Ausstellung: Als Wien seine Wälle zur Welt schleifte

NATIONALBIBLIOTHEK ZEIGT AUSSTELLUNG ´WIEN WIRD WELTSTADT´
NATIONALBIBLIOTHEK ZEIGT AUSSTELLUNG ´WIEN WIRD WELTSTADT´(c) APA/UNBEKANNT (UNBEKANNT)
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Mit welcher Dynamik sich die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte, welche Dimensionen die Umwälzungen hatten, wird im Prunksaal der Nationalbibliothek eindrucksvoll vor Augen geführt.

Der Bau der Wiener Ringstraße, die am 1. Mai 1865 feierlich eröffnet wurde, als viele ihrer Prachtbauten noch gar nicht verwirklicht waren, hat der Hauptstadt des Habsburgerreiches ein völlig neues Aussehen gegeben. Internationalität sogar: Wien wurde Großstadt. Nicht alle Bürger aber sahen mit Begeisterung, dass die Basteien fielen, dass man die einst schützenden Mauern um die Innenstadt schleifte, das umliegende Glacis kompromisslos für die Stadterweiterung nutzte. 1875 schrieb Heinrich Ritter Ambrozy: „Wo bist du, mein altes, prächtiges Wien, wie ich es einst kannte? Wo ist die herrliche glückliche Bürgerschaft jener Zeit?“ Vor allem Adelige und Kleinbürger sahen die Demolierung des Alten mit Skepsis. Ganz anders tönte damals „Die Presse“. Bereits zu Baubeginn stand dort am 29. Dezember 1857, Wien trete „erst von heute an thatsächlich in die Reihe der Großstädte. Der kaiserliche Federzug, welcher diesen engen Steingürtel fallen macht, in dem das Herz eines verjüngten und mächtig aufstrebenden Staatsorganismus kaum mehr zu pulsiren vermochte, wird dadurch zu einem der folgenreichsten der gegenwärtigen Regierung.“

Boulevard statt Wall

Dieses Großprojekt, das Kaiser Franz Joseph damals beschloss, war tatsächlich radikal. Das alte, befestigte Wien gab seinen Schutzwall auf, zugunsten eines großzügigen Boulevards, der den Kern der Stadt mit den Vorstädten verband. In einer Ausstellung im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek offenbart sich, welche Dimension diese Umwälzungen hatten, mit welcher Dynamik sich Wien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte: die Eisenbahn, die Wienfluss-Regulierung samt Stadtbahnbau, die Hochquellwasserleitungen, der Boom der Ziegeleien am Wienerberg, die Salons und die sozialen Fragen – immens viel an Information wurde in diese Schau mit ihren 16 Stationen verpackt.

Ausgehend vom Biedermeier bis hin zum Fin de Siècle dienen Maler, Fotografen, Architekten, Autoren, Politiker als Zeitzeugen – Menschen aus allen Schichten. Man kann Wien vor, während und nach dem Bau der Ringstraße studieren. Der autodidaktische Maler Emil Hütter (1835–1886) etwa hat in mehreren Illustrationen das Aussehen der Stadt vor dem Fall der Basteien festgehalten. Sein Panorama ist als Leporello im Besitz der ÖNB. Ein vergrößertes Faksimile steht im Zentrum der Schau, rings um die Statue Kaiser Karl VI., der dabei wirkt, als ob er seine schützende Hand auf dieses Stadtbild halte. Man umrundet es, als spaziere man auf dem Glacis und an der Donau.

Auch Fotografien vom Zustand der Inneren Stadt vor der Schleifung gibt es, etwa das Fischertor. Man sieht die Wiener Staatsoper bei Erreichen der Dachgleiche, das Parlament während der Fundamentlegung in den Siebzigerjahren, und erkennt die gewaltigen Ausmaße dieser Bauten. Unternehmer werden präsentiert, etwa der Bankier Friedrich Schey von Koromla, ein großer Förderer des Musikvereins und des Künstlerhauses, der in einem der schönsten Ringstraßenpalais residierte, oder der böhmische Großindustrielle Friedrich Franz Josef Leitenberger, ein Mäzen bildender Künstler, der ein Palais am Parkring besaß. Als Kontrast dazu die Arbeiterschaft, draußen am Linienwall. Gegensätzlich sind auch die handelnden Politiker – Karl Lueger versus Victor Adler.

Allerlei Sensationen sind dokumentiert, das revolutionäre Jahr 1848, die Weltausstellung von 1873, die Brandkatastrophe des Theaters am Schottenring, das 1881 beim Anzünden der Bühnenbeleuchtung in Brand geriet. 384 Menschen starben. Eingestreut in die Schau sind eine Menge Karikaturen, Zeitungsberichte, Stadtpläne, Skizzen und Pläne, sogar die Alternativen zu später verwirklichten Projekten. Auf einem Monitor werden zum Schluss wichtige Gebäude in Überblendungen einst und jetzt gezeigt.

Mark Twain: „Was für ein Umzug!“

Die Ringstraße eignete sich von Anfang an ideal für Aufmärsche, wie der Makart-Festzug von 1879 beweist – und auch ein Eintrag von Mark Twain in seiner erst seit 2010 freigegebenen „geheimen Autobiografie“. Der US-Schriftsteller hielt sich von 1897 bis 1899 hier auf. Würdig blickt er in einer Vitrine im Prunksaal auf einem Foto des Ateliers Adéle in die Kamera. Er schreibt, dass er von einem Balkon an der Ecke zum Parkring aus „einen meilenweiten Blick die Prachtstraße hinunter“ hatte, und schwärmt: „Was für ein Umzug! Um nichts in der Welt hätte ich ihn verpassen mögen.“ Sämtliche Jahrhunderte seien an ihm vorbeigezogen.

AUSSTELLUNG

Bis 1. November 2015 ist die Ausstellung „Wien wird Weltstadt. Die Ringstraße und ihre Zeit“ im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek zu sehen. Kuratorin Michaela Pfundner hat auch den Katalog herausgegeben (Metro Verlag, 29,90 €). Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10–18 Uhr, Donnerstag 10 bis 21. Von Juni bis September täglich geöffnet. Josefsplatz 1 , 1010 Wien.

„Die Presse. Geschichte“. Soeben ist in dieser Reihe der Band „Die Ringstraße. Geschichte eines Boulevards“ erschienen. (Hrsg. Günther Haller, 8,90 €, für Abonnenten 6,90 €). Bestellung unter diepresse.com/geschichte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2015)

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