1965: "Satisfaction“, eine renitente Hymne rast um die Welt

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1965: "Satisfaction“, eine renitente Hymne rast um die Welt(c) imago stock&people (imago stock&people)
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Vergesst die 68er, die Sixties-Revolte begann im Sommer 1965. Vor 50 Jahren hörte die Welt zum ersten Mal „Satisfaction“. Der Song explodierte wie eine Granate, es war das wildeste und beste Jahr der Rolling Stones.

„Es war der Sommer von ‚Satisfaction‘ – man hörte die Stones aus jeder Tür, jedem Fenster, jedem Zimmer und jedem Auto, du wusstest, dass es ‚Satisfaction‘ war, bevor die ersten paar Noten gespielt waren.“ So brachte es Andy Warhol auf den Punkt. Man kann es nachlesen in „POPism“, seiner Hymne auf die New Yorker Kultur der sechziger Jahre, als „sogar die steifen europäischen Typen zugeben mussten, dass Pop-Art Teil der Weltkultur geworden war.“ Seine, Warhols, Generation verachtete Schlaf, liebte Aufputschmittel. Die Röcke wurden kürzer, Mary Quant stellte den Minirock vor, neue halluzinogene Drogen kursierten, bei den Hollywoodparties von Zsa Zsa Gabor lernten die Stars LSD kennen. Das Leben: eine einzige Party. Der New Yorker Stromausfall von 1965: eine einzige große Liebesnacht in Zeiten des Blackouts; der Besuch von Papst Paul VI. in New York: eine religiöse Party.

Zugleich gaben die Jungen unmissverständlich ihren Frust und Überdruss, der sie beschäftigte, zu verstehen: Wir werden alles anders machen als die Alten. Es war das Jahrzehnt der berühmten Morde: die Kennedys, Malcolm X, Martin Luther King. Durch die grassierende Beatlemania wurden „die Gefühle von Hoffnung und schierer Unmittelbarkeit wiederhergestellt, die viele für immer tot geglaubt hatten, als Kennedy starb.“ (Charles Kaiser) In den Charts tauchten jetzt Songs auf, die sich mit Atombomben, Grundrechten und rassistischen Übergriffen gegen Schwarze beschäftigten, der Krieg in Vietnam wuchs sich aus. Irgendwann wurde dann der jugendliche Traum von einer besseren Welt zur Revolte, die Marseillaise dazu war „Satisfaction.“

Mick Jagger 1965
Mick Jagger 1965(c) Pop / TopFoto / picturedesk.com (Pop)

Rat Pack ade!

Im Sommer 1965 ging es Schlag auf Schlag, jetzt erst, meinte Bob Dylan, endeten die 50er, das Lebensgfefühl: „Busy being born.“ Als hätten sie es geahnt, gaben im Juni die geschniegelten Jazzcrooner Frank Sinatra, Sammy Davis und Dean Martin als Rat Pack ihre Abschiedsvorstellung, zugleich kam „Satisfaction“ heraus.

Mit diesem Song haben die britischen Rolling Stones Amerika endgültig „geknackt“, er wurde zur ersten Nummer-1-Single der Band in den USA (bis 1968 war die Single auf dem Plattenmarkt das Maß aller Dinge). Ging man im Sommer 1965 die Radiosender der Reihe nach durch, konnte es vorkommen, dass man fünf mal unmittelbar hintereinander „Satisfaction“ hörte. Fast gleichzeitig, am 15. Juli, erschien „Like a Rolling Stone“ von Bob Dylan auf dem Plattenmarkt, es wurde sofort in seiner Bedeutung erkannt und trotz der Länge von sieben Minuten ein Hit. Stones und Dylan - das war meilenweit entfernt von den Teenie-Love-Songs der Zeit. Am 6. August erschien dann „Help!“, das fünfte Album der Beatles. Sie feierten in diesem Sommer ihre endgültige Ankunft im Establishment, als durchsickerte, dass sie von Queen Elizabeth II. durch den Orden MBE („Most excellent order oft he British Empire“) hoffähig gemacht werden sollten (wegen Verbesserung der britischen Außenhandelsbilanz!). John Lennon erlitt gerade eine leicht depressive Phase, gepaart mit einer unerwünschten Gewichtszunahme. Help!

Gegenteil der "netten, sauberen Beatles"

Umso leichter für die Stones, ihr rebellisches Image zu festigen und zur Skandalband Nummer eins zu werden. Es bestand keine Gefahr, dass sie wie die Beatles zu Musikern für die ganze Familie entarten würden. „Gleich darauf erlebte ich wieder / wie ich meine Mutter einmal böse angeschaut hatte / als sie zu einer Platte der Beatles ein bisschen / den Kopf wiegte“, heißt es in einem Gedicht von Peter Handke. Wenn die Eltern dieselbe Musik mochten, war etwas schiefgelaufen. Doch Stones-Manager Andrew Oldham hatte versprochen: „Wir machen genau das Gegenteil dieser netten, sauberen, ordentlichen Beatles. Und je mehr die Eltern euch hassen, desto mehr werden die Kids euch lieben.“

In der Regel ranken sich um die Entstehung eines Klassikers Legenden. In diesem Fall: Keith Richards konnte in seinem Hotelzimmer in Clearwater, Florida, am 5. Mai 1965 nicht schlafen, er hatte, angeregt durch einen Song von Chuck Berry, ein Riff im Kopf, spielte es immer wieder auf der Gitarre und schaltete dabei den Kassettenrekorder ein (Für Klassikfans: Ein Riff ist ein einprägsames Motiv, Beethoven ist mit den ersten vier Tönen der 5. Symphonie, den Schicksalsschlägen, der Urvater des Riffs).

Am Morgen gefiel es ihm immer noch, er ging zu Mick Jagger und sagte: „Dazu passen die Wörter 'I can't get no satisfaction'.“ Mick nahm einen Zettel und schrieb ein paar „Leckt-mich-doch-alle“-Zeilen über alles, was einen Rocksänger auf der Tournee nervt: Die oberflächlichen Konsumreize, die sinnlosen Informationen und nervende Werbung der Medien, der Frust, wenn man ein Mädchen aufreißt und auf später vertröstet wird. Die Aussage ist denkbar banal: Das Leben ist hart und unbefriedigend, die Medien quasseln, die Entfremdung nimmt zu. Der Text der Epochenhymne enthält Zivilisationskritik auf sehr niedrigem Niveau und klingt eher wie ein Notruf aus einem ungelüfteten Teenagerzimmer.

Doch der Skandal war schon da, bevor die Öffentlichkeit das Lied überhaupt gehört hatte. Natürlich verstand keiner unter „Satisfaction“ das, was der zufriedene Kunde nach dem Kauf einer Dienstleistung empfindet oder ein Adeliger beim Duell im Morgengrauen zu erreichen versucht, sondern die sexuelle Konnotation war von Anfang an klar. Man schloss messerscharf: Die amoralischen Stones hatten offensichtlich einen Song über Masturbation geschrieben, die Zeile mit dem Mädchen wurde als Anspielung auf die Menstruation verstanden, viele US-Stationen schnitten daher die letzte Strophe ganz heraus.

Mit „Satisfaction“ fand Mick Jagger zu seinem Bühnenstil: einer atemlosen Performance in einer unerhörten Mischung von Sex und Rock. Er präsentierte die wütende Attacke gegen die Plackereien des Alltags mit einer wunderbar getimten Laut-Leise-Dramaturgie der Stimme, anfangs in einem gurrend harmlosen Ton, dann legte der Wolf das Schafspelz ab und brüllte den Text hinaus, mit den typischen angelernten Körperbewegungen, dem Hin- und Herwerfen des Kopfes, dem Tanz mit dem schweren Standmikro. Und dabei immer dieses „feuchte und lippige Beischlaf-Grinsen“ (Tom Wolfe). Die Gitarre wurde bei den Konzerten als Phallus-Symbol eingesetzt, das sah ein Blinder. Alle kapierten: „Hier verabschiedete sich ein Popsong vom Vokabular der jugendlichen Schwärmerei und wählte Worte, die vom Sex erzählen.“ (Philip Norman).

Sexuelle Provokationen gab es schon bei Chuck Berry, Bill Haley Elvis, doch die Stones übertrafen sie bei weitem, besonders um sich von den Beatles abzusetzen. Sie wurden so zur Ausgeburt des Schreckens für schockierte Eltern, ein Titel wie „Satisfaction“ schien mit seinem rebellischen und anzüglichen Text alle Vorurteile der Erwachsenen gegenüber den langhaarigen, hässlichen, anarchistischen Typen zu bestätigen. Den Begriff Rock oder Rockmusik gab es damals noch gar nicht, doch nach dieser Veröffentlichung war nichts mehr wie vorher.

Ekstase bei den Fans, Entsetzen bei den Bürgern

Plötzlich waren die Stones die Rockband schlechthin, weltweit, egal ob in Australien oder im Ostblock. Im Rahmen ihrer Deutschland-Tournee gaben sie Konzerte in Hamburg und München, sie waren von der Redaktion der Jugendzeitschrift BRAVO eingeladen, in einer Artikelserie wurden die Fans auf die Konzerte vorbereitet. Das Tourneeheft versprach: „Beat Sensation – die härteste Band der Welt.“

Überall das gleiche Bild: Ekstase bei den Fans, Entsetzen bei den Bürgern. Geschrei, Mädchen fallen in Ohnmacht, „jugendliche Leiber, bewegt wie von verschluckten Pressluftbohrern, sich selbst mit den Fäusten auf die Köpfe schlagend, blicklos aufgerissene Augen, stampfende Füße“ (eine Radioreportage). Beißender Geruch von Urin in geschlossenen Sälen nach dem Kreisch-Inferno von Mädchen. Die FAZ kennt sich nicht mehr aus: „Fünf junge Männer, die die Haare länger tragen als Mädchen und eine erbärmlich einfallslose, primitive Musik zum Besten geben.“ Fans, die, aufgepeitscht durch „Satisfaction“, einer Massenpsychose zu verfallen schienen.

Am 15. September beendeten die Stones ihre Deutschlandtournee auf der Waldbühne in Berlin. Die Polizei geht mit Gummiknüppeln auf die ekstatischen Fans los, die weiblichen Fans, die hier die Sau rauslassen, wirken mit ihrem clearasilgereinigtem Teint heute, als wenn sie geradewegs aus der Tanzstunde kämen. Nach Polizeimeldungen waren es aber haltlose „vom Vernichtungswillen besessene junge Menschen.“ Nach einigen Songs wird das Konzert abgebrochen, die Fans sind enttäuscht, stinksauer, zertreten die Sitzbänke, zerlegen die Waldbühne, verwüsten die S-Bahn bei der Heimfahrt und wecken mit „Satisfaction!“-Gebrüll die ordentlichen Bürger in ihren Charlottenburger Villen. Eine „gefährliche Massenhysterie“, so der Polizeibericht, verursacht von jenen „langmähnigen Schlaksen“ auf der Bühne, „die sich in ihrer modernen Kleidung mit den hochhackigen Schuhen in einer impertinenten Art bewegen, die sofort erkennen lässt, dass es für sie bei ‚ihrer Show‘ keine Ordnungsnormen gibt.“ Ein bebrillter Aufsteiger auf der anderen Seite der deutschen Grenze mit Namen Erich Honecker fällt tags darauf sein Urteil über westliche Dekadenz.

Stones-Konzert auf der Waldbühne am 15.9.1965
Stones-Konzert auf der Waldbühne am 15.9.1965(c) imago stock&people (imago stock&people)

Höhlenmenschen und Affenhorde

Apropos „steife Typen in Europa“ (Andy Warhol). Nur drei Tage danach, am 17. September 1965 spielten die Stones „Satisfaction“ zum ersten Mal in der Wiener Stadthalle. Man kann nicht gerade behaupten, dass die breite österreichische Öffentlichkeit auf diesen Rock-Tsunami eingestimmt war. In diesem Sommer, am 8. Juli, spazierte der Aktionskünstler Günter Brus, weiß bemalt und durch einen schwarzen Pinselstrich wie gespalten, als „lebendes Bild“ durch die Wiener Innenstadt. Das Aufsehen war so groß, dass die Polizei einschritt und das lebende Kunstobjekt zu einer Geldstrafe verdonnerte.

Eine kleine Elite mit bürgerlichem, studentischem oder künstlerischem Hintergrund nahm Notiz von den Aktionisten, von Valie Export und Peter Weibel, in der Literatur von Ilse Aichinger, H.C. Artmann, Ernst Jandl oder Gerhard Rühm. Sie waren die eigentlichen Popstars im Österreich von 1965. Das Kinopublikum schaute sich mit Begeisterung Filme an wie „...und so was muss um 8 ins Bett“, „Casanova 70“, „Angelique“, „Der Gendarm vom Broadway“ und „Doktor Schiwago“. Im Musikleben sah sich Österreich durch Mozart und die Philharmonikerkonzerte am besten vertreten, duldete daneben noch den Eurojazz Friedrich Guldas, aber auch nur, weil er nach der Pause genial Mozart spielte. Als in San Francisco die Hippie-Bewegung schon aufblühte, bewies man in der österreichischen Provinz Englischkenntnisse und begrüßte die Beatles, die in Obertauern einen Film drehten, mit dem Transparent „Beatles go home“. Emotionale Artikulation des Lebensgefühls war für die Jungen in dieser Trachtenjankerbürgerlichkeit nur möglich durch Musik.

Doch mit Ausnahme der inhaltsfreien Schlagerwelt war nicht viel zur Verfügung, nicht einmal Ö 3 existierte noch. Die einzige moderierte Popsendung mit internationalen Singles war in den mittleren Sechzigerjahren Evamaria Kaisers "Gut aufgelegt", so wichen Interessierte aus auf Radio Luxemburg, die Sendung „Hallo Teenager“ war ihnen zu öde. Am Anfang des Jahres gab es bei der Liste der Nummer-eins-Hits in Österreich noch ein paar Entgleisungen: Im Februar Cliff Richards „Das ist die Frage aller Fragen“, im März Freddy mit „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, im April Martin Lauer mit „Taxi nach Texas“. Der Musikgeschmack änderte sich über den Sommer recht radikal. Vom 15. Oktober bis 14 Dezember 1965 dann: „Satisfaction“ auf Platz 1.

"Zottige Haare, verbeulte Hosen"

Zunächst erwartete man einmal das Ärgste, als die Stones in Wien ankamen. Sie gehörten zu den Typen, bei denen sich viele bangen Herzens fragten: „Würde ich meine Tochter einen Rolling Stone heiraten lassen?“ „Dicke Sonnenbrillen vor den ungewaschenen Gesichtern. Die zottigen Haare bis zum abgestoßenen Hemdkragen, verbeulte Hosen und die Zigarette im Mundwinkel“, schrieb die „Kronen Zeitung“. Ja, die Haare: An die Beatles mit ihren süßen wohlcoiffierten Fransen hatte man sich inzwischen gewöhnt, man sah, dass die täglich gewaschen wurden. Doch ein echter Rolling Stones-Fan ging nicht mehr zum Friseur. Zu Weihnachten 1964 hatten die Stones den „hungernden Friseuren Englands“ liebe Grüße geschickt.

Dermaßen vorgewarnt stockte die Wiener Polizei ihr Personal auf: 12.000 Fans mussten in Schach gehalten werden, Stahlhelme und Wasserwerfer wurden aus den Depots geholt. Die Stadthalle hat überlebt, die Polizei war auf die Panikmache der Zeitungen hereingefallen. Das hatte sich schon bei der Ankunft der Band am Flughafen angekündigt: Nur 130 Fans waren gekommen. Nach knapp dreißig Minuten war das Konzert auch schon wieder vorbei: Acht Nummern wurden mit einem „inbrünstigen Applaus“ bedacht, „wie es selbst Neros Gladiatoren in den Arenen des alten Rom nicht berauschender erlebt haben können“, so die historisch fundierte Analyse des „Kurier.“ „Die Presse“ klingt fast enttäuscht: „Nicht ein einziges Sesselbein ist in der Stadthalle in Trümmer gegangen“. Sind die Stones für ein paar Stunden verwienert? Schließlich wurden sie auch beim Heurigen in Sievering gesichtet und in einem Nachtlokal namens Maxim. Dort haben sie aber die Zeche geprellt. Immerhin.

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