Literatur: Als die Welt wieder einmal neu erfunden wurde

(c) Archiv
  • Drucken

Vom idealen künftigen Staat hat man bereits in der Antike geträumt. Mit „Utopia“ gab Thomas Morus vor 500 Jahren dem Genre seinen Namen. Ein Meister der Prognose war Jules Verne (1828–1905). Nach ihm häuften sich Dystopien.

Der Zukunftsroman projiziert oft die Ängste der Gegenwart oder ist verhüllte Kritik am aktuellen gesellschaftlichen Zustand. Wenn George Orwell 1949 in seinem berühmtesten Werk, „1984“, den kollektivistischen Wahn einer noch mehr als eine Generation entfernten Zeit beschreibt, dann meint er die faschistischen, stalinistischen, kapitalistischen Systeme seiner Zeit samt dem Elend der Dritten Welt.

Wenn Orwells Landsmann, der Londoner Sir Thomas Morus, vor 500 Jahren in seinem staatsphilosophischen Dialog „Utopia“ von einer idealen Insel träumt, dann hat das auch gegenwärtige Relevanz. Kurz zuvor hatte der Italiener Niccolò Machiavelli das Buch „Der Fürst“ vollendet, die Bibel der Pragmatiker. Beide aber beschäftigten sich mit dem Zusammenhang von Moral und Politik. Die Utopie darin (griechisch für Nichtort) ist eine elegante Form indirekter Kritik, ein Traum vom idealen Staat in ferner Zukunft. Im Sinn von Morus könnte man auch den griechischen Philosophen Platon, zumindest in seinem vor 2400 Jahren geschriebenen Hauptwerk „Der Staat“, und Kirchenvater Augustinus 800 Jahre später in „Der Gottesstaat“ als Autoren von Science-Fiction bezeichnen. Sie wollen recht radikale Veränderung und erfinden dafür seltsame Welten.

Gegenentwurf zum England der Tudors

Für Sir Morus war Verschleierung unter dem brutalen Herrscher Heinrich VIII. eine Frage des Überlebens. In „Utopia“ hatte der Gelehrte und Politiker einen Gegenentwurf zum Tudor-England geschaffen. Man kann das Buch auch als Satire lesen. Wie in Platons Dialog „Timaios“ herrscht auf der Insel eine Art Kommunismus. Jeder muss in diesem Stadtstaat arbeiten, jeder erhält dafür auch Bildung, und alle sind in der Religion tolerant. Die Tudors waren das nicht.

Ähnliche Utopien waren auch an der Wende zum 20. Jahrhundert en vogue, besonders in Wien. Theodor Herzls Roman „Altneuland“ (1902) zum Beispiel huldigt einer Sonderform des Kollektivismus. Der Boden gehört in dieser Fiktion allen, er kann nur für 50 Jahre gepachtet werden. Privatbesitz ist jedoch erlaubt. Die Art von genossenschaftlichem Denken, die der Gründer des modernen Zionismus hier beschreibt, könnte fünf Jahrzehnte später die Blaupause für Israels Kibbuz-System gewesen sein.

Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft hat im späten 19. Jahrhundert Samuel Butler geübt und dabei die von Morus perfektionierte Methode der fiktiven Verhüllung in einem äußerst gesellschaftskritischen Roman aufgenommen: „Erehwon“ (ein Anagramm zu Nowhere, also auch ein Nichtort) greift satirisch an, was den Stützen der Gesellschaft teuer ist. Verbrecher werden wie Kranke behandelt, Krankheit hingegen wird bestraft, Kirchen werden Banken, Banken haben sakralen Charakter. Kinder sind unerwünscht. Maschinen werden gestürmt. Kurz: Butler quälte die Viktorianer fürchterlich. Und behielt in manchem sogar recht.

Einer der Besten in der furchtbaren Prognose, die sich auf Empirie stützt, war Aldous Huxley. Der Zeitgenosse von Orwell, Nachfahre genialer Naturwissenschaftler, bewies 1932 in seinem Zukunftsroman „Schöne neue Welt“ ein Gespür für das Machbare. In dieser Dystopie, die einiges von den Erfindungen der Genetik vorwegnimmt, werden die Menschen auf Konsum, Sex und Drogen fixiert. Es herrschen Kastenwesen und Kontrollwahn, die jeden aufrechten Citoyen empören müssten. Kritisches Denken ist tabu.

Huxleys manipulierter Welt der Zukunft ähnelt eine Trilogie der Kanadierin Margaret Atwood (*1939), die sich intensiv für den Umweltschutz engagiert. Ihre Trilogie begann 2003 mit „Oryx und Crake“, wurde 2009 mit „Das Jahr der Flut“ fortgesetzt und 2013 mit „Die Geschichte von Zeb“ vollendet. Sie spielt in unserem Jahrhundert, die Handlung setzt nach der großen Weltkatastrophe ein. Ein Genetiker hat eine globale Seuche ausgelöst, beinahe die gesamte Weltbevölkerung kam ums Leben. Sein Motiv: Er sah die Erde durch Überbevölkerung bedroht, der Lebensstil der Menschen war für die Ökokatastrophe verantwortlich. Flora und Fauna sollten nun gerettet, die Welt vom Menschen befreit werden. Der irre Forscher schuf auch widerstandsfähige, transgene Menschen für seine schöne neue Welt. Deren Geschichte wird erzählt, mit vielen Rückblenden. Empathisch folgt man dem Schicksal der „Gärtner Gottes“ – Grüne, Vegetarier, Tierfreunde, die auf die Flut warten. Die Bücher wirken beklemmend realistisch, eine Mischung aus Orwell und Huxley.

Der Großmeister verblüffender Voraussagen aber bleibt Jules Verne Er lebte in einer Ära vor mehr als hundert Jahren, die noch überzeugt von Technik und Fortschritt schien. In seinen Abenteuerromanen wird das theoretisch Mögliche gefeiert. „Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren“ etwa beschreibt bereits 1870 ein Unterseeboot, das in seiner Fähigkeit, monatelang unter Wasser zu bleiben, modernen Atom-U-Booten ähnelt. Die Nautilus ist vom Land völlig unabhängig, alles, was nötig ist für die Besatzung und die Maschinen, wird aus dem Meer gewonnen. Der Nachteil dieses Superschiffs: Ihr verrückter Kapitän Nemo hat mit der Gesellschaft gebrochen – ein grausamer Übermensch, der unter extremer Hybris leidet.

Visionen von Weltraumfahrt und TV

Bei Verne gibt es bereits ziemlich konkret den Traum von der Weltraumfahrt. In „Von der Erde zum Mond“ bauen Erfinder bereits 1865 eine Kapsel, die von einer Kanone zum Erdtrabanten geschossen wird. Wie 90 Jahre später in der Realität macht man auch bei Verne Tierversuche für die Weltraumfahrt. Schließlich fliegen Menschen in Begleitung von Hunden und Hühnern los. Nach 97 Stunden und 20 Minuten misslingt aber eine Landung, die Kapsel gerät in eine Mondumlaufbahn, Im Folgeband liest man von der Fortsetzung der Reise, in „Um den Mond herum“ gelingt der kühl kalkulierenden Crew die Rückkehr auf die Erde.

Auch neue Massenmedien hat Verne erahnt, 1891 versetzt er uns in der Kurzgeschichte „Ein Tag aus dem Leben eines amerikanischen Journalisten im Jahre 2889“ in die ferne Zukunft. Die Supermetropole der hoch industrialisierten USA heißt Centropolis. Die Luftfahrt ist hoch entwickelt, High-Speed-Züge verkehren unterirdisch zwischen Kontinenten, die dominante Energiequelle ist nun die Sonne. Auch Bildtelefone gibt es, und einen Medien-Tycoon in 30. Generation. Sein „Earth Herald“ hat das Monopol zur elektronischen Aufzeichnung und Verbreitung der Nachrichten. Francis Benett ist der Herr über TV und Rundfunk. Information wie Werbung machen ihn zum Superreichen. Einnahmen verbucht er mit einem elektronischen Rechner. Als Mäzen fördert er Forschung. Die Wiederbelebung eines vor 100 Jahren eingefrorenen Wissenschaftlers scheitert allerdings. So mächtig ist der Tycoon, dass Präsidenten um ihn werben. Unternehmer und Großmächte beherrschen die Welt, sie besitzen biologische und chemische Waffen im Gleichgewicht des Schreckens. Aber war das nicht schon? Sind wir das nicht gerade, im Silicon Valley und in Ostasien? Wer weiß, was bis 2048 auftauen wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.