie der Franzose M. Rocard sagte, hat der Fall des Eisernen Vorhangs jenen Komfort zerstört, in dem beide Seiten lebten.

Die Perestroika machte Schluss mit dem ,Komfort‘ des Stillstands, in dem bei aller Stagnation das Leben – meines und der mir Nahestehenden, meines Volkes – durch nichts bedroht wurde . . .“

Die raue Gegenwart hatte das Imperium eingeholt. So wird es auch der KGB-Reserveoffizier Wladimir Putin gesehen haben, der damals als Hochschulassistent in Leningrad arbeitete, weil der Geheimdienst Überkapazitäten hatte. 1991 holt ihn Bürgermeister Sobtschak als Gehilfen – damit begann der raketenhafte Aufstieg Putins an die Staatsspitze. Nicht nur für ihn wird der nachgiebige und fast selbstmörderische Kurs Gorbatschows eine Katastrophe bedeutet haben. Eine Niederlage, die es für ihn unter allen Umständen wettzumachen galt. Und gilt.

Nächsten Samstag: Thomas Chorherrs Erinnerungen: „Dabei gewesen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2015)

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