Der weinerliche Eiserne, der die Deutschen eint – und spaltet

Otto von Bismarck
Otto von Bismarck (c) Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst - Zentralbild (Bild 183) / Wikipedia
  • Drucken

Noch heute fasziniert, wie dieser preußische Adelige Politik gemacht hat: pragmatisch, mit kühlem Kopf und Weitsicht. Zugleich war er ein Hypochonder, ein "hysterischer Koloss".

„Gib', dass ich meine Johanna wiedersehe“: In seinem letzten Gebet wünscht er sich zu seiner Frau. Dann stirbt der erste deutsche Reichskanzler 1898 alt und verbittert. Im deutschen Reich erheben sich die Bismarcktürme, ein Personenkult bricht sich Bahn, die historische Figur weicht dem Mythos, nein, den Mythen. Die Liberalen instrumentalisieren den Gründer ihres Nationalstaats, dann verklären die Nazis den 1,90 Meter großen Mann zum germanischen Hünen. Nach Kriegsende wird er als Wegbereiter des Dritten Reichs verteufelt, zeitweilig wieder als deutscher Einiger gefeiert. Und heuer, zum 200.Geburtstag? Könnte das Bild des Realpolitikers dominieren, der kühl abgewogen hat, was im deutschen Interesse liegt. Die ersten Vergleiche mit Angela Merkel sind schon im Umlauf. Wie sich die Deutschen Bismarcks erinnern, sagt oft mehr über ihr Seelenleben aus als über den preußischen Junker.

Die Gegensätze in der Person des Otto von Bismarck laden freilich ein zur Verklärung: Da ist der liebende Ehemann, der seine Gegner bis ins Grab verfolgt; der maßvolle Realpolitiker, dem mitunter jedes Maß für Form und Mitte fehlt – auch privat: Bismarck gibt sich regelrechten Fressorgien hin, er raucht wie ein Schlot und säuft. Der kräftige, Eiserne Kanzler ist auch Hypochonder, einen „hysterischen Koloss“ nennt ihn Thomas Mann. Bismarck eint das deutsche Reich nach außen mit drei Kriegen, mit „Blut und Eisen“. Und spaltet diesen Nationalstaat im Innern.

Der Kongress tanzt. „Politik ist keine Wissenschaft [...] sondern eine Kunst“, erklärte dieser Bismarck. Und er war ihr bedeutendster Künstler. Im 19.Jahrhundert. Seine Bühne wird just in seinem Geburtsjahr gezimmert. 1815 tanzt in Wien der Kongress und tariert das Gleichgewicht der Mächte aus, während am 1. April Otto Eduard Leopold von Bismarck in der preußischen Altmark als Sohn eines adeligen Gutsbesitzers und einer kalten ehrgeizigen Mutter aus bürgerlichem Haus zur Welt kommt. Früh zeigt sich Bismarcks Wille zur Macht. „Ich will aber Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine“, erklärt der junge Jurist, warum er 1837 den Job als Regierungsreferendar an den Nagel hängt und lieber einer „bildhübschen Engländerin“nachreist. Bismarck häuft in diesen Jahren Frauengeschichten und Spielschulden an (die er auf dem väterlichen Gut abträgt). Zeit seines Lebens bleibt er dem adeligen Landleben verhaftet.

Der junge Bismarck macht sich im preußischen Landtag als konservativer Heißsporn einen Namen, liefert sich 1852 sogar ein Pistolenduell mit einem Liberalen. Die Gefallenen der Märzrevolution 1848 verabscheut er: „Mein Herz schwillt von Gift, wenn ich sehe, was sie aus meinem Vaterland gemacht haben, diese Mörder, mit deren Gräbern die Berliner noch heut Götzendienst treiben.“ 1862 greift Wilhelm I. im Verfassungsstreit mit dem preußischen Landtag auf diesen überzeugten Monarchisten zurück, der ihm verspricht, gegen das liberale Parlament zu regieren. „Lieber mit dem Könige untergehen, als Eure Majestät im Kampf gegen die Majorität im Stich lassen.“

Doch dieser neue Ministerpräsident ist für seine konservativen Freunde zugleich verstörend pragmatisch in der Wahl seiner Mittel. In dem nationalistischen „Strom der Zeit“ sieht der Demokratieverächter eine Chance, einen Teil der Liberalen mit seiner Autokratie zu versöhnen und zugleich Preußens Königreich zu erweitern. Dieser Bismarck weiß um die Grenzen seiner Macht, und kann sie deshalb ausreizen. Oder, wie er es ausdrückt: Man müsse abwarten, bis man die Schritte Gottes durch die Ereignisse hallen höre, „um dann vorzuspringen und den Zipfel seines Mantels zu fassen“.

1864 ist so ein Augenblick: In einem verworrenen Konflikt mit Dänemark um Schleswig und Holstein schreiten Preußen und Österreich ein. Bismarck macht also den „strategischen Gegner Österreich“ kurzzeitig zum „taktischen Verbündeten“, wie Biograf Ernst Engelberg staunend festhält. „Eine diabolische Kombination“. Wobei Bismarcks tatsächlicher Anteil an den Einigungskriegen bis heute umstritten ist. 1866 jedenfalls entbrennt just an der Frage der Verwaltung von Schleswig und Holstein der Krieg um die deutsche Hegemonie. Schon 1853 schrieb Bismarck: „Für beide ist kein Platz nach den Ansprüchen, die Österreich macht [...] Wir atmen einer dem anderen die Luft vor dem Munde fort, einer muß weichen oder vom anderen gewichen werden.“ Österreich wird in der Schlacht bei Königgrätz „gewichen“, Norddeutschland vereint im gleichnamigen Bund. Die kleindeutsche Lösung.


Einigung von oben. Nun blitzt Bismarcks Weitsicht auf: Er fleht seinen König an, nicht in Wien einzumarschieren und kein Stück aus dem Vielvölkerstaat herauszureißen. Nur keine unnötige Demütigung. Die Erneuerung guter Beziehungen sollte man sich doch als Schachzug offenhalten, mahnt der Realpolitiker. Und erleidet einen seiner Weinkrämpfe. Preußens König WilhelmI. ist umgestimmt. „Es ist nicht leicht, unter einem solchen Kanzler Kaiser zu sein“, stöhnt der Monarch später einmal.

1870 hört Bismarck wieder Gottes Schritte, als ein Streit um Spaniens Thronfolge mit Frankreich aufzieht. Der dritte und letzte Einigungskrieg 1870/71 folgt. Im Spiegelsaal von Versailles (eine unnötige Demütigung Frankreichs, wie sie Bismarck sonst zu vermeiden suchte) wird das Deutsche Kaiserreich ausgerufen. Auch die süddeutschen Staaten sind an Bord. Der Machiavellist Bismarck hat Bayerns König LudwigII. bestochen. Dass die deutsche „Einigung von oben“ erfolgt, erweist sich Jahrzehnte später als schwere Hypothek. Die Herrschaft des neuen Reichskanzlers befeuert die deutsche Obrigkeitstreue, den Hang zum Personenkult.

Um Europas Großmächten die Angst vor dem 540.000 Quadratkilometer großen, 40 Mio. Einwohner zählenden Riesen zu nehmen, der im Herzen Europas erwachsen ist, erklärt Bismarck das Reich für „saturiert“. Er schreit seine defensiven Absichten in die Welt hinaus. Oberstes Ziel ist es, das auf Revanche sinnende Frankreich, das Bismarck ja auch um Elsass und Lothringen erleichtert hat, in Schach zu halten. Und Schach spielen lässt sich nicht, „wenn einem 16 Felder von 64 von Hause aus verboten sind“. Interessen leiten diese Außenpolitik, nicht Prinzipien. Der Realpolitiker formuliert später das Ziel einer Gesamtsituation, „in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen“– und zugleich durch Interessengegensätze untereinander von Koalitionen gegen das Deutsche Reich abgehalten sind. So rät er durchtrieben, die „orientalische Wunde offenzuhalten“ und knüpft ein Netz aus teils geheimen Bündnissen mit Wien, St. Petersburg und Rom.

„Europa“, prahlt Bismarck 1872, werde von ihm „stets in zehn bis 15 Minuten beim ersten Frühstück abgemacht, gekämmt und gebürstet“. „Keine einzige schlaflose Stunde“ mache ihm die Außenpolitik. Dabei schläft er nicht viel. Wegen der inneren „Reichsfeinde“ liegt der Kanzler mit den tiefen Tränensäcken oft bis in die Morgenstunden wach. Die ganze Nacht habe er gehasst, sagt er einmal. Er jagt den politischen Katholizismus. Die Einführung der Zivilehe überdauert diesen „Kulturkampf“, der endet, als sich Bismarck, wieder Pragmatiker, von den Nationalliberalen weg- und der katholischen Zentrumspartei zuwendet. Die „konservative Wende“ gipfelt in einer Schutzzollpolitik. Damit verprellt er ungeschickt das exportabhängige Russland.

Im Innern wendet sich Bismarck einem anderen „Reichsfeind“ zu. Gegen die Sozialdemokraten, diese „Ratten“, führt er einen Vernichtungskrieg, in dessen Verlauf paradoxerweise ein moderner Sozialstaat entsteht. Das Grundgerüst seiner Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung(Selbstverwaltung, Arbeitnehmer- und -geberbeiträge) steht noch heute. Für Bismarck sind die Gesetze das Zuckerbrot, das die Arbeiter von der Sozialdemokratie fernhalten soll. Die Peitsche bilden die Sozialistengesetze. Die Partei wird praktisch verboten. Am Ende will Bismarck nur noch die Peitsche, hegt Staatsstreichgedanken – ein Auslöser des Bruchs mit dem jungen Wilhelm II., der ihn 1890 entlässt. In die Bitterkeit.

Eine britische Karikatur zeigt Bismarck als Lotsen, der von Bord geht. Vielleicht gerade rechtzeitig. Denn seine Zeit neigt sich dem Ende zu, wie Biograf Christoph Nonn herausarbeitet: Die Massenpolitik ist im Begriff, die Geheimdiplomatie „großer Männer“ abzulösen, die Industrie überholt zur Jahrhundertwende die Landwirtschaft, Bismarcks „rote Reichsfeinde“ steigen weiter auf. Kurz: Das agrarisch-konservative Weltbild des Preußen steht bald in Flammen. Und selbst der Staatskünstler Bismarck hätte diesen Brand nicht zu löschen vermocht.

OTTO VON BISMARCK

Karikatur zur Entlassung: „Der Lotse geht von Bord.“

1. April 1815:Geburt in Schönhausen, ab 1821 schulische Ausbildung in Berlin.

1832: Studium an der Uni Göttingen.

1836/37: Regierungsreferendar in Aachen.

1849: Wahl in die Zweite Kammer des Preußischen Landtags.

1851: Gesandter beim Bundestag, dann ab 1859 in Russland und schließlich in Paris.

1862: Ministerpräsident Preußens und ab 1867 auch Kanzler des norddeutschen Bunds.

1871: Erster Reichskanzler des Deutschen Reichs bis 1890. Erhebung zum Fürsten.

30. Juli 1898: Der dreifache Vater stirbt auf dem Landsitz in Friedrichsruh.

Buchtipps: Ernst Engelberg, Achim Engelberg: „Bismarck: Sturm über Europa“ (Siedler). Christoph Nonn: „Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert“ (C.H. Beck)
Archiv

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.