Gallipoli: Die verlorene Schlacht als Geburtsstunde Australiens

Viele Australier pilgern jedes Jahr in die Türkei.
Viele Australier pilgern jedes Jahr in die Türkei.(c) imago stock&people (imago stock&people)
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Aus australischer Sicht war die Schlacht von Gallipoli 1915 gegen die Türken ein Desaster. Aber sie wirkte identitätsstiftend und machte aus ehemaligen Briten endgültig Australier.

Die am 25. April 1915 beginnende Schlacht von Gallipoli war aus militärischer Sicht ein Desaster für Australien. Das britische Oberkommando schickte das "Australian and New Zealand Army Corps" (ANZAC) in unwegsames Gelände - insgesamt starben in dem neun Monate andauernden Stellungskrieg mehr als 44.000 alliierte Soldaten, darunter 8709 Australier und 2721 Neuseeländer. Dennoch wird der 25. April seitdem in beiden Ländern als ANZAC-Day gefeiert. Für die meisten Australier und Neuseeländer ist dieser Feiertag wichtiger als der Nationalfeiertag. Gallipoli ist nicht irgendeine Schlacht, sondern Symbol der australischen und neuseeländischen Nationsbildung. 1916 wurde sogar darüber diskutiert, die geplante neue Hauptstadt nicht Canberra, sondern Anzac zu nennen.

>>> Gallipoli: Der türkische Mythos

Gallipoli war nicht das blutigste Kapitel der australischen Militärgeschichte. Das war die Schlacht im französischen Fromelles, als am 19. Juli 1916 mehr als 5000 australische Soldaten an einem Tag ihr Leben ließen. Aber Gallipoli war die erste große Militäraktion im Ersten Weltkrieg, an der Australien und Neuseeland eigenständig - nicht als britische Kolonie - beteiligt waren. Es war für den seit 1901 bestehenden Australischen Bund die Gelegenheit, Großbritannien tatkräftig Bündnistreue zu beweisen. Freiwillige wurden mit Slogans wie "Kostenloser Trip nach Europa" geködert und rekrutiert.

100 Jahre Schlacht von Gallipoli.
100 Jahre Schlacht von Gallipoli.(c) EPA (Paul Miller)

"We're All Australians Now"

Der Zusammenhalt der in aussichtsloser Lage kämpfenden "Underdogs" gilt als Sinnbild des australischen Charakters. "Sie starben, damit wir in Frieden leben können", lernen die australischen Schüler bis heute. Mit Gallipoli fangen also viele Australier an, sich nicht länger als Briten zu fühlen. Eine australische Identität beginnt sich zu bilden, plötzlich gibt es einen eigenen nationalen Narrativ. Der australische Schriftsteller Banjo Paterson, dessen Bildnis auch die australische 10-Dollar-Banknote ziert, schrieb folgendes Gedicht, das verdeutlicht, dass Gallipoli die Geburtsstunde Australiens als eigenständige Nation ist:

We're All Australians Now

... From shearing shed and cattle run,
From Broome to Hobson's Bay,
Each native-born Australian son,
Stands straighter up today ...

The old state jealousies of yore
Are dead as Pharaoh's sow,
We're not State children any more
We're all Australians now ..!

The mettle that a race can show
Is proved with shot and steel,
And now we know what nations know
And feel what nations feel ...

Australische Mythen im Faktencheck

Natürlich baut dieser australische Narrativ auch auf Mythen auf. So fühlen sich viele der australischen Soldaten - auch "digger" genannt - eher von britischen Generälen denn den Türken geschlagen. In einem Faktencheck hat das die australische Nachrichtenseite abc.net.au zu widerlegen versucht.

ANZAC-Truppen im Dezember 1915 in Gallipoli.
ANZAC-Truppen im Dezember 1915 in Gallipoli.(c) Imago

Das beginnt bei der weit verbreiteten Vorstellung, die australischen Soldaten wären an der falschen Stelle abgesetzt worden. "The damn fools have landed us in the wrong place!", soll ein australischer Offizier die Briten beschuldigt haben. Der Historiker Peter Stanley von der University of New South Wales hält das für "nicht korrekt". Diese Legende halte sich zwar seit Jahrzehnten, aber die Australier seien genau am richtigen Punkt abgesetzt worden. Schiefgelaufen seien die Dinge erst nach der Landung.

Simpson und der Esel

Auch seien nicht die britischen Generäle für die Niederlage in Gallipoli verantwortlich. Tatsächlich seien den ANZAC-Truppen nur rund 80 türkische Verteidiger gegenübergestanden, die rasch dezimiert wurden. Doch die angreifenden Australier hätten es verabsäumt, nachzusetzen und rasch Land zu gewinnen. Die Befehle zur Eroberung eines Hügels sieben Kilometer im Inselinneren seien klar gewesen, aber die australischen Befehlshaber seien nervös geworden und hätten ihren Soldaten befohlen, sich einzugraben - tatsächlich wären sie die restliche Schlacht nicht weiter vorgedrungen. Doch schon der damalige australische Premierminister Billy Hughes gab den Briten die Schuld für das militärische Desaster.

Gern erzählt wird auch die Geschichte von John Simpson Kirkpatrick, der mit seinem Esel - als Transportmittel - verwundete Soldaten aus der Schusslinie rettete. Vier Wochen nach der Landung wurde er durch einen Scharfschützen getötet. Was viele Australier nicht wissen: Simpson war ein Brite, der sich als Soldat nach Europa meldete, in der Hoffnung, bald nach London heimzukehren. Es sei auch nicht erwiesen, dass Simpson überhaupt Leben gerettet habe, sagt der australische Historiker Ashley Ekins. Die meisten Männer, die er zurückbrachte, hätten Beinverletzungen aufgewiesen.

"Dawn Service" als jährliches Ritual

"Wer die Australier verstehen will, muss uns am Anzac-Day beobachten", sagte einmal die ehemalige australische Premierministerin Julia Gillard. Tatsächlich pilgern Jahr für Jahr tausende Australier zur türkischen Halbinsel Gallipoli, die heute ein Nationalpark ist, um ihrer Toten zu gedenken. Das sogenannte "Dawn Service" im Morgengrauen - um 4:30 in der Früh, als zu jenem Zeitpunkt, als die Truppen an der türkischen Küste landeten - wird live nach Australien übertragen.

Ein Bub vor der Gallipoli-Gedenkstätte.
Ein Bub vor der Gallipoli-Gedenkstätte.(c) Reuters (Osman Orsal)

Längst ist aus der Erinnerung an Gallipoli auch ein großes Geschäft geworden. Kreuzfahrten und Schlachtfeld-Touren lassen Gallipoli zu einem "militärischen Halloween" verkommen, wie der australische Afghanistan-Veteran James Brown laut "Deutschlandfunk" kritisiert. "Die Legende der Gallipoli-Soldaten wird immer wieder neu erzählt, aber Australiens jüngste Militäreinsätze in Ost-Timor, im Irak und in Afghanistan werden ignoriert. Der größte Skandal aber ist, dass wir jährlich dreimal so viel für Gedenkfeiern ausgeben wie für die medizinische Versorgung von Soldaten, die heute unter post-traumatischem Stress leiden."

Der Mythos ist weiß und männlich

Immer mehr Kritik wird daran laut, dass es sich um einen männlichen und weißen Mythos handelt. Einige Australier haben auch Probleme damit, dass ihr Land zu den Angreifern zählte und sich die Türken nur verteidigten. Zu den namhaftesten Kritikern zählt der ehemalige australische Premierminister (1991-1996) Paul Keating. Für ihn gebührt die größte Ehre den während des Zweiten Weltkriegs in Papua-Neuguinea - also im Vorhof Australiens - im Kampg gegen Japan gefallenen Soldaten. "Sie starben bei der Verteidigung Australiens und der Zivilisation sowie deren darauf aufbauenden Werten. Deshalb sind die Schlachten in Papua-Neuguinea aus australischer Sicht die wichtigsten, die jemals gekämpft wurden."

Gallipoli als Film

Bereits 1981 hat der australische Regisseur Peter Weir ("Der Club der toten Dichter", "Die Truman Show") der Schlacht mit "Gallipoli" (Mel Gibson in der Hauptrolle) ein filmisches Denkmal gesetzt, das sich auch nachhaltig in das Bewusstsein der Australier festgesetzt hat.

Zum 100-jährigen Jubiläum der Schlacht hat sich nun die australische Schauspielikone Russell Crowe auf den Regiesessel gesetzt und "Das Versprechen eines Lebens" ("The Water Diviner") mit sich selbst in der Hauptrolle gedreht. Der Film kommt am 7. Mai in unsere Kinos.

Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Keating vergisst zu erwähnen, dass Australien in Papua-Neuguinea als Kolonialmacht auftrat. Historiker verweisen in diesem Zusammenhang auf die umstrittenen "Higaturu Hangings" im Jahr 1943, Hinrichtungen von Einwohnern Papua-Neuguineas durch Australier. Diese sind den wenigsten Australiern bekannt.

Die Legende von Eureka

Der Journalist und Autor Peter FitzSimons erklärt in einem aktuellen Beitrag im "Sydney Morning Herald", warum der Gallipoli-Mythos dennoch weiter seine Berechtigung hat: "Die tragische Wahrheit ist, dass vor 100 Jahren die vorherrschende Meinung war, dass eine Nation keine richtige Nation war, ehe Blut vergossen wurde - sowohl das unsere und besonders das unserer Feinde."

FitzSimons glaubt aber gleichzeitig, dass auf lange Sicht eine andere Legende Bestand haben wird, nämlich jene des bewaffneten Aufstands von Goldsuchern gegen die staatliche Autorität im australischen Ort Ballarat 1854, besser bekannt als "Eureka". Die britische Armee und Polizeitruppen schlugen den Aufstand blutig nieder, 22 Aufständische wurden getötet. Die Ereignisse von Eureka mündeten jedoch in der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts und schufen jene Rahmenbedingungen, die entscheidend dazu beitrugen, dass Australien ein souveräner Staat wurde.

>>> zum "Deutschlandfunk"-Bericht

>>> zum "Sydney Morning Herald"-Kommentar

Schlacht von Gallipoli

Im Ersten Weltkrieg (1914-1918) stand anfangs die „Entente“ bestehend aus Frankreich, Russland und Großbritannien dem „Zweibund“ aus Deutschland und Österreich-Ungarn gegenüber. Im Verlauf der Kämpfe traten immer mehr Staaten in den militärischen Konflikt ein, auf Seite der Alliierten etwa Italien, auf Seite der Mittelmächte das Osmanische Reich und Bulgarien.

Im Frühjahr 1915 wurde die Meerenge bei der türkischen Halbinsel Gallipoli zum Austragungsort von Kämpfen. Die Entente-Mächte wollten diese besetzen und sie als Ausgangsbasis für die Eroberung der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel nutzen. Am 18. März 1915 begannen die Alliierten eine Seeoffensive, die von den Osmanen mit deutscher Hilfe gewonnen werden konnte. Am 25. April folgte eine Landoffensive. Die Alliierten schickten dabei erstmals auch australische und neuseeländische Soldaten in den Kampf. Den Türken gelang die erfolgreiche Abwehr, es folgte ein zermürbender Stellungskrieg. Den letzten Versuch, Gallipoli zu gewinnen, wagten die Alliierten am 21. August mit den Angriffen auf Hügel 60 und den Scimitar-Hügel – abermals erlitten sie eine Niederlage. Ihre letzten Einheiten verließen Gallipoli am 9. Jänner 1916.

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